Süddeutsche Zeitung

Familie:Ruhe für Mamas Seele

Altmodisch? Von wegen. Vor 70 Jahren wurde das Müttergenesungswerk gegründet, wo erschöpfte Frauen aufgepäppelt und getröstet werden. Warum diese Institution ganz besonders in diesen Zeiten so wichtig ist.

Von Edeltraud Rattenhuber

Das "Hohe Licht" liegt eingebettet in Wiesen und Wälder. Von den breiten Balkonen der Klinik sieht man die Allgäuer Alpen: das Fellhorn, die Kanzelwand, das Nebelhorn. Wo, wenn nicht hier, kann man sich wie am Ende der Welt fühlen, entrückt von allen Sorgen? Dass die Klinik weit vom Schuss liegt, hat aber auch einen anderen Vorteil. Denn nicht immer hält sich die liebe Familie an das Gebot, dass man der Mama die benötigte Ruhe auch lässt. Zum Beispiel ruft der Mann an, und fragt als Erstes nicht, wie es geht, sondern sagt: Die Waschmaschine ist kaputt. Ärztin Simone Frohwein kann in so einem Fall nur noch schwer an sich halten: "Wozu soll eine solche Information für eine Frau in der Kur gut sein?"

Als die Ärztin und Psychotherapeutin Frohwein sich vor viereinhalb Jahren entschieden hatte, in einer Klinik des Müttergenesungswerks zu arbeiten, erntetet sie zunächst Unverständnis. Das sind doch die, die immer mit der Büchse herumlaufen und um Spenden betteln, hieß es in ihrem engeren Umfeld. Und: Kuren für überforderte Mütter? Was willst du denn da?

Frohwein hatte zuvor eine gut gehende Praxis in Essen und ist noch heute entsetzt über diese Vorurteile. Noch nie habe sie eine beruflich so sinnstiftende Arbeit gemacht wie jetzt, erzählt sie in der Klinik "Hohes Licht" in Oberstdorf, die vom Müttergenesungswerk anerkannt ist. Alle drei Wochen kommen dort 51 Frauen an, um aufgepäppelt und getröstet zu werden, um Energie zu tanken. Viele merkten erst hier, wie ausgelaugt sie seien, sagt Frohwein. "Ihre Themen sind, grob gesagt, Trauer, Pflege, Erschöpfung" - und damit nicht wirklich andere als vor 70 Jahren, als das Müttergenesungswerk gegründet wurde.

Doch hat sich auch viel verändert, seit Elly Heuss-Knapp, Frau des damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss, mit der evangelischen Sozialwissenschaftlerin Antonie Nopitsch am 31. Januar 1950 das Deutsche Müttergenesungswerk ins Leben rief. So werden seit 1983 im Müttergenesungswerk auch Mutter-Kind-Kuren genehmigt, seit 2002 sind Krankenkassen verpflichtet, Kuren komplett zu bezahlen. "Wir haben ganz viele Kämpfe ausgefochten", zieht Anne Schilling, die Geschäftsführerin des Müttergenesungswerks, Bilanz: "Für alle, die eine Kur brauchen, sieht es heute gut aus. Nur elf Prozent der Erstanträge werden abgelehnt."

Die Mehrfachbelastung der Frauen ist "ein Armutszeugnis für die Gesellschaft"

Mehr als vier Millionen Mütter hat das Müttergenesungswerk seit 1950 schon auf Kur geschickt. Es unterhält mehr als 1100 Beratungsstellen, wo Mütter und inzwischen auch Väter sowie pflegende Angehörige sich Unterstützung und Nachsorge holen können. Die meisten Patienten in den mehr als 70 Kliniken, die das Müttergenesungswerk anerkannt hat, sind aber weiterhin Frauen. In Deutschland tragen sie trotz aller Gleichberechtigung die Hauptlast in der Familiensorge. Viele verdienen weniger als ihre Männer, arbeiten als Mütter Teilzeit oder Vollzeit und fühlen sich trotzdem zu Hause für alles zuständig. Alleinerziehende müssen das sowieso.

Laut Statistischem Bundesamt liegt der Anteil der Männer, die täglich kochen oder Hausarbeit verrichten, in Deutschland bei nur 29 Prozent, in Schweden aber bei 56 Prozent. Die Mehrfachbelastung der Frauen sei "ein Armutszeugnis für die Gesellschaft", findet Elke Hüttenrauch; sie leitet die Klinik in Oberstdorf und sieht tagtäglich, was Stress und Selbstaufopferung mit Müttern machen.

