Extremsport:Atemlos

Sport Zwillinge - Volo SZW

Angelika und Barbara laufen 1990 sieben Tage durch die Sahara.

(Foto: Privat)

Zwei Tiroler Schwestern radeln, rennen, klettern - und werden in den USA zu Stars. Es gibt keine Grenzen. Glauben sie. Die Geschichte eines Irrtums.

Von Korbinian Eisenberger

Wenn sie einverstanden ist, zwinkert sie mit den Augen. Mit ihrem Kopf nicken oder sprechen kann Barbara Warren seit ein paar Stunden nicht mehr. Sie wollte doch nur dieses Rennen gewinnen, sagt ihre Zwillingsschwester. Jetzt blitzt die kalifornische Sonne durch die Jalousien eines Fensters im Notfallkrankenhaus von Santa Barbara. Die Maschinen piepen, die Beine liegen still. An dem Tag, an dem Barbara Warrens Sturzhelm zerbrach. Als sie neun Jahre alt sind, wollen die Zwillinge Angelika und Barbara von ihrer Mutter wissen, wie die Welt hinter den Tiroler Bergen aussieht. Mit 18 verlassen sie ihre Heimat St. Johann, um es herauszufinden. Sie unterschreiben die ersten Model- und Schauspieler-Verträge in Mexiko und den USA. Ihre Gesichter tauchen auf den Covers von Modezeitschriften, in Filmen und Fernsehsendungen auf. Sie sind "die zwei Heidis aus Österreich", sagen die Menschen, mit denen sie arbeiten. Schauspieler und Modedesigner laden die Zwillinge mit den großen blauen Augen und den dunklen Locken auf Partys ein. Champagner trinken, Marihuana rauchen und Koks schnupfen. Wir haben bessere Trips gehabt, sagt Angelika, und schlechtere.

An einem Abend im Sommer 1983 türmt sich das weiße Pulver auf den Teakholztischen einer Villa in Los Angeles. Angelikas Schwester ist diesmal nicht dabei. "Nimm noch eine Prise", sagt der Gastgeber. Angelika macht mehr Runden mit als sonst. Dann fällt sie vom Stuhl und bleibt mit offenen Augen liegen. Ihr Körper ist gelähmt, sie kann nur die Augen bewegen, sieht, wie der Rest der Gruppe lachend in den Zimmern verschwindet. Am nächsten Tag klingelt das Telefon ihrer Schwester.

Die Schminkschatullen sind einer Medaillen-Sammlung gewichen

Heute erinnert in Angelikas Haus in San Diego kaum mehr etwas an die verkaterten Jahre in der Glamourszene. Die Schminkschatullen von einst sind einer Medaillensammlung gewichen. Bei einer Tasse Schwarztee im klimatisierten Wohnzimmer erzählt die 71-Jährige ihre Geschichte. Angelika, muskulös, drahtig, hautenger Trainingsanzug, spricht einen amerikanischem Slang mit österreichischem Einschlag. Stolz zeigt sie ihre Garage, vollgestellt mit Mountainbikes, Rennrädern, Crosstrainern und einem Kajak. Rucksäcke, Kletterausrüstungen, Sportschuhe und Taucheranzüge. Sie spricht über ihre Rennen und die Siege mit ihrer Schwester, und über den Abend, der all das beinahe verhindert hätte.

Noch eine weitere Nase Koks, sagt Angelika, und sie wäre in der Villa in Los Angeles wohl nicht mehr aufgewacht. Und ihre Schwester zieht die Konsequenzen. Sie sehen uns heute zum letzten Mal, sagt Barbara zwei Monate später in einer mexikanischen Fernsehsendung und verabschiedet die Zwillinge aus dem Showgeschäft. Kurz darauf verschwinden die Gesichter der "zwei Heidis aus Österreich" von den Titelseiten der Glamourmagazine.

Mit Ende 30 schließen die Zwillinge mit ihrem alten Leben ab. Beide ziehen mit ihren Familien ins kalifornische San Diego. Die langen dunklen Locken weichen einem blonden Kurzhaarschnitt. Barbara fängt an zu laufen. Mit 42 bestreitet sie ihr erstes Rennen, einen Zehn-Kilometer-Lauf in Houston, Texas. Wenig später kauft sich auch Angelika Joggingschuhe.

Sport Zwillinge - Volo SZW

In den Siebziger- und Achtzigerjahren verdienen sich Barbara und Angelika (von links) ihr Geld mit Modeln und Schauspielerei.

