Als die Sprache auf seine Eltern kommt, verlässt Jacob den Container. Er erträgt es nicht, wenn die Erwachsenen über Mama und Papa und die Schwester sprechen. Es macht ihn traurig, weil die drei so weit weg sind. Jacob geht nach draußen zum Spielen. Ihm ist nicht bewusst, dass er einer von denen ist, über die gerade so viele Politiker reden. Und diese wissen nicht, dass sie auch über das Leben von Jacob diskutieren. Der Junge ist aus Syrien nach Deutschland geflohen, er wartet auf seine Eltern und Schwester. Jacob weiß nicht, welches deutsche Gesetz das Wiedersehen verhindert, aber er weiß, dass er schon sehr lange wartet. Zwei Jahre sind eine Ewigkeit für einen Achtjährigen.
Deutschland diskutiert wieder einmal, welche hier anerkannten Flüchtlinge ihre Angehörigen nachholen dürfen. Jacobs Familie ist ausgeschlossen, eigentlich, denn Jacobs Asylgesuch ist etwas zu spät entschieden worden, wenige Wochen nach dem Stichtag. Seit März 2016 dürfen subsidiär Geschützte ihre Familien nicht mehr nachholen - das trifft vor allem jene, die aus dem Bürgerkrieg geflohen sind. Allein, da ist noch dieses eine Schlupfloch.
Eine Containersiedlung ganz am Rande von Berlin ist jetzt Jacobs Zuhause. Dort wohnt der Junge, der in Wahrheit anders heißt, mit seiner Tante und seinem Onkel, die beiden sind Geschwister. Seine Eltern leben noch in Syrien. 2015 haben ihn Tante und Onkel mit auf die Flucht genommen, übers Meer, weiter via Balkan. 2013 war der Vater von einer Bombe schwer verletzt worden, sie traf ihn, als er gerade in einen Bus steigen wollte. Jacobs Vater ist seither von der Lunge an abwärts gelähmt, in Syrien können ihm die Ärzte nicht helfen. Er selbst hätte es nicht geschafft zu fliehen.
Jacobs Familie durfte bisher nicht nach Deutschland nachkommen, weil die große Koalition das Asylpaket II beschlossen hat: Familiennachzug ausgesetzt für subsidiär Geschützte, zwei Jahre lang. CDU und CSU wollen, dass das auch nach März 2018 so bleibt, die Grünen wollen das Gegenteil. Das birgt Zündstoff für die Gespräche über eine Jamaika-Koalition.
Jacob hat seine ersten 15 Monate in Deutschland in einer Turnhalle in Köpenick verbracht, mit Hunderten anderen Flüchtlingen, die Schlangen vor dem Klo waren sehr lang. Er ist das Kind einer christlichen Familie, fast alle anderen waren Muslime. Das sei nicht einfach für ihn gewesen, erzählt die Tante, er habe kaum jemanden zum Spielen gefunden.
Der Weg zu einem "humanitären Visum" kostet viel Zeit und Nerven
Jetzt zählt seine Familie auf Sigrun Krause. Die Rechtsanwältin hat mit zwei Kolleginnen den Menschenrechtsverein Jumen gegründet, die Abkürzung steht für "Juristische Menschenrechtsarbeit in Deutschland". Mit strategischer Prozessführung will Jumen Strukturen ändern, in diesem Fall den entscheidenden Paragrafen im Asylpaket II kippen. Die Aktivistinnen wählen bestimmte Fälle aus, um sie durch die Instanzen bis zum Verfassungsgericht oder dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu klagen, acht bearbeiten sie derzeit. Sie halten die Aussetzung des Familiennachzugs für verfassungs- und menschenrechtswidrig, und das wollen sie möglichst bald in Karlsruhe oder Straßburg bestätigt bekommen.
Jetzt versucht Krause erst einmal, Jacobs Eltern doch noch nach Deutschland durch das verbliebene Schlupfloch zu holen. Im Aufenthaltsgesetz steht, dass ein Visum "aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen" erteilt werden kann. Der Weg zu einem "humanitären Visum" aber kostet viel Zeit und Nerven. Seit März geht Jacobs Familie diesen Weg.
Für Visa ist das Auswärtige Amt zuständig. Zunächst ist ein Antrag auf Vorprüfung in Berlin zu stellen. Fällt dieser positiv aus, bekommen die in Syrien zurückgebliebenen Familienmitglieder einen Sondertermin in einer deutschen Vertretung. Ohne Sondertermin wäre die Wartezeit mitunter sehr lange: zwölf Monate in Beirut, zehn in Amman, sechs in Ankara. Jacobs Familie reist nach Beirut, wird interviewt; als sie auf dem Rückweg sind, fällt jemandem in der Botschaft auf, dass man wichtige Fragen vergessen habe, es folgt ein zweites Interview, jetzt telefonisch. "Ich wage nicht zu denken, dass es mit dem Visum nicht klappen wird", gibt der Vater zu Protokoll. "Ich habe Angst, dass ich meinen Sohn nicht mehr sehe. Meine Ehefrau weint täglich und vermisst unseren Sohn. In Syrien kann ich nichts mehr machen. Ich werde wie ein Gestorbener behandelt."