Familientrio:Katastrophen-Junkie

Eine Tochter ist süchtig nach Nachrichten über Tsunamis, Brände und andere Unglücke. Wie soll die Mutter reagieren?

Meine Tochter, 12, ist regelrecht süchtig nach Informationen über Naturkatastrophen. Sie sucht in der Zeitung nach Bildern von Erdbeben; möchte, dass wir sie rufen, wenn in den Nachrichten ein Brand gezeigt wird, und löchert uns, wo die Leichen nach dem Tsunami hintreiben. Ich finde das etwas voyeuristisch, will mein Kind trotzdem nicht einfach abwürgen. Was raten Sie mir?

Elisabeth R. aus Regensburg

Familientrio: Kirsten Fuchs ist Schriftstellerin und lebt mit zwei Töchtern, Mann und Hund in Berlin. Sie schreibt vor allem Kurzgeschichten und Romane, aber auch Theaterstücke sowie Kinder- und Jugendbücher. Ihr Buch "Mädchenmeute" erhielt 2016 den Deutschen Jugendliteraturpreis.

Kirsten Fuchs ist Schriftstellerin und lebt mit zwei Töchtern, Mann und Hund in Berlin. Sie schreibt vor allem Kurzgeschichten und Romane, aber auch Theaterstücke sowie Kinder- und Jugendbücher. Ihr Buch "Mädchenmeute" erhielt 2016 den Deutschen Jugendliteraturpreis.

(Foto: Stefanie Fiebrig)

Kirsten Fuchs:

Ich überlege als erstes, warum Ihre Tochter so auf Katastrophen abfährt. Hat sie eigentlich Angst vor etwas? So ein Gespräch wäre mal sehr interessant. Ansonsten finde ich das Interesse zwar schräg, aber warum nicht? Man könnte ihr auch historische Katastrophen anbieten, zum Beispiel den Untergang der Titanic (da gibt es auch erwachsene Fans) oder den Zusammenbruch des World Trade Centers. Wenn sie nicht vor etwas Angst hat, sondern wirklich nur starkes Interesse, könnten Sie das auch in etwas Positives verwandeln. Vielleicht wird sie daran auch ein berufliches Interesse entwickeln, als Lebensretterin oder Feuerwehrfrau. Womöglich bewegt sie aber auch das, was da schief gegangen ist, und wie man es verhindern könnte. Man kann anhand von Katastrophen fast alles lernen, Mathematik, Statik, Biologie, Physik, Chemie. Nicht zuletzt könnte man jedes Mal, bei wirklich jedem Brand, einfach spenden, so dass ihr Interesse vom puren Voyeurismus wegkommt. Das könnten Sie dann mit ihr gemeinsam tun.

Familientrio: Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt, Wissenschaftler und Autor von Erziehungsratgebern und des Blogs "Kinder verstehen". Er hat vier erwachsene Kinder und lebt mit Frau und jüngstem Kind in Ravensburg.

Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt, Wissenschaftler und Autor von Erziehungsratgebern und des Blogs "Kinder verstehen". Er hat vier erwachsene Kinder und lebt mit Frau und jüngstem Kind in Ravensburg.

(Foto: Random House)

Herbert Renz-Polster:

Ich kenne dieses barocke, schwülstige Empfinden noch aus meiner eigenen Zeit als (Vor)-Teenager: Was sind da die Panzer durch den tiefen Sand gefahren, in den dann auch das Blut der Helden floss...! Das muss man als Eltern nicht in ähnlich barocker Resonanz beantworten - aber was für eine Chance, da gemeinsam den Schrecken der Welt zu begegnen! Denn ja, Thema sollte das schon sein, wenn man sein Kind ernst nehmen will: Warum ist das für dich so ein riesen Ding? Stehen da Erlebnisse dahinter, die das Kind nicht verarbeiten konnte? Oder steht dahinter das Ausgeliefert-Sein des Kindes, dessen Blick langsam auch die schlimme Seite des Lebens entdeckt? Gibt ihm die Beschäftigung mit den Fakten vielleicht eine Möglichkeit, seine Angst zu "zähmen"? Und immer empfiehlt sich der Blick auf den Lebensrahmen: Fühlt sich mein Kind insgesamt okay und aufgehoben in seiner Welt?

Collien Ulmen-Fernandez

Collien Ulmen-Fernandes ist Schauspielerin und Moderatorin. Die Mutter einer Tochter hat mehrere Texte zum Thema Elternsein veröffentlicht, 2014 erschien von ihr das Buch "Ich bin dann mal Mama".

(Foto: Anatol Kotte)

Collien Ulmen-Fernandes:

Die allabendliche Erzählung der Tagesschau, das ist ja bekannt, ist immer getragen von den größtmöglichen Erschütterungen, Unfällen und Krisenszenarien. Insofern folgt Ihre Tochter einer Mehrheitsgewohnheit, nämlich, das Zeitgeschehen als Aneinanderreihung von Naturkatastrophen und Bundesligaspieltagen zu sehen. Ich "sehe" die Tagesschau mittlerweile eher nebenbei, wie eine Hintergrundmusik; ein heiserer Papagei, der nach Aufmerksamkeit ruft. Wirklich aufbringen kann ich diese nicht mehr. Dafür sind zu viele Naturkatastrophen durch meine Aufmerksamkeitsspannen geflattert. Insofern ist das ehrliche Interesse Ihrer Tochter an Katastrophen bewundernswert. Ich war auch mal Ihre Tochter und saß mit offenem Mund da, wenn von Todeszahlen und Deutschen unter den Opfern gesprochen wurde; mittlerweile ist mir mein eigener emotionaler Trübsinn peinlich. Ich versuche, einige wenige schwere Themen zu wählen, und ihnen mehr Zeit zu widmen. Vielleicht bieten Sie ihr neben den täglichen Nachrichten auch Formate an, die über Zusammenhänge berichten?

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