Eltern sein, das heißt zum Beispiel: seit der Einschulung des ersten Kindes neulich zu wissen, dass der Wecker in den nächsten fünfzehn Jahren jeden Morgen um sechs Uhr klingeln wird. Und trotzdem natürlich immer möglichst fröhlich und gelassen zu sein, unterstützend und zugewandt, keinen Helikopter kreisen zu lassen, aber auch keine Vernachlässigung zu riskieren, niemanden anzuschreien: "Los jetzt! Wir kommen sonst zu spät!", stets liebevoll zu sein, entspannt und zugleich auch ungeheuer konsequent. Und im Beruf bitte keinen Ärger zu machen mit dem Elternsein.
Keine Kinder zu haben, das heißt: gefragt zu werden, ob man welche hat. Ob man welche will oder mal wollte. Im Verdacht zu stehen, zu eigensinnig zu sein und seine Firma mit einer Familie zu verwechseln. Verantwortlich gemacht zu werden für die Krise der Rentenversicherung. Hinzunehmen, dass Freunde, die Kinder kriegen, erst mal vom Erdboden verschluckt werden. Auszubaden, dass sich der Arbeitgeber neuerdings familienfreundlich gibt, aber Arbeit und Personal nicht so verteilt, dass Eltern- und Teilzeiten vertreten und kompensiert werden. Von einer Kinderlosen wird berichtet, die in einer Diskussion über Beruf und Familie allen Mut zusammennimmt, aufsteht und sagt: "Wissen Sie, ich habe oft den Eindruck, ich bin die Einzige in meiner Abteilung, die wirklich noch arbeitet. Und zwar jeden Tag der Woche bis zum Feierabend. Ich bin diejenige, die immer alles wegschafft."
Die Journalistinnen Susanne Garsoffky und Britta Sembach haben gerade ein Debattenbuch mit dem Titel "Der tiefe Riss" über den Konflikt zwischen Eltern und Kinderlosen veröffentlicht (Pantheon-Verlag, 256 Seiten, 15 Euro). Wenn man es liest, gewinnt man den Eindruck, dass dieser Konflikt in vielen Themen des gegenwärtigen Bundestagswahlkampfs spukt und schwelt, dass aber alle Parteien sich tunlichst hüten, ihn zur Sprache zu bringen.
Garsoffky und Sembach beobachten, dass jener "tiefe Riss" mit der zunehmenden Vergreisung der deutschen Gesellschaft größer wird. Weil aber die sozialen Umbrüche abstrakt und schleichend sind, weil sie jeder an seinem Ort dadurch verdrängen kann, dass man - mit Recht - auf individuelle Schicksale und lokale Unterschiede schaut, wird der Konflikt zunächst moralisch-persönlich ausgetragen. Das macht ihn nicht schöner.
Die Dimensionen des Renten- und Pflegeproblems will im Wahlkampf keiner benennen
Jeder und jede verteidigt nämlich sehr emotional den eigenen Lebensentwurf, ob laut oder im Stillen. Und weil jede Lebensentscheidung immer mehr aufs Individuum abgeschoben wird, erscheint sie auch als eine ganz private, bewusste Wahl aus diversen Möglichkeiten - wie wenn man sich nach Abwägung aller Tripadvisor-Empfehlungen endlich für eines von unzähligen Hotels entschieden hat. Als die beiden Autorinnen des Buches selber Kinder kriegten, stellten sie bald fest, "dass wir kaum noch Berührungspunkte mit Kinderlosen haben". Schnell würden sich "unbestätigte Annahmen übereinander" festsetzen: "Wir vermuten, den einen seien nur noch ihre Kinder wichtig, den anderen ausschließlich der Job - und vielleicht ihre Freizeitvergnügungen."
