Süddeutsche Zeitung

Extrembergsteigen am Watzmann:Keine schöne Aussicht

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Im Winter stürzte zum 99.Mal ein Bergsteiger in der Watzmann-Ostwand tödlich ab. Nun schweigt sich Berchtesgaden einem traurigen Jubiläum entgegen.

Peter Linden

Es war am Nachmittag des 27. Dezember 2007, da ging in der Rettungsleitstelle der Traunsteiner Bergwacht ein Notruf aus der Watzmann-Ostwand ein. Sekunden später vibrierten die Funkmeldeempfänger am Körper der fünf Männer, die in Berchtesgaden auf Bereitschaft waren. Ein paar Minuten darauf stieg der Rettungs-Helikopter auf, jagte über den Königssee nach St.Bartolomä und drehte scharf rechts ab in Richtung des Schneefelds, das die Einheimischen "Eiskapelle" nennen.

Kaum eine Viertelstunde war vergangen, als die Männer der Bergwacht am Unglücksort eintrafen, und doch kamen sie zu spät. Dort unten kauerten fünf deprimierte Tschechen im Schnee, und 200 Meter weiter unten, da lag ihr Freund Matej Bren. Da lag sein zerschmetterter Körper auf blankem Eis.

Hubert Heil, der 74-jährige ehemalige Polizist, hatte damals Dienst im Berchtesgadener Bergwachthaus, und als er über Funk die Nachrichten vom Fuß der Ostwand des Watzmanns vernahm, da wusste er: Der junge Tscheche war Nummer 99. Der 99. Mensch, den der Versuch, die höchste Felswand der Ostalpen zu durchklettern, das Leben gekostet hatte.

Zwei Tage später stellte Redakteur Ulli Kastner, 46, eine Nachricht in den Berchtesgadener Anzeiger, deren Überschrift so lapidar klang, wie Bergunfälle in Bayerns äußerstem Südosten nun mal aufgenommen werden: "Absturz in der Watzmann-Ostwand".

Bewusste Suche nach Todesnähe

Seither warten sie, und sie warten doch nicht: auf den einhundertsten Toten. Niemand, der offen darüber sprechen würde in Berchtesgaden. Niemand, der den Verdacht erwecken wollte, reißerisch eine Art schauriges Jubiläum vorzubereiten.

Doch Hubert Heil schwant: "Dass das einen Rummel gibt, werden wir wohl nicht unterbinden können". Der Bergführer Heinz Zembsch, der vor ein paar Tagen, den ehemaligen Fußball-Bundesliga-Schiedsrichter Markus Merk am Seil, seine 359.Begehung der Ostwand feierte, sagt nur: "Ich hoffe nicht, dass ich der 100. bin." Und Ulli Kastner, der Redakteur, hat den Text über das bevorstehende Unglück gar schon fertig in der Schublade. "Wir haben so viel Arbeit", sagt er und schämt sich fast, "wenn das passiert, dann müssen wir ausnahmsweise einmal schnell sein".

Die Watzmann-Ostwand. Ein Mythos, dem sich kein Berchtesgadener, kaum ein Kletterer und nur wenige Bergsteiger entziehen können. 2000 Meter Fels und Geröll, Eis und Schnee. Ein paar Verrückte schaffen das in zweieinhalb Stunden, gut trainierte Spezialisten in sechs Stunden. Für die anderen heißt es mindestens einmal übernachten, und wenn sie sich nicht verirren in der gewaltigen Wand mit ihren vielen Bändern und Rissen, dann tun sie dies in der roten Biwakschachtel auf 2300 Metern Höhe.

Es gibt Leute, sagt Bergwachtler Heil, die haben es darauf angelegt, mehrere Tage in der Wand zu bleiben. Andere, sagt Bergführer Zembsch, gehen bewusst bei schlechtesten Bedingungen. "Die suchen Todesnähe, um anschließend umso mehr das Leben zu genießen", vermutet Redakteur Kastner.

Angesichts 99Toter und der bangen Erwartung des 100.Absturzes könnte in Vergessenheit geraten, dass die Ostwand des Watzmanns für viele einfach eine großartige, hochalpine Erfahrung darstellt. Heinz Zembsch etwa hält mit seinen 65Jahren und 359Begehungen den Rekord und gilt unter Experten wahlweise als "Hausmeister" oder "König" der Ostwand.

Unwiderstehlicher Berg

Hubert Heil durchstieg die Wand erstmals vor fast 50Jahren und seither immer wieder. Ulli Kastner war 15 Mal in der Wand auf vier verschiedenen Routen. Selbst Berchtesgadens katholischer Pfarrer Peter Demmelmair, der pro Jahr ein Bergopfer auf seinem Friedhof beerdigt, konnte im vergangenen Sommer nicht mehr widerstehen: "Der Berg ist so markant, du siehst ihn ständig", schwärmt er und erzählt, wie er in seiner Phantasie manchmal die Wände der linken und der rechten Pyramide in den Himmel verlängerte, bis da ein 5000 Meter hoher Koloss stand.

