Familiennachzug:Ein Menschenrecht auf Eltern

Syrische Flüchtlinge in Deutschland

Viele Flüchtlinge wollen ihre Familien nachholen - und scheitern an den Gesetzen.

(Foto: dpa)
  • Seit März 2016 dürfen subsidiär geschützte Flüchtlinge ihre Familien nicht mehr nachholen.
  • Die Regelung gilt zunächst für zwei Jahre, CDU und CSU wollen, dass das auch darüber hinaus so bleibt.
  • Aktivisten wollen bis zum Verfassungsgericht oder dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof dagegen klagen.

Von Bernd Kastner

Als die Sprache auf seine Eltern kommt, verlässt Jacob den Container. Er erträgt es nicht, wenn die Erwachsenen über Mama und Papa und die Schwester sprechen. Es macht ihn traurig, weil die drei so weit weg sind. Jacob geht nach draußen zum Spielen. Ihm ist nicht bewusst, dass er einer von denen ist, über die gerade so viele Politiker reden. Und diese wissen nicht, dass sie auch über das Leben von Jacob diskutieren. Der Junge ist aus Syrien nach Deutschland geflohen, er wartet auf seine Eltern und Schwester. Jacob weiß nicht, welches deutsche Gesetz das Wiedersehen verhindert, aber er weiß, dass er schon sehr lange wartet. Zwei Jahre sind eine Ewigkeit für einen Achtjährigen.

Deutschland diskutiert wieder einmal, welche hier anerkannten Flüchtlinge ihre Angehörigen nachholen dürfen. Jacobs Familie ist ausgeschlossen, eigentlich, denn Jacobs Asylgesuch ist etwas zu spät entschieden worden, wenige Wochen nach dem Stichtag. Seit März 2016 dürfen subsidiär Geschützte ihre Familien nicht mehr nachholen - das trifft vor allem jene, die aus dem Bürgerkrieg geflohen sind. Allein, da ist noch dieses eine Schlupfloch.

Eine Containersiedlung ganz am Rande von Berlin ist jetzt Jacobs Zuhause. Dort wohnt der Junge, der in Wahrheit anders heißt, mit seiner Tante und seinem Onkel, die beiden sind Geschwister. Seine Eltern leben noch in Syrien. 2015 haben ihn Tante und Onkel mit auf die Flucht genommen, übers Meer, weiter via Balkan. 2013 war der Vater von einer Bombe schwer verletzt worden, sie traf ihn, als er gerade in einen Bus steigen wollte. Jacobs Vater ist seither von der Lunge an abwärts gelähmt, in Syrien können ihm die Ärzte nicht helfen. Er selbst hätte es nicht geschafft zu fliehen.

Jacobs Familie durfte bisher nicht nach Deutschland nachkommen, weil die große Koalition das Asylpaket II beschlossen hat: Familiennachzug ausgesetzt für subsidiär Geschützte, zwei Jahre lang. CDU und CSU wollen, dass das auch nach März 2018 so bleibt, die Grünen wollen das Gegenteil. Das birgt Zündstoff für die Gespräche über eine Jamaika-Koalition.

Jacob hat seine ersten 15 Monate in Deutschland in einer Turnhalle in Köpenick verbracht, mit Hunderten anderen Flüchtlingen, die Schlangen vor dem Klo waren sehr lang. Er ist das Kind einer christlichen Familie, fast alle anderen waren Muslime. Das sei nicht einfach für ihn gewesen, erzählt die Tante, er habe kaum jemanden zum Spielen gefunden.

Der Weg zu einem "humanitären Visum" kostet viel Zeit und Nerven

Jetzt zählt seine Familie auf Sigrun Krause. Die Rechtsanwältin hat mit zwei Kolleginnen den Menschenrechtsverein Jumen gegründet, die Abkürzung steht für "Juristische Menschenrechtsarbeit in Deutschland". Mit strategischer Prozessführung will Jumen Strukturen ändern, in diesem Fall den entscheidenden Paragrafen im Asylpaket II kippen. Die Aktivistinnen wählen bestimmte Fälle aus, um sie durch die Instanzen bis zum Verfassungsgericht oder dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu klagen, acht bearbeiten sie derzeit. Sie halten die Aussetzung des Familiennachzugs für verfassungs- und menschenrechtswidrig, und das wollen sie möglichst bald in Karlsruhe oder Straßburg bestätigt bekommen.

