Familienfoto (1): Polen:Spaß ohne Treue

Eine Serie wie Familien in aller Welt leben: Polen klagt zum Beispiel über zeugungsfaule Männer, heiratsunwillige Frauen und den Verfall der Moral.

Thomas Urban

Im Prinzip sind alle Familien überall auf der Welt gleich: Sie lieben sich, sie streiten sich, oft brechen sie auseinander, Eltern ziehen Kinder groß, Kinder gründen selbst Familien. Allerdings: Nichts bleibt je, wie es wa, und auch das Zusammenleben, die Bedeutung, die Aufgabe der Menschen verändert sich. Die Emanzipation der Frauen, die globalisierte Arbeitswelt, die Verschmelzung von Kulturen und der Bedeutungsverlust der katholischen Kirche haben zur Folge, dass sich Familienstrukturen und Rollenbilder stetig wandeln. Die SZ stellt in ihrer Serie "Familienfoto" in loser Folge Beispiele dafür vor, wie Familien in aller Welt leben - und wie sie manchmal nur mühsam überleben.

Familienfoto (1): Polen: Arbeiterführer und Ex-Präsident Lech Walesa war stolz auf seine acht Kinder und nannte seine Frau Danuta gern eine "wahre polnische Mutter". Heute haben die polnischen Familien bei weitem nicht mehr so viel Interesse an einer großen Kinderschar.

Arbeiterführer und Ex-Präsident Lech Walesa war stolz auf seine acht Kinder und nannte seine Frau Danuta gern eine "wahre polnische Mutter". Heute haben die polnischen Familien bei weitem nicht mehr so viel Interesse an einer großen Kinderschar.

(Foto: Foto: AP)

Warschau - Die Dinge lagen für die meisten Polen kompliziert und doch sehr einfach, als vor einem Vierteljahrhundert Arbeiterführer Lech Walesa mit seiner Familie für den Fotografen posierte: Im Lande regierte seit Jahrzehnten die kommunistische Arbeiterpartei, die den Atheismus propagierte, doch 85 Prozent der Polen waren tiefgläubig und besuchten regelmäßig die Sonntagsmesse.

Gegen das Parteiregime schien Widerstand zwecklos zu sein, nachdem die Demokratiebewegung um die Gewerkschaft Solidarität Ende 1981 mit der Verhängung des Kriegsrechts zerschlagen worden war. Daher flüchtete sich die überwältigende Mehrheit der Polen damals in die schönste Hauptsache der Welt, ins Private; Mitte der achtziger Jahre gab es einen wahren Kinderboom. Polen wurde zum geburtenstärksten Land in Europa. Fast schien es so, als lege es eine ganze Generation darauf an, es dem als Volkshelden verehrten Lech Walesa nachzutun, der sich damals gern als stolzer Vater von acht Sprösslingen präsentierte und seine zierliche Frau Danuta als wahre "polnische Mutter" lobte.

Heute dagegen bildet Polen gemeinsam mit der Bundesrepublik das europäische Schlusslicht bei der Geburtenrate. Politiker aus nationalkatholischen Gruppierungen haben deshalb tatsächlich bereits angeregt, Viagra auf Rezept auszugeben, um die zeugungsfaulen polnischen Männer in Schwung zu bringen. Außerdem sollte der Verkauf von Kondomen, wie sie mittlerweile auch an jeder Tankstelle und an jedem Kiosk zu bekommen sind, reglementiert werden. Die Pressemeldungen über derartige Vorschläge gingen um die Welt, als seien sie typisch für das katholische Polen. Dass es sich dabei um Ideen einer kleinen Minderheit handelt, über welche die Mehrheit der Polen ebenso lacht wie die ganze Welt, berichteten die meisten internationalen Medien allerdings nicht.

Spätes Jawort

Junge Familien in Polen haben heute statistisch gesehen nur 1,3 Kinder. Soziologen führen das vor allem auf die gewaltigen Umbrüche zurück, welche die Gesellschaft innerhalb einer Generation zu verkraften hatte. Von einer Defizitwirtschaft unter einem repressiven Regime, das auch das Privatleben kontrollieren wollte, gegenüber dem Einfluss der Kirche aber machtlos war, entwickelte es sich in rasendem Tempo zu einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft.

Für die einzelnen Menschen bedeutete dies vor allem, dass der fürsorgliche Staat, den die Kommunisten in der Theorie ja anstrebten, plötzlich wegbrach: Die Menschen mussten sich nun auf einmal selbst um ihr Wohlergehen kümmern. Für die Polen war der Schock aber nicht so groß wie in anderen Ostblockländern, weil sie ja über Generationen gelernt hatten, sich unter einer Fremdherrschaft selbst zu organisieren. So entstand innerhalb weniger Jahre eine florierende Wirtschaft mit einem starken Mittelstand.

weiter: Heftige Schlacht um die Familienplanung per Abtreibung

Spaß ohne Treue

Gerade die junge Generation begriff den Wegfall der staatlichen Gängelei als große Chance: Jetzt stehen Bildung und Karriere im Vordergrund. Innerhalb weniger Jahre stieg das Durchschnittsalter bei den Eheschließungen kräftig an. Bei der Hochzeit von Lech und Danuta Walesa 1969 war der 26-Jährige zwar schon deutlich älter als ein durchschnittlicher Bräutigam, seine Frau lag mit 19 Jahren aber im Trend.