(Foto: Privat)

Zusammen laufen die Zwillinge 1987 die ersten Zehn-Kilometer-Rennen, den ersten Halbmarathon, den ersten Marathon. Angelika sagt, das Laufen, das war so unheimlich befreiend. Die Fachbücher sagen, Bewegung ist gut für die Gesundheit.

Wenn du dich einmal nach einem Dauerlauf erbrochen hast, dann gibt es zwei Möglichkeiten, sagt Angelika: Entweder du hörst auf - oder du willst mehr.

Das erste 50-Meilen-Rennen

Innerhalb eines halben Jahres steigern sich die beiden über mehrere Marathons bis hin zum ersten 50-Meilen-Rennen. Im Sommer 1988 treten sie beim am "Pacific Crest Trail" in Kalifornien an. Während des Rennens übergeben sie sich mehrmals am Straßenrand. Im Ziel wartet Larry Pustinger, ihr langjähriger Trainingskollege, mit einer Thermoskanne Tee. Er sagt, er hat bei solchen Rennen nie das Ziel erreicht. Der heute 73-Jährige erinnert sich daran, wie er die beiden brechend im Staub liegen sah. Wir sind das falsch angegangen, aber wir waren im Ziel, sagt Angelika heute. Und ihre Schwester sagte damals: Wann ist das nächste Rennen?

Dann haben wir die Salztabletten entdeckt, sagt Angelika. Mit den bis dato noch weitgehend unbekannten Energiepillen, die dem Körper Natrium bei Höchstleistungen in großer Hitze liefern sollen, gewinnen die Zwillinge ihre ersten Rennen. 47 Jahre alt sind sie zu diesem Zeitpunkt. Am 27. September 1989 lächeln sie von der Titelseite der Lokalzeitung. "Sie sind die Eis-Engel aus den Alpen", schreibt Sportjournalist Jack Williams auf Seite eins der San Diego Tribune. Und die Zwillinge sagen, das sei erst der Anfang.

Aus den zwei Heidis ist das Twin-Team geworden

Mit 48 beginnen Angelika und Barbara mit dem Rennrad- und Schwimmtraining. Im selben Jahr holen sie ihren ersten Doppelsieg bei einem Triathlon. "Zwillings-Schrecken des Triathlons", schreibt das Sports Illustrated Magazine im November 1990. "Sie waren einfach großartig. Alle haben sie bewundert", sagt Larry Pustinger.

Was ihr Antrieb sei, jeden Tag unter der Sonne zu schwitzen, fragen die Journalisten. Herausforderungen annehmen und Widrigkeiten als Chancen begreifen, sagen die Zwillinge. Aus den zwei "Heidis aus Österreich" ist das Twin-Team geworden, schreiben die Zeitungen. Angespornt hätten sie solche Schlagzeilen schon, sagt Angelika. Aber es sei nicht das gewesen, weswegen sie der Sport so fasziniert hat.

"Es ist ein Hochgefühl, das jeder Hobbysportler bei einem Waldlauf haben kann", sagt Sportpsychologe Jens Kleinert, Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln. Eine Art gesunder Flow oder Rausch, über dessen Zustandekommen sich Wissenschaftler bis heute uneinig sind. Kleinert spricht von Menschen jeden Alters, die gern und leidenschaftlich Sport treiben. Die darin Zufriedenheit, körperliches und psychisches Wohlbefinden oder sogar innigste Erfüllung finden. Die Wissenschaft hat in diesem positiven Erfüllungsgefühl aber auch eine Gefahr entdeckt, eine Gemeinsamkeit mit Drogen und Alkohol: Es hat das Potenzial, süchtig zu machen, weil man es immer und immer wieder haben will. Irgendwann geht es einem plötzlich schlecht, wenn man ein paar Tage keinen Sport macht. Das ist der Punkt, an dem der Rausch zur Sucht geworden ist. Dann wird es gefährlich.

Sport Zwillinge - Volo SZW

Zwillige im Gleichschritt: Das "Twin-Team" wird über die Grenzen der USA hinaus von Medien und Fans gefeiert, hier bei einem Triathlon.

(Foto: Privat)

Sport ist unser Leben, sagen die Zwillinge in einem Interview 2001. Ihre Ehen gehen auseinander. Beide heiraten zum zweiten Mal. Sie suchen sich Männer, die ihre Art des Sporttreibens kennen: Barbara den Ironman-Gewinner Tom Warren, Angelika den Extremsportler Preston Drake.