Jetzt versucht Krause erst einmal, Jacobs Eltern doch noch nach Deutschland durch das verbliebene Schlupfloch zu holen. Im Aufenthaltsgesetz steht, dass ein Visum "aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen" erteilt werden kann. Der Weg zu einem "humanitären Visum" aber kostet viel Zeit und Nerven. Seit März geht Jacobs Familie diesen Weg.

Für Visa ist das Auswärtige Amt zuständig. Zunächst ist ein Antrag auf Vorprüfung in Berlin zu stellen. Fällt dieser positiv aus, bekommen die in Syrien zurückgebliebenen Familienmitglieder einen Sondertermin in einer deutschen Vertretung. Ohne Sondertermin wäre die Wartezeit mitunter sehr lange: zwölf Monate in Beirut, zehn in Amman, sechs in Ankara. Jacobs Familie reist nach Beirut, wird interviewt; als sie auf dem Rückweg sind, fällt jemandem in der Botschaft auf, dass man wichtige Fragen vergessen habe, es folgt ein zweites Interview, jetzt telefonisch. "Ich wage nicht zu denken, dass es mit dem Visum nicht klappen wird", gibt der Vater zu Protokoll. "Ich habe Angst, dass ich meinen Sohn nicht mehr sehe. Meine Ehefrau weint täglich und vermisst unseren Sohn. In Syrien kann ich nichts mehr machen. Ich werde wie ein Gestorbener behandelt."

Härtefälle sind theoretisch möglich, praktisch spielen sie keine Rolle

Die Botschaft entscheidet zügig - und positiv. Was der Familie widerfahren ist, sei als "singuläres Einzelschicksal" zu werten, die Voraussetzung für eine "humanitäre Aufnahme". Das reicht aber noch lange nicht, nun ist die Ausländerbehörde am Zug, in Jacobs Fall die in Berlin. Zwischendurch jedoch gehen die "Formblattanträge" verloren, auf dem Weg von einem Amt zum nächsten, das Prozedere stockt. Im September dann befürwortet auch die Ausländerbehörde die Aufnahme, aber auch das genügt noch nicht: Nun muss das ärztliche Attest des Vaters geprüft werden, in der Botschaft in Beirut.

Das Ausländeramt wiederum prüft, ob es nicht jemanden gibt, der für den Unterhalt von Jacobs Familie bürgt, dann würde sie auf der Grundlage eines anderen Paragrafen einreisen. Nein, es gibt niemanden, schreibt die Anwältin Krause - und wartet weiter auf die Prüfung des Attestes. Wenn, dann ist es die schwere Verletzung des Vaters, die den Ausschlag für das Visum gibt, so will es das Gesetz. Die Qual des Kindes und der Eltern ob der Trennung? Eher Nebensache.

Woche um Woche vergeht, ohne dass man einer Behörde einen Vorwurf machen könnte. Schon für Erwachsene ist die Ungewissheit kräftezehrend, für einen Achtjährigen ist sie kaum auszuhalten. Die Tante erzählt, am Tisch in ihrem Container sitzend, dass der Junge die Erklärungen der Erwachsenen für das Warten nicht mehr glaube: "Ich weiß, ihr lügt", habe er gesagt, "aber ich hoffe, sie kommen trotzdem."

So also funktioniert Paragraf 22 im Aufenthaltsgesetz, der den Befürwortern des Nachzug-Stopps ein wichtiges Argument ist: In Härtefällen, sagen sie, sei es doch immer noch möglich, Familien zu vereinen. Das stimmt in der Theorie, doch praktisch spielt dies keine Rolle. Bis August 2017 wurden erst 23 humanitäre Visa vergeben.

Das Hauptargument für das Aussetzen des Nachzugs lautet, dass Deutschland nicht überlastet werden dürfe. Die Gegenseite wiederum, und dazu gehören das Deutsche Institut für Menschenrechte und die beiden christlichen Kirchen, kritisiert den Nachzug-Stopp scharf. Sie argumentiert ethisch, christlich, vor allem aber juristisch: Der Schutz der Familie sei im Grundgesetz, in der Europäischen Menschenrechtskonvention und der UN-Kinderrechtskonvention festgeschrieben. Daran müsse sich Deutschland halten. Klar, sagt die andere Seite, daraus lasse sich aber nicht das generelle Recht auf einen Familiennachzug ableiten.

