Familie:Was von Thomas bleibt

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Die Ärzte sagten, dass Thomas gleich nach seiner Geburt an seiner Fehlbildung sterben würde. Doch seine Eltern konnten ihn und seinen Zwillingsbruder gegen alle Erwartungen mit nach Hause nehmen. Thomas starb nach sechs Tagen. Aus der kurzen Zeit seines Lebens gibt es viele Fotos, so wie dieses Bild. (Foto: Privat)

Als Sarah Grays Sohn wenige Tage nach der Geburt stirbt, spendet sie einen Teil seiner Organe. Später will sie wissen, was daraus geworden ist. Über ihre Suche - und Ergebnisse, die sie glücklich machen.

Von Hakan Tanriverdi

Sarah Gray hält den Telefonhörer in der einen Hand, mit der anderen gibt sie zu verstehen, dass sie noch zwei Augenblicke braucht. "In diesem Fall können Sie kein Taxi rufen", sagt sie zu ihrem Gesprächspartner. Das soll ein Witz sein. "Es gibt spezialisierte Dienste, die die Organe ihres Mannes ins Krankenhaus bringen werden, nachdem er gestorben ist", fügt sie hinzu.

Mittlerweile kann die 43-Jährige solche Fragen beantworten. Als ihr Kind Ende März 2010 kurz nach der Geburt starb, wusste sie noch nicht, wie eine Organspende in allen Details vor sich geht, wie etwa die Organe von einem Krankenhaus ins nächste kommen. Damals hatte Sarah Gray selbst viele Fragen, auf der anderen Seite der Leitung. Denn sie wollte die Organe ihres Kindes spenden. "Diese Zeit war sehr schmerzhaft, eine miese Nachricht nach der anderen." Nachdem der Frauenarzt ihr und ihrem Mann mitteilte, dass sie Zwillinge bekommen würden, sagte er ihnen auch, dass "Baby A", wie sie es damals nannten, sterben würde. Bald darauf sagte er, dass "Baby B" ebenfalls sterben könnte.

Die Organe ihres Kindes nach der Geburt für die Forschung zur Verfügung zu stellen sei ein großer Schritt gewesen. Doch damit nicht genug: Sarah Gray wollte auch wissen, was aus dieser Spende geworden ist. Sie investierte Jahre in ihre Suche, bis sie zufriedenstellende Antworten darauf hatte. Über ihre Recherchen hat sie ein Buch geschrieben, "A Life Everlasting", ein unvergängliches Leben.

Heute kann sie anderen Betroffenen helfen. Wenn das Telefon klingelt und jemand am anderen Ende Fragen zur Organspende hat, weiß sie, was zu tun ist. Zu so einem Telefonat kommt es in der Regel einmal im Monat. Sarah Gray arbeitet für die American Association of Tissue Banks, eine gemeinnützige Organisation, die sich um Organspenden in den USA kümmert. Sie ist dort für die Pressearbeit zuständig, aber viele Menschen rufen lieber sie direkt an, statt sich an die Beratungshotline zu wenden. "Vermutlich haben die Menschen meine Geschichte gehört und denken sich, dass ich gute Tipps für sie haben könnte", sagt sie. Der Witz mit dem Taxi hilft ihr dabei, die schlechten Botschaften in dem Moment wenigstens ein bisschen zu entschärfen.

Die Eltern wussten früh, dass sie die Organe spenden würden

Als sie damals selbst die schlechte Botschaft erreichte, zeigte der Arzt ihr das Ultraschallbild und deutete auf den Schädel von Baby A und dann auf den von Baby B. Der eine Schädel war rund und gesund, der andere hatte Beulen. "Das ist Hirnmaterie", sagte der Arzt, und erklärte ihr ausführlich, dass es sich um eine seltene Fehlbildung handelte, Anenzephalie. Die Schädeldecke schließt nicht, Teile des Gehirns haben sich nicht entwickelt, sodass das Baby ein paar Stunden nach der Geburt stirbt. Es könnte jedoch noch dramatischer kommen, so der Arzt: Stirbt Baby A noch im Mutterleib, ist auch die Gesundheit von Baby B in Gefahr.

