Familie verzichtet auf Plastik:Von der Kunst, ohne Kunststoff zu leben

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Der Stiel der Zahnbürste, die Spülmittelflasche, der Fahrradhelm - unzählige Dinge, die uns tagtäglich umgeben, sind aus Plastik. Darauf zu verzichten, ist eine gewaltige Herausforderung. Eine Familie aus der Steiermark hat sie angenommen.

Cathrin Kahlweit

Es war Marlene, die ihren Eltern klarmachte, wie es weitergehen soll. Sie war damals zehn - und das Experiment war einen Monat alt. Einen Monat lang hatte die Familie Krautwaschl-Rabensteiner, die in einem Dorf bei Graz wohnt, ohne Plastik gelebt. Oder es zumindest versucht: Sahne nur noch in Pfandgläsern. Croissants nicht in Tüten sondern lose beim Bäcker. Seife nur in Papierverpackungen. Und so fort.

"Wir haben gestaunt, wie viel Plastik uns umgibt": Familie Krautwaschl-Rabensteiner mit allen Kunststoffsachen, die sie aus ihrem Haus warf. (Foto: Heyne/oh)

Marlenes Brüder Samuel und Leonard hatten - in einer großen Räumaktion - ihr ganzes Plastikspielzeug quer über den Hof in den Schuppen getragen, die Kinderzimmerstühle und den Fußball, das Parkhaus für die Spielzeugautos und sogar, schweren Herzens, die große Ritterburg. Mutter Sandra hatte die Küche leergeräumt, Plastikbecher, Salatsieb, Tupperware, Messbecher und Frischhaltefolie; dann kam die Kosmetik in den vielen Döschen und Fläschchen aus dem Bad weg.

Alle gemeinsam hatten sie gestaunt, wie viel Plastik sie umgibt. Und wie viel trotzdem zurückgeblieben war im Haus, das sich gar nicht entfernen ließ. Die Knöpfe an der Stereoanlage, die Hülle vom Computer, die Abdeckung vom Swimmingpool, die Rückseiten der Gartenstühle. Alles Plastik. Vier Wochen waren nun also vorbei gewesen, so lange hatten es die fünf erst einmal versuchen wollen, und nun sagte Marlene beim Familienrat: "Aber uns fehlt doch nichts!"

"Dann kaufe ich in Gottes Namen einen Plastikbecher"

Das war der Schlüssel. "Ein Heim ohne Plastik" hieß der Versuch, und er dauert nun schon fast drei Jahre. Alles hat sich verändert, und doch auch wieder sehr wenig. Wer heute das alte Bauernhaus von Sandra Krautwaschl und ihrer Familie besucht, der erlebt auf den ersten Blick eine Enttäuschung: Auf dem Fensterbrett in der Küche steht eine Sprühflasche, mit der man Zimmerpflanzen befeuchtet. Sie ist aus Plastik. Neben dem Herd eine Tablettendose - Plastik. Im Wohnzimmer ein Wäschekorb - Plastik. "Wir haben ja nicht alles weggeworfen, was wir damals besaßen, das wäre Wahnsinn gewesen", sagt die 40-Jährige, "was vorhanden war, wird benutzt, bis es kaputt ist. Und dann, wenn möglich, plastikfrei ersetzt."

Wenn möglich. Das ist ein zweites Schlüsselwort: Auf Plastik zu verzichten, ist erstaunlich oft nicht möglich, und doch öfter, als man denkt. Und überhaupt sind die Krautwaschl-Rabensteiners keine Ideologen. Und auch nicht extrem konsequent. Wenn es Lachsauflauf mit saurer Sahne geben soll und Sandra Krautwaschl vergessen hat, im Bioladen in Graz saure Sahne im Glas zu kaufen, dann gibt es etwas anderes. Kartoffelgratin mit Käse.

Aber wenn es denn unbedingt und zwingend an diesem Tag Lachsauflauf mit Sauerrahm sein muss, weil sich alle so darauf gefreut haben,"dann kaufe ich eben in Gottes Namen im Dorfsupermarkt einen Plastikbecher Sauerrahm", sagt Krautwaschl und lacht. "Das Ganze soll ja auch Spaß machen." Mit dem Spaß ist das allerdings so eine Sache, denn ein Selbstversuch, der die ganze Familie einbindet und die Veränderung eingeübter Muster erfordert, bedeutet gewöhnlich in erster Linie Recherche, Selbstbescheidung, Verzicht, Aufwand.

Im September 2009 war die Physiotherapeutin Krautwaschl mit einer Freundin in Graz im Kino gewesen und hatte den Film "Plastic Planet" von Dokumentarfilmer Werner Boote gesehen. Sie reagierte wie die meisten Kinobesucher: Wahnsinn, wie abhängig wir von dem Zeug sind, und wie giftig es sein kann, wie unkaputtbar, wie es unsere Umwelt, unsere Meere zumüllt, wie es die Welt in Beschlag nimmt. Wie viele Ressourcen die Herstellung verschlingt, wie viel CO2-Ausstoß die Produktion mit sich bringt.