Heute aber gibt sich die überwältigende Mehrheit der polnischen Männer mit fast 30 Jahren erstmals das Jawort, und die Frauen liegen altersmäßig nur wenig darunter. Dafür sind die Ehen längst nicht mehr so stabil wie früher. Mittlerweile werden fast 40 Prozent von ihnen geschieden. Und jeder zweite Pole, von denen ja immerhin 92 Prozent katholisch sind, sieht eine Scheidung als "normalen Weg zur Lösung von Eheproblemen" an. So steht es in einer großangelegten Studie des Sozialinstituts der katholischen Kirche. Deren Ergebnisse haben die Bischöfe alarmiert; ein Rezept, ihre Moralvorstellungen für die Mehrheit verbindlich zu machen, haben sie allerdings nicht gefunden.

Im Gegenteil: Gerade die jungen Polen unterscheiden sich in ihrer Haltung zu Familie, Partnerschaft und Sexualität kaum von ihren Altersgenossen in Westeuropa. So halten drei Viertel vorehelichen Geschlechtsverkehr für normal. Und sogar zwei Drittel derjenigen, die sich den Umfragen zufolge selbst als "streng gläubig" einstufen, greifen zu Verhütungsmitteln. An diesem Punkt scheinen die Bischöfe auf verlorenem Posten zu stehen.

Hingegen tobte in diesem Frühsommer eine neue, heftige Schlacht um die Familienplanung per Abtreibung. In Polen gilt dabei ein überaus restriktives Recht: Ein Abbruch der Schwangerschaft ist nur möglich, wenn diese Folge eines Verbrechens war, wenn der Fötus schwer missgebildet oder das Leben der Mutter in Gefahr ist. Die Folge ist ein reger Abtreibungstourismus, vor allem in die Niederlande und die Ukraine.

Ausgelöst hatte die hitzige Debatte der Fall einer 14-jährigen Schülerin, die im dritten Monat war und deren Mutter als Erziehungsberechtigte eine Abtreibung durchsetzen wollte. Die Begründung: Ihre Tochter sei als Kind geschwängert worden, was das Gesetz verbiete. Dennoch verweigerten Krankenhäuser und Arztpraxen den Eingriff. Eine Chefärztin alarmierte sogar einen Priester, dieser verfolgte fortan gemeinsam mit Aktivisten der Gesellschaft "Für das Leben" Mutter und Tochter auf Schritt und Tritt, stellte sogar deren Namen und Adresse ins Internet. Als die Mutter deswegen bei der Polizei Anzeige erstattete, ließ der Polizeioffizier es zu, dass der Priester bei der Vernehmung der Tochter zugegen war. Schließlich entschied ein Familiengericht sogar, der Mutter die Erziehungsberechtigung zu nehmen und ließ die verstörte Tochter in ein Kinderheim bringen. Die nächste Instanz hob diese Entscheidung im Eilverfahren auf.

Dem Kampf setzte erst die beherzte, liberalkonservative Gesundheitsministerin Ewa Kopacz ein Ende: Unter Verweis auf die Gesetzeslage wies ihr Ministerium die Tochter in eine Klinik ein, deren Adresse wohlweislich geheim gehalten wurde. Dort wurde die Abtreibung gemacht. Die nationalkatholische Presse forderte daraufhin die Exkommunikation der Ministerin. Doch die Mehrheit der Medien stellte sich auf ihre Seite.

Ausgerechnet die Wochenzeitung Tzgodnik Powszechny, das Sprachrohr der Reformer in der Kirche, forderte in einem Kommentar zu dem Konflikt, das Fach Sexualkunde in den Schulen auszubauen. Solche Fälle seien nur zu verhindern, wenn die Jugendlichen besser über ihren Körper unterrichtet seien. Es versteht sich, dass dem Blatt daraufhin von nationalklerikalen Medien, an erster Stelle von Radio Maryja, vorgeworfen wurde, die Grundlagen der Moral des Volkes unterhöhlen zu wollen.

Einsam in der Stadt

Unverblümt warf der Tygodnik Powszechny in einer Titelgeschichte der Kirche auch vor, das Problem der Vereinsamung in den Städten zu missachten. In den großen Zentren leben immer mehr Singles. Die Experten schätzen ihre Zahl auf fünf Millionen - bei einer Gesamteinwohnerzahl von 38 Millionen. Soziologen haben herausgefunden, dass die Zahl der bewussten Langzeit-Singles, die auf keinen Fall eine Familie gründen wollen, stetig steigt. Die polnische Wirtschaft hat sie längst als zahlungskräftige Konsumentengruppe entdeckt; Reisebüros haben Singleprogramme im Angebot, ihr Anteil macht bereits fast zehn Prozent der in Polen gebuchten Fernreisen aus.

Zu den prominenten Singles gehört Maria Walesa, das zweitjüngste der acht Kinder des einstigen Arbeiterführers und Staatspräsidenten. Sie wurde bekannt, als sie vor zwei Jahren an einer Prominenten-Tanzshow teilnahm. Seitdem berichten die Boulevardmedien immer wieder über ihre angeblichen Männergeschichten, worüber sich die Eltern, wie der Vater zugab, wenig freuen. Maria Walesa ist nun 26. Als ihre Mutter Danuta so alt war, hatte sie bereits vier Kinder.

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