Zu dieser Zeit telefonierte sie mit Allison Andrews, deren Kind ebenfalls an Anenzephalie gestorben war und die auf einer Betroffenen-Seite im Netz ihre Geschichte erzählt hatte. "Allison gab mir das Gefühl, dass ich nicht alleine bin", sagt Sarah Gray. In der ersten Phase sei es schwer gewesen, sich überhaupt an den Gedanken zu gewöhnen, ein Baby auf die Welt zu bringen, das noch vor der Geburt tödlich erkrankt ist. Menschen wie Allison Andrews gaben ihr das Gefühl, eben nicht alleine zu sein. Auch andere betroffene Eltern hätten sie aufgenommen und ihr Tipps gegeben. "Sie sagten: Willkommen im Klub. Schade, dass du hier sein musst. Aber du bist herzlich willkommen!" Wenn Sarah Gray heute angerufen wird, weiß sie, wie wichtig ihre Worte sein können.

Trauer
:"Der Tod bringt mich nicht um"

Kurz nach seiner Geburt starb der Sohn von Nicole Rinder. Ein Gefühl, als "würde mir das Herz herausgerissen". Heute begleitet sie Eltern, die selbst ihr Kind verloren haben.

Protokoll: Lars Langenau

Die Eltern nannten ihre Babys während der Schwangerschaft A und B. Erst danach wurden sie zu Thomas und Callum. Thomas, so sagten die Ärzte, würde Minuten nach der Geburt sterben. Stattdessen lebte er sechs Tage lang. "Damit hatten wir nicht gerechnet", sagt Sarah Gray. Banale Dinge fehlten, zum Beispiel ein Babysitz für die Rückfahrt im Auto. Thomas trank Milch, schlief in den Armen der Familie ein und packte neugierig jeden Finger, der sich ihm näherte. Rund 1500 Fotos gibt es von ihm aus dieser Zeit. Die Eltern begannen zu hoffen, vielleicht überlebt Thomas ja doch? Aber das Baby bekam Anfälle, hörte auf zu essen, hatte Schwierigkeiten zu atmen und starb.

Sarah Gray wusste bereits beim ersten Gespräch mit dem Arzt, dass sie die Organe spenden würde. Warum sie das damals so klar sah, weiß sie heute selbst nicht mehr. Nach Thomas' Tod wurden das Nabelschnurblut, die Leber und die Horn- und Netzhäute gespendet. Der Familie wurde mitgeteilt, dass die Spenden an renommierte Universitäten gingen. Unter anderem nach Harvard. "Stellen Sie sich vor, mein Sohn wurde in Harvard zugelassen", sagt Sarah Gray heute stolz und lacht.

Sie sitzt in ihrem Büro, mit der Bahn knapp eine Stunde von Washington entfernt. In ihrem Regal ist vor lauter Auszeichnungen kaum Platz, eine hat sie für ihr Talent als Redenschreiberin bekommen. Inzwischen hält sie viele Vorträge zum Thema Organspende. "Bei einer regulären Spende wissen die Familienangehörigen, dass und wie genau Leben gerettet werden konnte", sagt sie. "Das muss so ein gutes Gefühl sein. Zu wissen, dass nach einer so traurigen Sache Menschen geholfen wird." Sie spricht von einer Art Neid, den sie damals gespürt habe. Denn Spenden an die medizinische Forschung verschwinden in Universitäten, um für Studien zitiert werden zu können. Sarah Gray wollte die Organe bewusst an die Forschung übergeben. "Aber ich wollte wissen, ob die Spenden meines Babys auch wertvoll gewesen sind", sagt sie.

Sie konnte jedoch nicht herausfinden, was damit passierte, welche Bedeutung die Spende hatte und ob überhaupt jemandem damit geholfen werden konnte. Ob die Spenden ankamen und zu Staubfängern wurden, weil es vielleicht zu viele solcher Spenden gibt. Oder ob die Forscher sich darüber freuten. Zwei Jahre lang stellte sie sich solche Fragen, dann begann sie, Antworten darauf zu finden. Sie fing an, Briefe an die entsprechenden Institute zu schreiben.

