FÜNF ist dieser Kleinkriminelle, fünf Jahre alt! Ich war in der zweiten oder dritten Klasse als wir vor dem Kiosk neben der Grundschule munter Süßwaren in der Clique verteilten - zumindest bei meinem Zwillingsbruder und mir vom Geld meines Vaters gekauft (nein, wir haben das nicht "gefunden", sondern aus seiner Geldbörse geklaut). Was bin ich froh, dass er uns nicht erwischt hat! Denn erstens haben wir mit dem Diebesgut Teilen geübt. Vor allem aber hätte es nicht einmal meinen Bruder zu einem besseren Menschen gemacht (der war von uns beiden immer der Schneller-Checker). Warum nicht? Weil Moral nicht durch Ansagen von oben oder rationale Argumente entsteht. Sondern von unten, auf langsamen Trampelpfaden. Vorwärts kommen die Kinder, die nicht schon deshalb zur Lüge greifen müssen, weil die Kosten der Wahrheit so verdammt teuer sind (zu Tode enttäuschte Eltern, Medienverbot usw.). Nein, mit kleinen Dieben kann man REDEN ohne die Moralkeule in der Hand, mit denen kann man REGELN finden, die sie selber umso länger mittragen, je gütiger der Richter und je vertrauter die Beziehung zu den Eltern ist. Und genau das ist unsere "Werteerziehung": dass wir unseren Familiengarten gut bestellen. Moral, "Werte" und die anderen Grenzen drumrum ergeben sich dann von selber - weil sie etwas Wertvolles schützen.
Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt, Wissenschaftler und Autor von Erziehungsratgebern und des Blogs "Kinder verstehen". Er hat vier erwachsene Kinder und lebt mit Frau und jüngstem Kind in Ravensburg.