Wenn er volljährig ist, hat er keinen Recht auf Familiennachzug

Deshalb läuft für Mohammed Halla die Zeit ab. Im Januar wird er volljährig, dann ist der Familiennachzug ausgeschlossen. Auch er (der tatsächlich anders heißt) war 2015 hier angekommen. Ein Jahr hatte es gedauert, bis sein Asylverfahren begann, auch er erhielt subsidiären Schutz. Auch er hat sich um einen Sondertermin für seine Familie in einer deutschen Botschaft bemüht, ihm aber wurde er abgelehnt, per Mail, ohne Begründung, aber mit dem Hinweis: "Bitte sehen Sie von Rückfragen ab." Jetzt ist Klage gegen das Auswärtige Amt eingereicht, um seiner Familie die legale Einreise zu ermöglichen.

Mohammed Halla lebt in einer betreuten Wohngemeinschaft. In seinem Zimmer zeigt er auf seinem PC-Bildschirm ein Video, aufgenommen 2011 in einem Vorort von Damaskus. Man sieht eine Demonstration und hört einen Mann ins Megafon sprechen, Ghiath Matar. Er führte friedliche Demonstrationen gegen das syrische Regime an. Mit Blumen in der Hand ging er auf Soldaten und Polizisten zu, er wurde zum Symbol des gewaltfreien Widerstands. Die Bilder gingen um die Welt, man nannte ihn "Little Gandhi", dem Regime aber wurde er gefährlich. Matar wurde eingesperrt und gefoltert. Vier Tage später übergab man seiner Familie den Leichnam. Im Video sieht man Matars Körper, man sieht das Blut, er wurde 26 Jahre alt.

Catherine Ashton, damals Außenbeauftragte der EU, verurteilte den Mord an Matar: "Er wurde getötet wegen seiner Entschlossenheit, friedlich gegen die brutale Unterdrückung durch das syrische Regime zu protestieren. Unser Mitgefühl gilt seiner Familie." Ghiath Matars Familie ist auch Mohammed Hallas Familie. Matar war mit Hallas Schwester verheiratet. Sie war damals schwanger, der Vater hat den Sohn nicht mehr gesehen. Nach dem Mord desertierte Hallas Bruder aus der Armee, später starb er bei einem Bombenangriff. Mohammeds Eltern und Schwester halten sich seither versteckt, sie fürchten die Rache des Regimes, wenn sie als Angehörige des Friedensaktivisten identifiziert werden. In Deutschland, bei ihrem Sohn, bei ihrem Bruder, wären sie in Sicherheit.

Eine Behörde und ihre rätselhafte Praxis

Die Anerkennungsquoten für Asylsuchende sind je nach Bundesland auf rätselhafte Weise sehr verschieden. Wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Ulla Jelpke hervorgeht, war die Quote von Flüchtlingen aus dem Irak in den ersten sechs Monaten dieses Jahres in Bremen mit 96,4 Prozent fast doppelt so hoch wie in Berlin; dort lag die Quote bei 50,3 Prozent. Auch bei den Entscheidungen über die Anträge von Afghanen und Iranern seien große Unterschiede festzustellen.

So liege die Spannbreite der positiven Asylbescheide bei Antragstellern aus Afghanistan zwischen 30,9 Prozent in Brandenburg und 65 Prozent in Bremen. Bei Asylbewerbern aus Iran habe die Quote in der ersten Jahreshälfte zwischen 37,6 Prozent in Bayern und 85 Prozent in Bremen betragen. Nur bei Flüchtlingen aus Syrien ist das Ergebnis einhellig: Bei ihnen erkennen die Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) überall über 99 Prozent der Anträge an.

Die Abgeordnete Jelpke sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe: "Es ist nicht zu leugnen: Es gibt in den Bundesländern sehr unterschiedliche Anerkennungsquoten, ohne dass plausible Erklärungen hierfür ersichtlich wären." Es dürfe aber nicht sein, dass afghanische Flüchtlinge beispielsweise in Brandenburg oder Bayern nur etwa halb so große Chancen auf einen Schutzstatus haben wie in Bremen. Von mehreren Flüchtlingshelfern sei ihr berichtet worden, dass es in Bayern eine besonders negative Praxis bei afghanischen Flüchtlingen gebe. Den Gründen für die auffälligen Abweichungen in einigen Bundesländern müsse nachgegangen werden. EPD

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