Familie über Europa:"Mein größter Wunsch ist ein europäischer Pass"

Familie über Europa: Die Veltes, eine ungewöhnlich europäische Familie: Alena, Laura, Uli, Donatella und Maria (von links).

Die Veltes, eine ungewöhnlich europäische Familie: Alena, Laura, Uli, Donatella und Maria (von links).

(Foto: Lena Jakat)

Was ist eigentlich Europa? Und wie fühlt es sich an? Familie Velte hat ihre Wurzeln in Deutschland, Italien und England. Jedes Jahr zu Weihnachten packt sie eine tiefgekühlte Pute in die Dachbox ihres Autos und fährt damit zu den Großeltern nach Italien. Zwischendurch macht sie sich viele Gedanken über Europa. Ein Tischgespräch.

Von Lena Jakat, Heidelberg

Auf jedem einzelnen Klingelschild drängen sich mehrere Namen. Sie klingen spanisch, deutsch, andere lassen sich überhaupt nicht zuordnen. Das Mehrfamilienhaus in Heidelberg liegt zwischen hübschen Läden und Cafés, wenige Schritte die Straße runter schmiegen sich die Uferwiesen an den Neckar. Im zweiten Stock wohnt Laura Velte. In die Küche ihrer WG haben sich ihre zwei Schwestern, ihre Eltern und Hund Leni gequetscht, um an einem verregneten Nachmittag über Europa zu reden. Es gibt selbstgebackenen Karottenkuchen aus England. Er schmeckt ausgezeichnet und ist - was mancher Skeptiker bei diesem Thema befürchten mag - ebensowenig trocken wie das Gespräch.

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"Weitermachen nach der Krise - was wird aus der europäischen Idee?" Diese Frage hat unsere Leser in der fünften Abstimmungsrunde unseres Projekts Die Recherche am meisten interessiert. Dieser Text ist einer von zahlreichen Beiträgen, die sie beantworten sollen. Alles zur Europa-Recherche finden Sie hier, alles zum Projekt hier.

Europa ist Frieden. Über schicksalhafte Zusammenhänge und unglaubliche Selbstverständlichkeiten.

Uli Velte: (mit englischer Betonung) Hydrodynamics. So haben meine Frau und ich uns kennengelernt. Unsere beiden Väter sind Mathematikprofessoren. Mein Vater hat irgendwann eine aufsehenerregende Arbeit geschrieben - eben über Hydrodynamik - woraufhin er nach Italien eingeladen wurde.

Donatella Capriz: Nein, das war ein bisschen anders. Mein Vater hat deinen irgendwo auf einem internationalen Kongress kennengelernt. Wissenschaft kennt eben keine Grenzen.

Uli: So kam es, dass sich unsere Familien kennengelernt haben, als wir beide noch Teenager waren. Es dauerte allerdings noch eine Weile, bis es funkte. (Gelächter bei den Töchtern)

Uli Velte, 54, trampt nach dem Abitur durch Europa und verbringt einige Zeit bei jener befreundeten Familie in der Nähe von Pisa. Er verliebt sich in Donatella. Vier Jahre lang pendelt er zwischen seiner Heimatstadt Würzburg und der Toskana, ehe die beiden auf dem Standesamt in Pisa heiraten und sich entscheiden, nach Hamburg zu gehen, wo ihre drei Töchter geboren werden und aufwachsen.

Donatella: Für mich war klar, dass wir in Deutschland leben würden. Die große Unabhängigkeit, die junge Leute damals, Anfang der Achtziger, hier genossen, hat mir sehr gefallen. Ich habe das Leben als sehr frei, sehr offen erlebt. Anders als in Italien. Gerade in einer kleinen, verschlafenen Provinzstadt wie Pisa war alles damals viel konservativer, traditionalistischer.

Donatella Capriz, 52, ist die Tochter einer Engländerin und eines Italieners. Als sie sechs Monate alt ist, zieht die Familie aus Großbritannien zurück nach Italien. Jedes Jahr fahren Donatella, ihr Bruder und ihre Eltern mit dem Auto nach England, um dort den Sommer zu verbringen. Diese Reisen werden zum festen Bestandteil des Familienlebens. Als Donatella selbst Kinder bekommt, behält sie diese Tradition bei und fährt mit ihrer Familie Jahr um Jahr von Hamburg zu ihren Eltern in die Toskana.