Für die 51 Frauen, die in den ersten Januarwochen in Oberstdorf eine Kur machten, ist gerade das letzte Wochenende angebrochen. Vier Patientinnen kommen im Kaminzimmer zusammen und erzählen. Martha G., die ihren echten Namen ebenso wie die drei anderen nicht in der Zeitung lesen will, ist schon zum zweiten Mal in der Klinik. Einer der beiden Söhne hatte einen Zusammenbruch nach einem abgebrochenen Studium, kurz darauf bekam der Mann einen Burn-out, sie musste alles managen. Und stand kurze Zeit später völlig erschöpft vor Ärztin Frohwein. "Erst in der Klinik ist mir klar geworden, wie lange ich durchgehalten habe", sagt Martha G. Sie findet es schön, "dass man hier die Notbremse ziehen kann, bevor man psychisch krank wird". Martha G. hat sich "wie in einer Genesungsblase" gefühlt. "Es sagt einem auch jemand, es ist okay, dass du schon wieder hier bist", denn jede Frau, die in die Kur komme, denke zunächst einmal, sie habe etwas falsch gemacht.

Renate H. ging es ähnlich. Ihr Sohn wurde schwer krank, dazu haben sie und ihr Mann derzeit die Mutter und die Schwiegermutter zu versorgen; diese sind noch rüstig, aber man muss sich um sie kümmern. Renate H. arbeitet Vollzeit. Stress und Sorge um ihren Sohn haben ihr den Blutdruck auf 200 hochgetrieben. Da wusste H., dass sie etwas ändern muss, obwohl sie es nicht wahrhaben wollte. "Ich bin ja so eine Durchhalterin", sagt sie. Ihr Hausarzt schickte sie auf Kur, und wundersamerweise bekam sie schnell einen Platz im "Hohen Licht". Normalerweise sind die Kliniken voll, man wartet Wochen, ja Monate auf einen Platz.

Frohwein und Hüttenrauch bringt die geringe gesellschaftliche Wertschätzung für die Bedürfnisse der Frauen immer wieder in Rage. Tatsächlich müssen die beiden so manche Frau auch vor sich selbst schützen. Allein, dass eine kaputte Waschmaschine sie aus dem mühsam wiedergefundenen Gleichgewicht bringen kann, zeige, wie fest gefügt die Rollenmuster seien, sagt Frohwein. Elke Hüttenrauch meint gar, die eine oder andere Mutter würde, wenn es ihr nicht zu weit wäre, "möglicherweise am Wochenende von der Kur durchaus nach Hause fahren, um die Wäsche zu erledigen oder für die ganze Familie vorzukochen".

Als das Müttergenesungswerk 1950 gegründet wurde, war es keine Frage, dass die Mutter sich um Haushalt, Kinder und die pflegebedürftigen Angehörigen zu kümmern hatte. Doch schon weit vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland emanzipatorische Bestrebungen, Müttern zu helfen, sie zu entlasten und in ihrer täglichen Arbeit zu stärken. So rief die Sozialwissenschaftlerin Nopitsch 1933 den Bayerischen Mütterdienst in Nürnberg ins Leben, zu dessen Nachfolgeorganisation "Frauenwerk Stein" die Oberstdorfer Klinik "Hohes Licht" gehört. Nopitsch hatte mit Elly Heuss-Knapp die Idee zum Deutschen Müttergenesungswerk. In ihrem "Vermächtnis" schreibt Elly Heuss-Knapp denn auch, "dass eigentlich nicht ich das Werk gegründet habe, sondern Frau Nopitsch. Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich als Stifterin genannt werde." Nopitsch starb, vielfach ausgezeichnet, im Jahre 1975. Dem Drängen der Nazis, sich den Mütterdienst einzuverleiben, hatte sie sich laut Recherchen der Münchner Theologin Beate Hofmann-Strauch mit manchen Tricks und Hinweis auf den kirchlichen Ursprung der Dienstes soweit wie möglich verwehrt.

Elly Heuss-Knapp starb 1952, also kurz nach der Gründung des Müttergenesungswerks. Die Gattin des ersten Bundespräsidenten begründete die Tradition, dass Schirmherrin immer die Ehefrau des Bundespräsidenten sein soll. Heute hat dieses Amt Elke Büdenbender inne, die Frau von Frank-Walter Steinmeier. Sie hält das Müttergenesungswerk für einzigartig. "Welche andere von Spenden finanzierte Organisation kümmert sich so wunderbar um Mütter und mittlerweile auch um Väter und pflegende Angehörige?", fragt sie.

Immer rund um den Muttertag wird seit seiner Gründung für das Werk gesammelt. Elly Heuss-Knapp tat das auch selbst werbewirksam bei ihrem Mann. Sie hatte nach dem Krieg erkannt, dass es "Gebiete der Fürsorgebedürftigkeit (gibt), die der Allgemeinheit noch gar nicht ganz zum Bewusstsein gekommen sind", und zwar "die Not der Mütter".

Die Jahre des Krieges und der Nachkriegszeit waren verheerend für viele Frauen, ob es nun Heimatvertriebene, Kriegswitwen oder Hinterbliebene von Opfern des Regimes waren. Mütter, so Ely Heuss-Knapp, "haben oft noch ihre eigenen kümmerlichen Rationen mit den Kindern geteilt - und viele sind noch in dieser Lage, das alles rächt sich nun an ihrer Gesundheit, und zwar an ihrer Gesundheit des Leibes und der Seele."