Sie hörte, dass in den Ozeanen heute sechs Mal mehr Plastikmüll schwimmt als Plankton, dass man mit allem Kunststoff, der bis heute hergestellt wurde, die Erde sechs Mal komplett in Folie verpacken könnte. Dass das Zeug in der Muttermilch ist und im Blut, in den Mägen sterbender Vögel und auf den Gipfeln des Himalaya, dass viele Kunststoffe Substanzen enthalten, die das Erbgut schädigen können. Und dass Recycling allein zwar gut für das Gewissen ist, aber nicht entscheidend für den Klimaschutz.

Nachdem sie das alles gesehen hatte, rief Krautwaschl ihren Mann Peter an, der als Sonderschullehrer in einer Behinderteneinrichtung arbeitet, und schlug ihm das Experiment vor. "Warum nicht", sagte dieser, der so zurückhaltend und bedächtig wirkt wie seine Frau redegewandt und temperamentvoll, "aber wir brechen ab, wenn es zu schwer wird, wenn es uns dauerhaft die Stimmung verhagelt."

Dokumentarfilmer Boote wurde angemailt, der das Ganze begleitete, ein Blog wurde eingerichtet mit einer Art Experimental-Tagebuch, und nun ist auch ein Buch erschienen ("Plastikfreie Zone", Heyne), in dem Sandra Krautwaschl berichtet, wie man das macht, ein Leben - fast - ohne Kunststoff. Warum man das macht, das brauche nicht viel Erklärung: Es spare Geld und Ressourcen, es bedeute mehr Gesundheit und weniger Müll, sagt sie in ihrer Küche inmitten von Kinderzeichnungen, Bastelarbeiten, leeren Flaschen und vollen Kisten, aber sie sei eh schon viel weiter: "Unser Konsumverhalten hat sich grundlegend geändert."

Zähne werden mit Birkenwasser geputzt

Das nämlich, findet Krautwaschl, sei wohl das Aufschlussreichste gewesen: wie sich die Bedürfnisse ändern und damit das Einkaufsverhalten. Wie man plötzlich weniger kauft, weil es dies oder das eben nur mit oder in Plastik gebe, und plötzlich feststellt, was Marlene als erste wusste: Mir fehlt nichts. Wie man weniger Vorräte anlegt, weil keine Tupperdosen mehr in der Kammer stehen und keine Plastiktüten für die Tiefkühlkost in der Schublade liegen, und wie man plötzlich weniger Essen wegwirft, frischer kocht, bewusster.

Am Anfang war das eine harte Übung. Wo bekommt man Zahnbürsten mit Holzgriff her? Gibt es Spülmittel, das nicht in Nachfüllpackungen aus Plastik angeboten wird? Warum hat jede Zahnpastatube einen Deckel aus Plastik? Die Familie recherchierte im Internet, mailte herum, bekam Tipps, suchte und fand. Eine mühsame Zeit. Seither werden Zähne mit Birkenzucker geputzt und Zahnbürsten mit Holzgriff aus Deutschland importiert, das Spülmittel im Großcontainer ist gleichzeitig Putzmittel, Shampoo und Seife. Die Plastikmöbel im Garten werden sukzessive durch Selbstgebautes aus Holz ersetzt.

Manchmal maulen die Kinder: "Was nützt das, wenn nur wir so etwas machen?" Marlene hat das mal gefragt, obwohl sie ja bis heute durchaus findet, dass das ganze Experiment eine gute Sache ist. Darauf antwortet ihre Mutter dann:"Jeder kann und sollte tun, was in seiner Verantwortung steht, auch wenn man sich manchmal fühlt wie ein Sandkorn im Getriebe der Welt."

Bei der Spülmaschine hört der Spaß auf

Und manchmal, um weiter zu gehen, probieren es die fünf auch für kurze Zeit mit radikaleren Lösungen, dann schaffen sie Spülmaschine (ganz viel Plastik) oder Staubsauger (praktisch nur Plastik) ab, aber das dauert nicht lange: "Da hörte der Spaß auf", sagt Sandra Krautwaschl, "per Hand spülen und waschen, das braucht einfach zu viel von meiner Energie." Das Auto teilen sie nun mit einer anderen Familie. Aber die Fahrradhelme sind weiter aus Plastik. Für manche Dinge gibt es einfach keinen Ersatz.

Ihre Energie braucht die Krankengymnastin längst fast mehr für andere Menschen als für sich selbst und die Familie: Immer öfter muss sie Mails von Nachahmern beantworten oder wird zu Vorträgen eingeladen. Dort soll sie erzählen, wie man das durchhält, so ein Leben, immer auf der Suche nach Ersatz für Selbstverständlichkeiten, für Gummistiefel oder kaputte Steckdosen, und warum man sich für ein solches Leben entscheidet, wenn man kein Spinner und auch kein Guru sein möchte. Sondern nur bei den Grünen aktiv ist und im Sportverein, wenn man gern Musik macht und in den Urlaub fährt - wo man sich schließlich wundert über all den Plastikmüll, der an die Strände schwappt oder die Brotscheiben, die am Frühstücksbuffet einzeln verschweißt angeboten werden.

Dann sagt Sandra Krautwaschl, dass sie mittlerweile ganz anders denkt als früher. "Wir recyceln mehr, tauschen oft, kaufen Secondhand." Noch häufiger aber stellt sich Sandra Krautwaschl heute selbst Fragen. Und die lauten: Brauche ich das? Und: Was brauche ich wirklich?

© SZ vom 14.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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