Donatella: Meine Eltern stehen sehr auf Bildung. Deswegen sind wir als Kinder immer mit dem Reiseführer auf den Knien durch Europa gefahren, mussten unterwegs ständig irgendwelche Kirchen anschauen. Auf verschiedenen Routen, mal durch Deutschland, mal durch Frankreich. So wurde ich eigentlich von Anfang an europäisch sozialisiert. Und das, obwohl meine Eltern sehr harte Erfahrungen im Krieg gemacht hatten. Mein Vater war im Arbeitslager "Antonie" der Nazis in Bitterfeld, wo er nur mit Glück lebend rausgekommen ist.

Uli: Da gibt es auch eine Art schicksalhaften Zusammenhang zwischen unseren Familien.

Donatella: Als das Lager, in dem mein Vater inhaftiert war, befreit wurde und er sich auf den Rückweg nach Italien machte, kam er über abenteuerliche Umwege durch Kassel. Die Stadt war völlig zerstört worden. Mein Schwiegervater war in dieser Zeit auch in Kassel - aber in einer ganz anderen Situation. Er hatte seine gesamte Familie in der Bombennacht von 1943 verloren.

Maria Velte: Durch die Erlebnisse unserer Großeltern ist mir die Geschichte sehr nahe. Ich finde es heftig, was für ein Schmerz noch überall drinsteckt, ganz nah. Deswegen sehe ich die EU absolut als Friedensprojekt.

Laura Velte: Ich kenne es nicht anders, als dass wir alle in Europa friedlich miteinander leben. Deswegen nehme ich die EU nicht primär als Friedensprojekt wahr. Aber mir macht es Angst, wie viele rechtspopulistische Parteien diese Errungenschaft einfach so in Frage stellen.

Maria: Total verantwortungslos.

Uli: Meine Generation ist in den Achtzigern gegen den Nato-Doppelbeschluss auf die Straße gegangen. Die Angst vor dem Atomkrieg war körperlich spürbar. Und auch die großen Kriege der Vergangenheit schwingen immer mit, wenn es um Europa geht. Kaum zu glauben, wie selbstverständlich wir vor diesem Hintergrund miteinander umgehen. Von daher würde ich Europa und die Europäische Union durchaus als Friedensprojekt bezeichnen. Was nicht heißt, dass Europa an sich konfliktfrei ist.

Europa ist Freiheit. Vom Glück, einen riesigen Raum zu haben, wo man sich frei bewegen und ganz viel entdecken kann.

Donatella: Als ich ein Kind war, waren die Grenzen in Europa noch sehr fühlbar. Es war nicht immer angenehm, in einem Auto mit italienischem Kennzeichen unterwegs zu sein. Wenn wir als Italiener irgendwo ankamen und ein Quartier für die Nacht suchten, wurde uns schon mal gesagt, es gäbe keinen Platz. Dann hat meine Mutter englisch geredet und plötzlich war die Sache ganz anders.

Laura: (an ihren Vater gewandt) Du sagst oft, wie erstaunlich du es findest, dass man so einfach herumreisen kann.

Uli: Ihr könnt euch gar nicht mehr vorstellen, wie das vorher war, oder?

Maria: Wisst ihr noch, wie wir ganz früher immer mit dem Auto nach Italien gefahren sind? Alle zu fünft. Weiß auch nicht, wie wir das geschafft haben, da immer lebend anzukommen.

Laura: Und an Weihnachten muss die Pute auch noch mit.

Maria: Standardmäßig gibt es jedes Jahr bei uns in Italien ein englisches Weihnachtsessen. Die Pute muss aber immer prinzipiell aus Deutschland vom Bioladen des Vertrauens nach Italien kommen. Tiefgefroren in der Dachbox. Zusammen mit dem Weihnachtsbaum, der kommt auch aufs Auto. Und dann müssen wir immer erst ausdiskutieren, wann wir feiern: Deutsch - am 24. abends? Oder englisch, beziehungsweise italienisch, am 25. morgens?

Maria, 27, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Wirtschaftsgeographie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Während ihres Studiums spezialisiert sie sich auf Ostafrika und ist oft in Kenia und Tansania unterwegs. Sie genießt es, in ihrem Viertel Kreuzberg Italienisch auf der Straße zu hören.

