Süddeutsche Zeitung

Eye Contact Experiments:Schau mir in die Augen, Fremder

Lesezeit: 5 min

Bei sogenannten Eye Contact Experiments schauen sich zwei Fremde minutenlang an, ohne zu sprechen. Viele Teilnehmer suchen Nähe - und finden vor allem sich selbst.

Von Philipp Bovermann

Lena hat sich den Stuhl gegenüber von Jens ausgesucht. Die junge Frau berührt ihn kurz an der Schulter und nickt, dann geht es los: Die beiden sehen sich tief in die Augen. Es ist eine Auseinandersetzung mit Blicken. Sehen, dass man angesehen wird. Lenas Rücken ist kerzengerade, wie bei einer Meditation. Sie lächelt Jens versonnen an. Der blinzelt nervös durch seine rahmenlose Brille zurück und sieht aus, als wolle er etwas sagen.

Doch beim "Eye Contact Experiment" ist Reden verboten. Es ist eine Übung, sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen, Nähe zu erzeugen, ohne zu sprechen. Das Prinzip klingt einfacher, als es ist: Zwei Fremde schauen sich in die Augen, minutenlang, manchmal stundenlang, und sagen kein Wort.

Was denkt sie, was ich denke, was sie denkt?

Als sich Jens an der Nase zupft, zieht Lena eine Schnute, als würde es auch bei ihr jucken. Die Spiegelneuronen tun ihren Dienst. Wissenschaftler nennen es "Chamäleon-Effekt", wenn zwei Menschen die Signale des anderen unbewusst wiederholen. Einfühlung ist nämlich zuallererst ein körperlicher Prozess: Wenn wir angelächelt werden, lockert sich auch unsere eigene Mimik. Das Gefühl der Entspannung, das wir dabei erleben, schreiben wir dem Gegenüber zu. Das funktioniert sogar bei Smileys. Der Körper schüttet das Zufriedenheitshormon Serotonin aus, und wir denken, dem Smiley gehe es gut.

Lena und Jens gehen gemeinsam raus vor die Tür, wo andere Teilnehmer des Experiments schon stehen und sich unterhalten, die meisten sind Studenten. Im Strascheg Center for Entrepeneurship, das zur Hochschule München gehört, treffen sich sonst junge Unternehmer zum Positiv-Denken und Ressourcen-Mobilisieren. "Stell dir vor, die Zukunft wird wunderbar - und du bist schuld!", steht auf einem Poster, gleich neben der Dose für die freiwilligen Unkostenbeiträge. Jens hat die Sitzung mit Lena nach zehn Minuten beendet. Er habe sich, sagt er, gefühlt, "als hätte man etwas im Mund und würde es nicht runterschlucken".

Jetzt erst erfahren die beiden, wer der andere eigentlich ist. Jens ist 27 und für seine Medizin-Promotion nach München gekommen, war neugierig, "emotional unterfordert". Lena, 29, sieht im "Kontakten" einen Ausgleich zur Anonymität ihres Bürojobs, des Internets, des 21. Jahrhunderts. Ein Schlangentattoo zieht sich ihren Nacken abwärts und verschwindet in einem bunten Trägertop. Weil es aus dem Nichts kam, war Lenas Lächeln für ihn komplett unergründlich, erklärt Jens. Das habe ihn irritiert: "Meint sie überhaupt mich?" Schließlich kannte sie nicht einmal seinen Namen und er hätte ja auch ein Kinderschänder sein können. Außerdem wisse man während des Experiments, dass jede noch so kleine Regung der Mimik und der Haltung aufmerksamer als sonst registriert und interpretiert wird.

Was denkt sie, was ich denke, was sie denkt? Lena hingegen sagt, sie habe Jens gespürt, so wie man das Wetter spürt, oder einen Geist. Nicht so sehr als Person, sondern als "etwas, das einfach da ist". Seine Angst, auch dass es in ihm arbeitet, habe sie gesehen. Allerdings wisse sie, dass diese Dinge nicht mit ihr, sondern mit ihm zu tun hatten. Also habe sie ihm einfach "diese teilnahmslose Offenheit" geschenkt, die sie sogar körperlich in der Brust spüren könne, bei jedem "Kontakt". Jens sieht sie verstohlen von der Seite an, während sie von einem inneren Licht erzählt.

Flirten die beiden etwa? "Nein", erklärt Alena, eine 24-jährige Studentin, "darum geht es hier nicht." Zwar kommt es vor, dass sich manche Männer auffällig oft hübschen jungen Frauen gegenübersetzen, aber die Organisatoren achten darauf, dass aus der Veranstaltung keine Single-Börse wird.