Die Frauen mussten die Kinder allein durchbringen. So wie Frau S., die mit zwei Kindern und ihrem hirnverletzten Mann in einem kleinen Zimmer lebte. Ein Kind hatte Tuberkulose. Geld verdiente sie durch einen kleinen Papierwarenverkauf. "Frau S. ist herzeleidend und ganz erschöpft. Sie hat keinen Mut mehr zum leben", heißt es in ihrer Krankenakte. Oder Frau K. "36 Jahre alt, Flüchtling, Mann Autoschlosser, vermisst, Näherin, 2 Kinder (7 und 8 Jahre). Frau K. war 3 Monate im Krankenhaus wegen Nervenzusammenbruch. Durch starkes Zittern der Hände war sie nicht mehr arbeitsfähig."

Sie selbst schrieb aus dem Erholungsheim: "Hier fand ich mein Gleichgewicht wieder, seelisch und körperlich, meine Hände zittern nicht mehr und mein guter Appetit ist beängstigend."

Laut Berichten haben die meisten Frauen die Kur vor allem dazu genutzt, ganz viel zu schlafen. Elly Heuss-Knapp sorgte sich auch um die Familie und ihren Fortbestand. In einer Rundfunkrede sagte sie: "Da haben sich die Männer jahrelang gefreut, nach Hause zu kommen, und die Frauen sich nach ihren Männern gesehnt. Aber die Heimkehrer dachten an eine junge, fröhliche, gute Kameradin und nun finden sie oft eine abgehärmte, müde, sehr selbständig gewordene und in mancher Beziehung schwierige und reizbare Frau vor."

Die selbständige Frau war zu dieser Zeit nicht gerne gesehen. Zum 75. Jubiläum des Frauenwerks Stein 2008 interviewte die Nürnberger Zeitung die ehemalige Vorsitzende des Frauenwerks, Hildegard Zumach. Sie erzählte, Hilfe für Frauen habe in den Augen der Männer damals vor allem bedeutet, sie wieder fit zu machen für ihre Aufgaben: "Draußen auf dem Land gab es Leute, die dem Mütterdienst nicht wohlgesonnen waren. Wir würden die Frauen verunsichern und aufwiegeln, wir würden die Ehen kaputtmachen, hieß es. Dass die Ehen schon vorher kaputt waren, wollten die nicht sehen", so Zumach.

Und was ist mit den Kindern?

Trotz aller Emanzipation heute - auch die neuen Mamas lassen sich in alte Korsetts pressen. Und sie ziehen sich die neuen freiwillig an. Anne Schilling sieht mit Sorge, dass "das alte Rollenmuster aufgeladen ist mit neuen Erwartungen an die Frauen". Die Doppel- und Dreifachbelastung in Beruf, Familie und Pflege führten auf Dauer zu Schlafstörungen, depressiven Verstimmungen, Angstzuständen, Gereiztheit und Rückenschmerzen, erzählt die Geschäftsführerin des Müttergenesungswerks. Ein krankes Kind, Trennung, Partnerschaftskonflikte, ein Pflegefall in der Familie, chronische Erkrankungen oder ein Todesfall, solche Ereignisse sind oft die Tropfen, die das Fass zum Überlaufen bringen.

Allerdings können auch Männer in der Familienarbeit unter Druck geraten. Neben etwa 50 000 Müttern nehmen pro Jahr etwa 2000 Väter an speziellen, gendersensiblen Kuren teil, das heißt, die Väter bleiben wie die Mütter unter sich. Außerdem kämpft das Müttergenesungswerk für eine bessere Unterstützung von pflegenden Angehörigen durch Kuren und eine finanzielle Übernahme der Nachsorge.

Und was ist mit den Kindern? Über 70 000 kommen pro Jahr auf eine Kur mit. Zunächst waren die Aufenthalte ohne Kinder konzipiert. Der Wunsch, sich nicht von den Kindern zu trennen, und die schwierige Betreuungssituation für Alleinerziehende haben Mutter-Kind-Kuren über die Jahre jedoch immer populärer werden lassen. Doch erholt Mama oder Papa sich besser ohne Kind, das betonen alle Beteiligten. Auch Petra S. hat Sohn und Tochter zu Hause gelassen. Die junge Landwirtin, für die es ganz normal ist, dass sie mittags für sieben Mann kocht - "schnippel mal Gemüse für sieben!" - sieht nach den letzten drei Wochen im "Hohen Licht" klarer, was sie so überfordert hat.

Sie will einiges ändern zu Hause. Sylvia M., die mit Depressionen zu kämpfen hatte und neuen Lebensmut geschöpft hat, fühlt sich erholt wie ihre eigene Mutter, die vor 35 Jahren von einer Mütterkur wie verwandelt nach Hause kam. Sie hatte für alle vier Kinder Pullis gestrickt, war ausgeruht und stellte die Ernährung um. Es gab dann ganz viel Vollkornkost.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4775817
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 01.02.2020/mkoh
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.