Donatella: Die Mädchen fanden es immer stimmungsvoller, am Abend zu feiern. Außerdem erschien es ihnen bescheuert, dass man am Weihnachtsmorgen aufstehen muss anstatt auszuschlafen. Es ist ein bisschen wie mit Europa. Man muss es immer wieder neu verhandeln.

Laura: Inzwischen gibt es viel mehr billige Flüge. Es ist völlig normal geworden, einfach jemanden zu besuchen, der gerade Zeit in einem anderen Land verbringt.

Maria: Für uns war die Ryanair-Verbindung zwischen Hamburg/Lübeck und Pisa total wichtig, die hat alles leichter gemacht. Das war eine Zeit lang die Hauptstrecke in unserer Familie.

Laura: Diese Freiheit, das ist schon etwas, was ich mit Europa und der EU verbinde.

Laura, 25, studiert Latein, Italienisch und Germanistik auf Lehramt in Heidelberg. Sie hat nach dem Abitur sechs Monate im Europäischen Freiwilligendienst in Italien gearbeitet, ein Erasmus-Semester in Spanien gemacht und ein Praktikum an einer deutschen Schule in Frankreich absolviert. "Ich habe das volle Programm an Europaförderung ausgenutzt", sagt Laura.

Maria: Auf der einen Seite ist es ganz großes Glück, dass man so einen riesigen Raum hat, wo man sich frei bewegen und ganz viel entdecken kann. Auf der anderen Seite muss man sich auch klarmachen, dass es eine gewisse Doppelmoral gibt. Dass für die Leute, die aus dem Inneren diesen Raums kommen, das alles gewährleistet ist und für die meisten außerhalb eben nicht.

Europa ist Heimat. Von Zerrissenheit und dem Sehnsuchtsort Italien.

Familie über Europa: Viele Identitäten unter einem Dach: Laura, Uli und Donatella Velte.

Viele Identitäten unter einem Dach: Laura, Uli und Donatella Velte.

(Foto: Lena Jakat)

Europa ist Heimat. Von Zerrissenheit und dem Sehnsuchtsort Italien.

Uli: Ich fand es in meiner Kindheit und Jugend sehr schwierig, mit der Geschichte Deutschlands konfrontiert zu sein, vor allem im Ausland. Man wollte sein Deutschsein am liebsten vertuschen. Doch der europäische Gedanke hat sich so entwickelt, dass man durchaus zu seiner Nation stehen kann. Deswegen würde ich sagen, ich fühle mich deutsch, ganz klar. Aber deutsch mit einem europäischen Dach.

Alena: Ich finde es noch schwer zu sagen, wie entscheidend meine Herkunft für meine Identität ist. Zwar würde ich Deutschland als meine Heimat bezeichnen, daher fühle ich mich schon deutsch. Aber da gibt es immer auch diesen Sehnsuchtsort Italien, mit dem mich eine große Vertrautheit verbindet. Andererseits weiß ich nicht, wie italienisch ich mich fühlen würde, wenn ich mal längere Zeit allein und außerhalb der Familie in Italien wäre.

Alena, 19, besucht das Leibnizkolleg in Tübingen. Sie absolviert dort ein einjähriges Programm, das sich als Studium generale begreift und der beruflichen Orientierung dienen soll. Das international ausgerichtete Programm wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den französischen Besatzern gegründet, um die demokratische Entwicklung zu fördern.

Maria: Immer wieder werde ich gefragt: Wie viel bist du denn jetzt deutsch, wie viel italienisch oder englisch? Aber das schließt sich doch nicht aus. Das ist das Schöne an einer europäischen Identität: dass solche Rechenspiele egal sind.

Alena: Mit der Einschränkung, dass das ein sehr privilegierter Status ist, wenn man sich Ländern außerhalb Europas gegenübersieht: Mir gefällt die Idee, einfach Europäerin zu sein anstatt Deutsche mit italienischen Wurzeln. So muss ich mich nicht zwangsläufig dem einen oder anderen zuordnen.

Donatella: Ich habe jahrelang eine große Zerrissenheit gespürt, zwischen England, Italien, Deutschland. Jetzt will ich nicht mehr überlegen, was ich bin, oder ob ich mehr das eine bin oder das andere. Ich will einfach Europäerin sein. Wenn es das gäbe - eine wirklich akzeptierte europäische Identität - das würde mein ganzes inneres Dilemma lösen. Mein größert Wunsch ist ein europäischer Pass.