"Bei einer regulären Organspende weiß man, dass und wie genau Leben gerettet werden konnte. Ich wollte wissen, ob die meines Babys auch wertvoll gewesen sind", sagt Sarah Gray. (Foto: Privat)

Bei einer regulären Organspende können sich Spender und Empfänger nach der Transplantation treffen, wenn beide Seiten das auch wollen und können. Ein vergleichbares Verfahren gibt es in der medizinischen Forschung jedoch nicht. Jede Person, die auf einen der Briefe von Gray antwortete, schrieb, dass sie zum ersten Mal so eine Anfrage erhalten hätten. Sie luden Sarah Gray zu sich ein, also fuhr sie zu jedem Institut, das Organe von Thomas erhalten hatte. Sie ließ sich durch die Labore führen und sich Geräte und Projekte erklären, an denen die Forscher gerade arbeiteten. So erfuhr sie, dass in einem der Labore im Jahr zehn Hornhaut-Paare ankommen, es also eine sehr seltene Spende ist. "Das allein hat mich glücklich gemacht", sagt Sarah Gray. Man sagte ihr auch, dass die meisten Hornhäute, die in der Forschung landen, von älteren Menschen stammen. Die Hornhäute eines Kindes seien hingegen "Gold wert", da sich die Zellen erneuern. Die Ärzte würden, zwei Jahre später, aller Wahrscheinlichkeit nach wohl noch immer die Zellen von Thomas nutzen. Als sie das hörte, musste sie ein Schluchzen unterdrücken. Wenn sie heute darüber spricht, ist sie eine stolze Mama.

In den Gängen der American Association of Tissue Banks hängen Poster von berühmten Football-Spielern, die dank einer Organspende weiterleben konnten. In Sarah Grays Zimmer hängt ein Bild, das erst einmal nicht so viel hermacht wie die knalligen Plakate, doch für sie ist es das wichtigste Dokument im ganzen Haus: eine Abbildung, die in einer Studie verwendet wurde. Für Laien sieht das Bild nur wie 14 bunte Kästchen aus, doch in der Studie geht es um Zellen, die auf der Innenseite der Hornhaut liegen. Mit dem Älterwerden nimmt ihre Leistung ab, in der Folge kann das Wasser nicht mehr abgepumpt werden. Augentropfen können helfen, doch oft braucht es eine Transplantation. Die Studie aus dem Jahr 2012 untersuchte, ob sich die Zellen regenerieren können. Das Ergebnis: Ja, es gibt Anzeichen dafür. Doch das muss nun noch in Folgestudien erforscht werden.

Einer der Ärzte teilte Sarah Gray mit, dass es "sehr wahrscheinlich" sei, dass für diese erste Studie Zellen von Thomas verwendet wurden. "Das fühlt sich toll an", sagt sie. Von der Studie könnten alleine in den USA jährlich 40 000 Menschen profitieren. Hin und wieder öffnet Sarah Gray die Website, auf der die Studie ausführlich beschrieben wird. Auf der rechten Seite kann man sehen, wie oft sie in nachfolgenden Studien bereits zitiert wurde. Momentan steht dort die Zahl 21. Die Studie stößt also auf Interesse. In ihrem Buch geht es deswegen nicht nur um den Verlust eines Kindes und ihre Suche nach den gespendeten Organen, sondern auch um die Forscher, die Studie um Studie versuchen, das menschliche Leben schrittweise zu verbessern.

Sarah Gray ist vor ein paar Monaten erneut Mutter geworden. Callum, Baby B, hat eine kleine Schwester bekommen. Nach der Geburt spendete sie ihre Plazenta, von der Teile zeitweise als Hautersatz zum Einsatz kommen können. Sie hat auch dazu viele Fragen und würde gerne wissen, was aus dieser Spende werden wird. Ob sie wieder auf die Suche nach Antworten gehen wird, weiß sie diesmal aber nicht.

© SZ vom 26.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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