"Stolz, Zufriedenheit, Dankbarkeit", habe er empfunden, als er den Gipfel erreicht hatte, erzählt der 48-Jährige. Was den möglichen 100. Absturz betrifft, sagt er nur: "Ich hoffe, dass niemand die Gefahr mutwillig sucht."

Schwer, die Gefahr nicht zu suchen, an einem Berg, der geradezu sinnbildlich steht für die Gefahren des Alpinismus. Was alles passieren kann, hat Hubert Heil mit Akribie festgehalten, der Mann, der in 50 Jahren Bergwacht irgendwann anfing, über alles Buch zu führen, was in den Berchtesgadener Alpen schief geht. Technisch, sagt er, sei die Ostwand ziemlich einfach, doch die Bedingungen seien härter als irgendwo sonst in den östlichen Alpen.

Plötzliche Lawinen und Gewitter

Da ist nicht nur eine Wand, die sich von der "Eiskapelle" fast zwei Kilometer bis hinauf zum 2713 Meter hohen Gipfel erstreckt. Sondern da sind auch die Lawinen, Schnee oder Stein, die jeden Moment ins Tal donnern können. Und da ist die Lage im Osten, von der Wetterseite abgewandt: Niemand kann sehen, wenn sich von Westen ein Gewitter nähert. Und wenn es da ist, ist es zu spät.

Wenn Hubert Heil und Heinz Zembsch gemeinsam am Fuß der Ostwand stehen, dann lesen sie in deren Furchen wie andere in Büchern. Für Zembsch, den Bergführer, ist die Wand ein Labyrinth aus Standardrouten, Nebenrouten und Sackgassen, aus Beinahe-Spazierwegen und ausgesetzten Kletterpassagen.

Für Heil, den Mann von der Bergwacht, ist es ein Mosaik von Absturzmöglichkeiten und Einsatzorten, eine Serie von Erinnerungen an Überlebende und Tote, an Momente großen Glücks und schieren Entsetzens. Vielleicht hilft ihm seine Statistik, den Anblick von 30 Toten zu verarbeiten, die er persönlich aus der Wand geholt hat. Vielleicht hilft es ihm, dass er belegen kann, dass es die meisten an Schöllhornplatte und Schöllhornkar erwischt, genau da, wo im Mai 1890 der Münchner Christian Schöllhorn zusammen mit seinem Bergführer als erster Mensch ins Tal stürzte.

Vielleicht hilft es ihm, dass er persönlich bestimmt, wer überhaupt als Ostwand-Toter gelten darf. Nämlich nur, "wer bei der Durchsteigung der Ostwand oder an den Folgen einer Durchsteigung" ums Leben kommt. Vielleicht.

Mit den Toten leben

Heinz Zembsch dagegen helfen seine Begehungen, die 360., die 361., bald wird er 400 Mal durch die Wand geklettert sein. Sie helfen ihm zu verdrängen, dass sein eigener Sohn, Christoph, im Mai 2006 an der Ortler-Nordwand in Südtirol unter einer Eislawine starb. "Für die Mutter ist das ganz schlimm", sagt Heinz Zembsch, "daheim brennt immer ein Licht, und ein Bild ist da".

Dann wundert er sich noch, dass Christoph sein letztes Foto ausgerechnet vom Einstieg in die Wand gemacht hat. "Sowas hat er sonst nie gemacht", sagt Heinz Zembsch. Kurz darauf ist er wieder in der Gegenwart und erzählt von einem Geistlichen, den er in der Ostwand ohne Helm antraf. "Der hat gerufen: Mir als Pfarrer wird schon nichts passieren. Dann habe ich geantwortet: Da wäre ich mir nicht so sicher!"

Auf der Kühroint-Alm, hoch über dem Königssee und vor prächtiger Watzmann-Kulisse gelegen, haben sie im Jahr 2000 die Bergopfer-Gedenkkapelle St. Bernhard eingeweiht. Dort sind auf Messingtafeln all die Todesfälle eingraviert, die Hubert Heil in seiner Akribie erfasst hat: links die Bergtoten allgemein, rechts, gesondert, jene 99 aus der Watzmann-Ostwand. Am 4. Oktober wird dort oben der jährliche Gedenkgottesdienst gefeiert.

Pfarrer Peter Demmelmair wird die Predigt halten und vielleicht wird er darüber sprechen, dass so viele einfach nicht loskommen von der Faszination der Felsen. Darüber, wie oft er von Hinterbliebenen diesen Satz gehört hat: "Ich glaube, er hat da hin müssen, der Bub!" Dann werden sie gedenken und beten, dass möglichst viele Jahre vergehen bis zum nächsten Absturz.

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Quelle:
SZ vom 07.08.2008
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