Uli: Es gab schon mal einen EU-Pass, weißt du noch, Donatella? Den brauchtest du zusätzlich, als es noch Grenzen gab.

Donatella: Eine idiotische Sache, die man zwischendurch eingeführt hatte.

Uli: Unser Flieger aus Pisa ist in Frankfurt gelandet. Du hattest Maria auf dem Arm, sie war ein Baby. Wir kamen an die Passkontrolle, zeigten unsere Pässe vor. Dann fragte ein Beamter nach dem EU-Pass. Du hattest ihn nicht. Das gab ein Riesentheater, nach dem Motto: "Der Herr mit dem Kind kann durchgehen, aber Sie nicht." Unglaublich. Irgendwie ging es dann doch. Ein Jahr später die gleiche Situation. Du legtest pflichtschuldig deinen EU-Pass hin und der Grenzer fragte: "Ja, was wollen Sie damit?" Man kam sich schon ein bisschen veräppelt vor.

Donatella: Ich habe mich immer ein wenig entwurzelt gefühlt. Als Kind fand ich es oft schwierig, zwischen englischer und italienischer Identität zu vermitteln. In Deutschland war ich dann mit einer zusätzlichen, ganz neuen Realität konfrontiert. Ich wollte, dass meine Kinder sich schnell und gut verwurzeln. Auch deswegen hat es sich nicht ergeben, dass wir die Kinder konsequent zweisprachig erziehen.

Uli: (an seine Töchter gewandt) Das hat in einem gewissen Alter auch Stress gegeben, weil ihr gefragt habt, warum wir euch nicht früher Italienisch beigebracht haben.

Laura: Immer wenn wir nach Italien fuhren, fühlte ich mich dort zu Hause. So ganz aber doch nicht, denn dafür fehlte mir früher die Sprachkenntnis. Inzwischen spreche ich viel Italienisch, auch im Alltag mit meinem Freund, sodass mich dieser Konflikt nicht mehr umtreibt. Es bedeutet mir viel, dass ich mich nun auch mit meinem Großvater in seiner Sprache unterhalten kann.

Europa ist Vielfalt. Von Schadenfreude und Wiedererkennungswert.

Alena: Ich wohne mit meinen 51 Kommilitonen in einem Haus. Wir leben und lernen auf recht beengtem Raum. Die Gruppe ist sehr vielfältig, die Studenten kommen aus Ruanda, aus Frankreich, Österreich oder der Türkei. Viele haben einen Migrationshintergrund und sind bilingual aufgewachsen. Die meisten haben sich schon viel im europäischen Raum bewegt und außer Englisch mindestens eine weitere Fremdsprache gelernt. Man kann also schon sagen, dass die europäische Idee stark ausgelebt wird.

Donatella: Wenn du von deinem Alltag dort erzählst, klingt das oft sehr international.

Alena: Im Zusammenleben kann man immer wieder Unterschiede von Kultur und Herkunft bemerken. Das gefällt mir und ist spannend. Oft sind das Kleinigkeiten: Eine französische Kommilitonin zum Beispiel macht sich wahnsinnig über das Wort "Schadenfreude" lustig. Sie kann einfach nicht verstehen, dass die Deutschen ein Wort dafür haben, sich darüber zu freuen, dass anderen etwas Schlechtes passiert.

Maria: Europa - das ist eben nicht ein Einheitsbrei, sondern besteht aus vielen verschiedenen Stimmen.

Laura: Da ist so viel Vielfalt, aber gleichzeitig auch so viel Wiedererkennungswert. Man geht irgendwohin und lernt ganz viel neues, aber trotzdem ist immer so viel da, womit man sich identifizieren kann. Während meines Praktikums an der deutschen Schule in Frankreich habe ich mich sehr wohl gefühlt, weil das ein Ort war, an dem viele Leute zusammenkommen, die verschiedene Identitäten haben und sich nicht immer wieder gegenseitig nach ihrer Herkunft fragen müssen. Deswegen mag ich den Begriff "europäisch", weil er einfach alles mögliche zusammenfasst, das man nicht mehr ausklamüsern muss.