Im selben Jahr fährt Angelika beim zehntägigen Radrennen über 2600 Meilen, dem "Race Across America", in ein Auto, fliegt über die Motorhaube und bleibt auf dem Asphalt liegen. Sie reißt sich mehrere Bänder in der Schulter. Eine halbjährige Pause soll sie einlegen, sagen die Ärzte zu ihr. Nach acht Wochen sitzt Angelika schon wieder im Sattel.

"Die haben sich von nichts unterkriegen lassen"

Was, wenn ein Unfall mal nicht glimpflich endet? Laut ausgesprochen hat er solche Bedenken nie, sagt Larry Pustinger. Aber ganz insgeheim, sagt er, da war er ein bisschen in Sorge. Angelika sagt, über so etwas habe nie jemand geredet.

"Die haben sich von nichts unterkriegen lassen." Bewundernswert, das würden wir nie schaffen, sagen die Freunde. Die Runners World spricht vom "ruhmreichen Aufstieg der Twintowers". "Die Zwillinge machen jetzt die ganz großen Distanzen", schreibt die San Diego Union. Jetzt packen wir den Ironman, sagen die Zwillinge.

Beim 217 Kilometer langen "Badwater Death Valley Race" 1990 durch die Wüste von Kalifornien biegt die Hitze des heißen Sandes die Zehennägel der Zwillinge auf. Angelika und Barbara, 47, schneiden sich die Laufschuhe auf, stechen den Eiter mit Nadeln heraus. Sie gewinnen das Rennen. Angelika verliert alle Zehennägel. "Beim Laufen überwindet man den Schmerz", sagt Angelika. "Das Twin-Team beweist seine Härte in der Sahara", schreibt die Los Angeles Times. Das City Sports Magazine ernennt sie zu Sportlern des Monats. Gedanken darüber, dass die Zwillinge für die Erfolge ihre Gesundheit riskieren, machen sich die Autoren der Artikel nicht, und niemand sagt es. Die Welle, auf der Angelika und Barbara reiten, wird durch nichts gebrochen. Noch.

Einige Medaillen von damals hängen heute an Angelikas Bürotür. Sie zieht eine Schublade aus ihrem Schreibtisch. Über die Jahre hat sie einen Stoß Zeitungsseiten und Videofilme über das Twin-Team gesammelt. In einem Clip aus dem Jahr 2003 ist zu sehen, wie sie mit dem Rennrad stürzt. Die damals 60-Jährige verdreht sich das Knie, kann nicht mehr stehen. Sie fährt die Strecke mit einem Bein auf dem Klickpedal zu Ende. In der abschließenden Kanu-Etappe robbt sie sich bei einem Zwischenstopp über einen Felsen, schreit vor Schmerz. Sie soll aufgeben, ruft der Streckenposten. Es ist nicht so schlimm, sagen die Teamkollegen. Es ist garantiert nicht gefährlich, sagt Angelika und paddelt das Rennen bis über die Ziellinie. Ihr Team gewinnt. Die nächsten sechs Monate verbringt Angelika im Krankenhaus.

"Unser Erkundungsgang hat uns angetrieben", sagt Angelika

Toll sei das gewesen, welch ein Wille, welch ein Kampfgeist, erzählen die Freunde am Telefon, die den Sturz im Fernsehen gesehen haben. Das Twin-Team ist mittlerweile über die Grenzen Kaliforniens hinaus bekannt. "Wir haben nie aufgegeben", sagt Angelika. "Unser Erkundungsdrang hat uns angetrieben."

2006 bekommt ihre Schwester zum ersten Mal keine Luft mehr. Ein Arzt diagnostiziert bei Barbara eine Allergie, die ihr die Kehle verschließt. Unter Extrembedingungen gefährlich, heißt es. Angelika sagt, ihre Schwester habe schon an das nächste Rennen gedacht.

Längst nutzen die Zwillinge ihre Körper wie Maschinen, die funktionieren müssen. Dass man auch die besten Maschinen nicht ständig unter Volllast nutzen darf und ab und an warten muss, scheinen sie außer Acht zu lassen. Wenn man sich beim Sport häufig verletzt, aber nicht aufhören kann und seinen Körper weiteren Strapazen aussetzt, ist in der Forschung von Suchttendenzen die Rede. Sportpsychologe Kleinert sagt: "Schädigt sich jemand wider besseren Wissens häufig selbst, ist das eines von mehreren Indizien für eine Sportsucht."