Und so entsteht immer mehr Distanz, Verzerrung, Anfeindung. Eltern sind alle überbehütende, rücksichtslose Kinderwagenbulldozer, die ihre Kleinen zu Narzissten auf Psychopharmaka erziehen. Kinderlose sind ausschließlich hedonistische Egoisten, für die sich andere aufopfern. Das ist alles grob unfair; die einen können sich in den Stress der Familien nicht hineinversetzen, und die anderen vergessen, dass es (wie auch Studien belegen) sehr selten gezielt geplant und gewollt ist, keine Kinder zu haben, es vielmehr meist an verzögerten Entscheidungen und verstrichenen Gelegenheiten liegt, daran, dass es hier und da nicht gepasst hat, sowie an vielen äußeren Hindernissen. Hilfe, aber auch weiteren Druck bringt der Fortschritt der Reproduktionsmedizin, das "Diktat der Fruchtbarkeit", das Andreas Bernard in seinem Buch "Kinder machen" untersucht hat.
Es sind also wirklich keine Vorwürfe und kein Triumphalismus in die eine oder andere Richtung angebracht. Genau dieser Geist aber, sagen Susanne Garsoffky und Britta Sembach, muss überwunden werden, bevor böse Verteilungskämpfe daraus werden. Denn es gibt ja ein strukturelles Problem, das kann man nicht wegreden, wenn man die zweitälteste Bevölkerung der Welt hat. Wir sind im Durchschnitt schon 44,1 Jahre alt. Älter als hier sind die Menschen nur noch in Japan, wo lernende Roboter den Pflegenotstand und die Einsamkeit mildern sollen. Vierzigjährige fühlen sich superjung in Deutschland. Wer aus anderen Ländern kommt, merkt, wenn er nicht gerade in München oder Prenzlauer Berg gelandet ist, dass wenig Lachen und Lärm von Kindern zu vernehmen ist.
Nicht direkt hilfreich ist das AfD-Plakat: "Neue Deutsche? Machen wir selber."
Warum aber haben diverse Methusalem-Bestseller und Demografie-Schocker daran wenig verbessert? Weil das Land noch nicht bereit ist, so die beiden Autorinnen, Privatleben und Sozialpolitik zusammenzudenken, ohne dass sich alle irgendwie angegriffen fühlen. Im Wahlkampf gerade traut sich tatsächlich kaum ein Politiker, die wahren Dimensionen des Pflege- und Rentenproblems der nächsten Jahrzehnte zu benennen. "Die realisierten Kinderzahlen bleiben immer noch stärker als in anderen Ländern hinter den Kinderwünschen zurück", heißt es nüchtern im neuen Familienreport der Bundesregierung. Aber Bevölkerungspolitik war eben, historisch missbraucht, lange tabu; und zur sachlichen Diskussion trägt es auch nicht direkt bei, wenn die AfD Plakate mit Schwangerenbauch aufhängt und darüberschreibt: "Neue Deutsche? Machen wir selber."
Lange war der Gedanke dominant, den Michel Foucault ausgearbeitet hat, dass Körperpolitik eine immer weitere Disziplinierung von Geschlecht und Gesellschaft erzeuge; heute gilt die Sorge eher dem Mangel an Bindung, dem Aufsichgestelltsein. Hier machen Garsoffky und Sembach in "Der tiefe Riss" einige konkrete Vorschläge zur Reform der Sozialversicherung, der Arbeitsorganisation und zur Aufwertung von bisher nicht entlohnten Tätigkeiten, denn sie stellen bitter fest: "Kümmern ist Liebe, Geld ist die Norm." Und sie erwärmen sich für die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens. Sehr vieles muss sich wandeln, der Sozialstaat, aber auch Formen des Zusammenlebens.
Man muss nicht alldem folgen, aber es klärt den Blick inmitten von Verschleierung und Moralstress. Und eines lässt es in jedem Fall erledigt erscheinen: die etwa von Elisabeth Badinter und Barbara Vinken vertretene These, es sei das überhöhte deutsche Mutterideal, das die Frauen vom Kinderkriegen abhalte. Dies ist selbst eine Idee von gestern und eigentlich eine Beleidigung der Frauen: zu sagen, sie litten bloß unter falschem Bewusstsein und nicht unter politischen Bedingungen, die man ändern könnte.