Uli: Wenn ich mich auf den Globus denke, ist Europa der Raum für mich, wo ich mich zu Hause fühle.

Europas Grenzen. Von fehlender Solidarität und der großen Frage: Was ist Europa?

Familie über Europa: Wie läuft das mit der Migrationspolitik in Europa? Mutter Donatella und Tochter Maria im Gespräch.

Wie läuft das mit der Migrationspolitik in Europa? Mutter Donatella und Tochter Maria im Gespräch.

(Foto: Lena Jakat)

Europas Grenzen. Von fehlender Solidarität und der großen Frage: Was ist Europa?

Maria: Ich habe im Studium mal bei einer kritischen Ausstellung mitgemacht, bei der es unter anderem auch um die Drittstaatenregelung ging. Ich fand es krass zu erfahren, wie einfach beschlossen wird, dass ein Land ein sicherer Drittstaat ist (Anmerkung: Seit 1993 dürfen politisch verfolgte Flüchtlinge in Deutschland kein Asyl mehr beantragen, wenn sie über einen "sicheren Drittstaat" eingereist sind, in dem es keine politische Verfolgung gibt). Meiner Ansicht nach wird so die Flüchtlings- und Migrationsfrage auf sehr ungerechte Weise ausgelagert. Das Ergebnis ist untragbar, sowohl für die Migranten als auch für diese "Drittstaaten".

Donatella: Ich frage mich zum Beispiel ständig: Wie sollen denn die Italiener das Problem mit den Flüchtlingen lösen, die dort teilweise zu Tausenden ankommen.

Maria: Na ja ...

Donatella: Was soll das heißen - na ja?!

Maria: Zu Tausenden täglich: Das ist das Bild, das gezeichnet wird. Ich finde, die EU könnte viel mehr Flüchtlinge aufnehmen. Im Vergleich zu den Flüchtlings- und Migrationsströmen innerhalb Afrikas ist die Migration nach Europa gar nichts.

Donatella: Ich glaube, eines der Grundprobleme ist, dass es bisher keine Definition der europäischen Grenzen gab. Dadurch wird das Identitätsgebilde nicht greifbar, es entsteht keine Solidarität.

Maria: Da bin ich nicht so deiner Meinung. Wer entscheidet denn, was Europa ist? Wer hat da die Definitionsmacht?

Laura: Es ist doch so: Solange es keine gemeinsame Identität gibt, ist auch nicht klar, ob das Flüchtlingsthema ein nationalstaatliches Problem ist oder ein europäisches. Das ist schon ein grundlegendes Problem der EU, dass immer so viel darüber diskutiert wird, wer jetzt verantwortlich ist.

Uli: Deutschland macht es sich sehr einfach. Die Außengrenzen Europas sind allesamt woanders, nicht bei uns.

Laura: Man hat immer diese Vorstellung, dass überall in Europa ein hoher Anspruch an die Menschenrechte herrscht. Und dann sterben dauernd Menschen im Mittelmeer, die dort einfach untergehen.

Maria: Auf der einen Seite ist die Menschenwürde unantastbar - und auf der anderen Seite werden Menschen dafür kriminalisiert, dass sie hier sein wollen.

Uli: Und außerdem werden sie von nationalen Politikern instrumentalisiert und alle als Einwanderer in die Sozialsysteme abgestempelt.

Leni, vier, unterbricht das Interview. Der Mischlingshund ist aus Griechenland zu den Veltes gekommen. Über das Internet, vermittelt durch eine Hilfsorganisation.

Europas Krise. Von zynischen Sprüchen über Merkel und großer Resignation.

Laura: Als ich während der Wirtschaftskrise mein Auslandssemester in Spanien machte, bekam ich zynische Sprüche über Angela Merkel zu hören; da war schon ein Konflikt mit Deutschland zu spüren. Andererseits fand ich den Unterschied selbst ziemlich heftig. In Spanien haben junge Akademiker keine Aussicht, einen Job zu finden. Dagegen schauen meine Freunde in Deutschland relativ optimistisch in die Zukunft - obwohl viele von ihnen Geisteswissenschaften studieren. Dieser Optimismus beeinflusst sicherlich auch unser Europabild.