Bei einem Triathlon in San Diego schließt sich Barbaras Kehle zum zweiten Mal. Angelika findet ihre Schwester im Krankenhaus, blau im Gesicht, nach Luft ringend. Nach einer Stunde geht die Kehle wieder auf. Der Arzt gibt Barbara ein Asthmaspray. Er sagt, sie könne weiter Wettkämpfe fahren. Das macht sie auch.

Die 65-jährige Barbara zählt zu den Favoritinnen

Fotos zeigen, wie sich zwei schwitzende Frauen auf Rennrädern eine Serpentine hinauf quälen, wie sie sich im Arm liegen, Hand in Hand auf dem Siegerpodest stehen. Diese Bilder hängen im Wohnzimmer in Angelikas Haus am Stadtrand von San Diego. Angelika sagt, sie und ihre Schwester hätten nie ans Aufgeben gedacht.

Die Zwillinge arbeiten sich bis zu den härtesten Ausdauerwettbewerben des Planeten vor. Sie verbringen mehr als die Hälfte des Jahres in Wüsten, Bergen und auf Rennstrecken. Barbara läuft zwölf Mal den "Ironman Hawaii" - und gewinnt ihn im Alter von 60 Jahren. Für die Presse sind die Zwillinge längst "lebende Legenden". Bis zum Sommer 2008.

Barbara hat das Asthmaspray jetzt immer griffbereit. Beim "Santa Barbara Triathlon" im August geht sie allein an den Start, Angelika setzt wegen einer Erkältung aus. Im Startbereich umarmen sich die Schwestern. Ein kurzes Drücken, ein Kuss, dann rollt Barbara zur Startlinie.

Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, wie fast immer in Kalifornien. Die 65-jährige Barbara zählt zu den Favoritinnen. Angelika will ihr hinter einer Absperrung am Streckenrand zujubeln. Als die Führungsgruppe heranrauscht, wundert sie sich, dass ihre Schwester nicht wie sonst dabei ist. Dann hört sie eine Lautsprecherstimme. Auf der Strecke ist ein Unfall passiert.

"Sport macht high", sagt der Mediziner Gerhard Uhlenbruck, "man kann sich in einen Rausch hinein trainieren." In diesem Zustand nehmen Sportler die Warnzeichen des Körpers nicht mehr wahr; sie können sie nicht mehr hören. ―Bei Sportsüchtigen drückt Sportpsychologe Jens Kleinert das so aus: "Der Sport beherrscht sie - und nicht sie den Sport."

Kurz vor dem Sturz zieht sie ihr Asthmaspray aus der Tasche

Barbara verliert am 23. August 2008 die Kontrolle über ihr Rennrad. Die Zuschauer vom Streckenrand sehen zu, wie sie kurz vor dem Sturz noch ihr Asthmaspray aus der Gesäßtasche zieht. Einsetzen kann sie es nicht mehr. Sie verliert das Bewusstsein; ihr ohnmächtiger Körper schlägt mit dem Kopf nach unten auf. Der Helm zerspringt in zwei Teile.

Wieder findet Angelika ihre Schwester im Krankenhaus. Den Sturz hat Barbara überlebt, doch weiter kann sie nur leben, solange die Beatmungsmaschine läuft. Dass ihr Genick gebrochen ist, erfährt Barbara von ihren Töchtern. Sie kann nicht mehr klettern, Rennrad fahren, rudern, tauchen - alles, was für sie Leben und Freiheit bedeutet hat, ist dahin. Eine Freiheit gibt es noch: In Kalifornien kann man zu diesem Zeitpunkt und unter diesen Bedingungen noch selbst entscheiden, ob man Sterbehilfe in Anspruch nimmt. Als Angelika ihre Schwester fragt, ob sie jetzt einschlafen möchte, blinzelt sie. Dann werden die Geräte abgestellt. Kurz darauf stirbt Barbara Warren.

Angelika Drake, heute 71, hat nach dem Tod ihrer Zwillingsschwester kein Rennen mehr bestritten. Ihr Trainingskollege Larry Pustinger, inzwischen 73, startet im November seinen letzten Versuch bei einem 100-Meilen-Lauf.

Alle Rausch-Geschichten lesen Sie in der Wochenend-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung oder in der digitalen Ausgabe.

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