Stellen wir die Positionen mal gegenüber: Ihr Fünfjähriger, naiver, von ethischen Grundsätzen geleiteter Sohn hält bei Bettlern, unangesehen der Herkunft, des Alters und der körperlichen Verfassung, um ihnen zu helfen. Sie, als informierte und erwachsene Person dagegen prüfen wahrscheinlich, ob der Bettler mit ehrbaren Motiven in der Gosse sitzt, ob er wirklich hilfsbedürftig ist, oder ob er gar einem professionellen Bettler-Ring angehört. In diesem Falle stehen Sie auf der Seite der Polizei, die das empfiehlt, ihr Sohn allerdings hat alle großen monotheistischen Weltreligionen auf seiner Seite. Seine, so nicht artikulierte, sicher aber empfundene Haltung lautet: Jedes Leid, das ich sehe, möchte ich lindern. Er entspricht damit dem christlichen Gebot der Nächstenliebe. Ich denke und handle zwar so wie Sie, aus pragmatischen Gründen, und weil ich die Bettel-Mafia verachte. Ich fürchte aber, wir sind der puren Empathie ihres Sohnes im nach einem ethischen Maßstab hoffnungslos unterlegen. Denn dass er auf einen Leidenden zugeht, zeichnet ihn als Menschen aus; dass er dabei keinen Unterschied macht, ehrt ihn zusätzlich, geht es ihm doch nicht um eine Sympathiebekundung, sondern um einen Hilfsakt. Wer sich auf die dreckigen Stufen vor der Sparkasse setzt und die Menschen von unten anfleht, der leidet per se - egal, ob er Mitglied einer professionellen Organisation ist oder nicht. Ich kann Ihnen - nein, uns beiden - nur raten, öfter auf ihren Sohn zu hören. Auch wenn sich der Bettler vom gespendeten Euro vermutlich nur ne Flasche Sternburg Bier kauft. Ihr Sohn hat recht. Allen sollte geholfen werden. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr von seiner Ideologie.
Collien Ulmen-Fernandes ist Schauspielerin und Moderatorin. Die Mutter einer Tochter hat mehrfach Texte zum Thema Elternsein veröffentlicht, 2014 erschien von ihr das Buch "Ich bin dann mal Mama".