Auf die Idee, Eye Contact Experiments regelmäßig in München zu veranstalten, kamen Marco van Bree und Daniel Kazani, nachdem sie vergangenes Jahr an "The World's Biggest Eye Contact Experiment" teilgenommen hatten, simultan mit circa 45 000 Menschen in mehr als 90 Städten. Auf Schildern stand dabei immer die Frage: "Wo ist die menschliche Verbindung hin?" In einigen Orten etablierten sich daraufhin freie Veranstaltungsreihen. "Ich glaube, es gibt in unserer Zeit ein großes Bedürfnis nach Verständnis", sagt Marco van Bree.

Er könnte recht haben. Selbst der hippe Sonnenbrillen-Hersteller Ray Ban - der ja eigentlich von Geschäfts wegen eher wenig mit tiefen Blicken in die Augen seiner Kunden zu tun haben sollte - veröffentlichte kürzlich eine Reihe viraler Image-Videos unter dem Hashtag #ittakescourage: "Es braucht Mut". Den braucht es, so die implizite Botschaft, um einem Fremden in Zeiten des Fremdenhasses in die Augen zu schauen. Die Internetseite Soulpancake und die Menschenrechtsorganisation Amnesty Poland hatten zuvor ähnliche Videos in Umlauf gebracht: Sie alle zeigen Menschen, die sich lange und tief in die Augen blicken. Echte Nähe, ganz ohne Wlan, über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg, dazu Klaviermusik. Und irgendwann fängt immer einer an zu weinen.

Bei dem Eye Contact Experiment in München wird anfangs mehr gekichert. Es ist normal, sich zuerst unsicher zu fühlen. Das wird meistens nach ein paar Sitzungen besser. Aber gerade unerfahrene Teilnehmer finden oft, dass sie sich wie der Psychopath verhalten, der in der U-Bahn fremde Mädchen anstarrt. Das Lachen entschärft den Grenzübertritt. Man kann diese Grenze sogar messen: 3,3 Sekunden. So lange empfinden Europäer, laut einer Studie des University College London, einen Blickkontakt als angenehm. Alles darunter wirkt schüchtern, alles darüber aggressiv. Doch was passiert in den vielen, vielen weiteren Sekunden in einem Eye Contact Experiment?

Eine Antwort darauf gibt die Studie "Die experimentelle Erzeugung von zwischenmenschlicher Nähe", die der amerikanische Psychologe Arthur Aron vor mehr als 20 Jahren veröffentlichte. Auf seine Methode gehen die Blickkontakt-Experimente ursprünglich zurück. Aron und sein Team ließen eine Frau und einen Mann zusammen an einem Tisch Platz nehmen. Dort beantworteten sie nacheinander 36 zunehmend intime Fragen. Anschließend sollten sie sich schweigend in die Augen sehen. Das allererste Eye Contact Experiment der Geschichte dauerte exakt vier Minuten lang. Ein Jahr später heirateten die beiden. Das ganze Labor war eingeladen.

Lena kommt aus der nächsten Runde nach draußen, diesmal mit Jette, einer sonnengebräunten Frau um die fünfzig. Jette erklärt, warum nach vier Minuten nicht einfach Schluss ist. "Es geht gar nicht zwangsläufig nur um das Herstellen von menschlichen Verbindungen", sagt sie. "Sondern auch darum, sie auszuhalten."

Genauso wie Jens sei sie anfangs regelmäßig in ein Gedankenkarussell verfallen. Weil aber all diese Fragen an dem Gesicht des Partners einfach abprallen, begreife man zunehmend, dass es sich lediglich um eigene Zuschreibungen handelt. So wie der Mann gegenüber vielleicht kein Spanier ist, bloß weil er dunkelbraune Locken hat. Dadurch werde es möglich, die ewig kreisenden Fragen einfach über Bord zu werfen. Von da an könne man sich einlassen auf sein Gegenüber, das man nicht kennt. Jette spricht etwas hochtrabend von einer "Meditation der liebenden Güte", stellvertretend am lebenden Objekt.

Wie es sich anfühlt, ein solcher Stellvertreter zu sein, hat die Künstlerin Marina Abramović 2010 beim bislang längsten je abgehaltenen Eye Contact Experiment ausprobiert. Exakt 721 Stunden - sechs Tage die Woche, immer sieben Stunden am Stück - saß sie nacheinander 1565 Besuchern des New Yorker Museum of Modern Arts gegenüber und blickte ihnen schweigend in die Augen. Vielen kamen die Tränen. "Ich bin für sie da", sagte Marina Abramović später über ihre Performance "The Artist ist Present". "Ich verstecke mich nicht, ich mache mich verfügbar."

Um genau diese radikale Offenheit geht es auch den Teilnehmern der Eye Contact Experiments, wenn sie ihre Sonnenbrillen abnehmen. Es ist eine Übung, sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen - und für kurze Zeit, auf die Schutzmaske zu verzichten, hinter der wir uns im Alltag so oft verstecken.

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SZ vom 13.08.2016
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