Uli: Die großen europäischen Probleme hängen eng zusammen: Die Wirtschaftskrise vergrößert die Unterschiede zwischen den Ländern, schwächt die Solidarität und das Vertrauen in Europa. Viele Menschen resignieren.

Donatella: Diese Resignation passt auch zum wachsenden Erfolg populistischer Bewegungen. Diese Stimmungen greifen ineinander.

Alena: Im Kolleg diskutieren wir auch immer wieder mal über die Wirtschaftskrise. Es ist interessant, wenn italienische Jugendliche ihre Sicht darauf schildern.

Uli: Wenn wir in Italien sind, treffen einen die großen Probleme in Europa mit aller Wucht. Das Dorf, wo meine Schwiegereltern wohnen, ist ein attraktiver, sehr begehrter Wohnort. Ich hatte früher nie gesehen, dass jemand dort was verkaufen musste. Jetzt sieht man überall dort Schilder "Zu verkaufen", "zu vermieten".

Donatella: Die Unterschiede innerhalb Italiens sind enorm. Einerseits ist viel Reichtum vorhanden, auch privater Reichtum. Andererseits ist ganz klar: Der jungen Generation fehlen die Jobs, fehlen die Möglichkeiten, fehlen die Perspektiven.

Uli: Italien finanziert hervorragend ausgebildete Leute für andere Länder. Das kann sich kein Land lange leisten.

Maria: Dieser Braindrain ...

Laura: ... - wenn die Gehirne weglaufen - ...

Maria: ... ist vielleicht auch die Kehrseite der Freizügigkeit. Ich finde es außerdem auffällig, dass etliche Italiener, mit denen man ins Gespräch kommt, sagen: "Ich gehe nie wieder zurück."

Laura: Ist ja eine krasse Aussage.

Maria: Fände ich schwierig, so was zu sagen. Viele scheinen schon resigniert zu haben.

Laura: Ich kenne etliche ausländische Studenten, die in der Mensa arbeiten oder anderswo an der Uni. Sie sind total begeistert, wie einfach man in Deutschland einen Nebenjob findet und wie unkompliziert man sich - zumindest teilweise - selbst finanzieren kann.

Europas Zukunft. Über die Kluft zwischen Alltag und Brüsseler Politik.

Alena: Grundsätzlich finden wir alle die europäische Idee gut.

Donatella: Ohne die EU hätte es auch kein Überwinden der Finanzkrise gegeben. Wenn jedes Land für sich daran gebastelt hätte, es wäre eine absolute Katastrophe gewesen.

Uli: Die wären einzeln kollabiert.

Donatella: Die Europäische Union hat sich in dieser Krise mächtig bewährt. Probleme dieser Dimension können letztendlich nur große politische Verbünde lösen.

Uli: Mich stört, dass in der öffentlichen Debatte über Europa alles nur auf die Bürokratie und Technokratie reduziert wird. Klar liegt da viel im Argen. Aber das ist so eindimensional.

Maria: Es ist eine große Gefahr, dass auf der einen Seite das Projekt Europa rechtlich so weit fortgeschritten ist und dass sich auf der anderen Seite viele Leute dessen gar nicht bewusst sind. Der Graben zwischen gelebtem europäischen Alltag und diesem technokratischen Ding ist enorm. Es ist wichtig, dass das gekittet wird. Denn sonst nutzen gefährliche nationalistische Bewegungen diese Kluft ...

Uli: ... die Ohnmachtsgefühle der Menschen aus.

Laura: Das Gefühl, dass Europa ein großer Apparat ist, den man nicht durchblickt.

Maria: Ich glaub, wir brauchen mehr Europa - vor allem im Sinne von mehr Solidarität zwischen den Staaten. So wie etwa über Griechenland gesprochen wurde, das hat dem eher entgegengewirkt. Statt immer davon zu reden, was Deutschland alles für Griechenland gibt, hätte auch thematisiert werden müssen, wie Deutschland von der EU profitiert. Es muss das Gefühl entstehen: Es gibt Probleme, aber solange wir alle in diesem großen Komplex zusammen sind, wird versucht, sie gemeinsam zu lösen. Das könnte vielen Leuten Ängste nehmen.

Donatella: Ich wünsche mir, dass irgendwann der Tag kommt, an dem die Menschen die Europawahl genauso spannend finden wie die Bundestagswahl.

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