Vor allem beim ersten Kind ist es für Mütter eine ungewohnte Situation, ihr Kind vor aller Augen zu stillen. Hebamme Regine Gresens weiß, wie Frauen das Baby ganz beiläufig anlegen und sich vor unangenehmen Blicken schützen können.
SZ: Frau Gresens, muss es Müttern unangenehm sein, in der Öffentlichkeit zu stillen?
Regine Gresens: Nein, auf keinen Fall! Stillen ist ja die normale Babyernährung und Stillkinder bekommen auch unterwegs Appettit - warum sollten sie dann hungern? Wir verstecken uns ja auch nicht, wenn wir essen.
Warum ist es manchen Frauen dennoch peinlich?
In Deutschland ist man leider nicht so stillfreundlich und überhaupt baby- und mütterfreundlich, wie man das von einer zivilisierten Gesellschaft erwarten sollte. Es gibt eine Doppelmoral: Zum einen wird das Stillen als das Beste und Gesündeste für das Kind gepriesen. Dennoch wird Müttern, die öffentlich stillen, oft das Leben schwergemacht. Bei kleinen Babys wird das zwar oft noch freundlich akzeptiert, doch je älter das Kind, desto kritischer die Blicke und Kommentare.
Dabei sollten die meisten an den Anblick von nackten Brüsten gewöhnt sein, schließlich sieht man sie überall, sogar überlebensgroß auf der Plakatwand ...
Weibliche Brüste spielen bei uns tatsächlich eine große Rolle, allerdings nie in ihrer Funktion als Nahrungsquelle für die Babys. Sie werden allein mit Sex und auch Pornographie assoziiert. Da bekommen in der Öffentlichkeit stillende Mütter dann zu hören, das sei "eklig, obszön und abstoßend".
Wie sollten Mütter auf solche Anfeindungen reagieren?
Das muss jede für sich selbst entscheiden, vielleicht auch je nach Situation und Gemütslage. Allerdings sollte sich keine davon beeindrucken lassen. Mütter können sich gegenseitig darin bestärken, dass Stillen das natürlichste auf der Welt ist. Es muss in der Öffentlichkeit wieder ein normaler Anblick werden. Außerdem müssen sich die Frauen dafür ja nicht völlig entblößen, wenn sie diskret stillen, sieht man überhaupt nicht viel von der Brust.
Verraten Sie ein paar Tipps?
Ein hochgeschlossenes Kleid ist natürlich nicht geeignet, eher Blusen und T-Shirts oder spezielle Still-Kleidung mit Öffnungen und seitlichen Schlitzen. Und das Baby liegt dann sowieso vor der Brust, so dass diese nur kurz beim Anlegen zu sehen ist. Wer will, setzt sich seitlich vor eine Wand oder in eine Ecke, schützt sich mit einer Jacke vor schrägen Blicken von der Seite oder legt einen leichten Schal oder ein Tuch über Brust und Baby. Das können Mütter daheim vor dem Spiegel oder mit ihrem Partner üben, damit sie sich auch unterwegs damit wohl fühlen - und das Kind auch. Aber wir müssen uns hier keinen Umhang wie in den USA überwerfen, so dass weder Kind noch Brust zu sehen sind. Allein schon deshalb, weil das so auffällig ist, dass dann garantiert jeder hinstarrt.
Können Mütter im Restaurant zum Stillen am Tisch sitzen bleiben oder sollten sie sich lieber eine ruhige Ecke suchen?
Wer sich dann wohler fühlt, setzt sich woanders hin - wird aber dadurch erst recht Aufmerksamkeit erregen. Am Tisch hingegen kann das Stillen ganz nebenbei ablaufen. Vor allem, wenn die Mutter schon auf die ersten Hungerzeichen des Babys, wie zum Beispiel Schmatzen oder Suchen, reagiert und es zügig anlegt, geschieht das alles beiläufig und fällt niemandem groß auf. Wenn aber das Baby erst einmal schreit und die Mutter dann auch noch einen freien Tisch sucht, um dort zu stillen, schaut natürlich jeder. Trotzdem würde es einem Restaurant-Besitzer niemals einfallen, eine Mutter hinauszuschicken, die ihrem Kind das Fläschchen gibt. Bei stillenden Müttern kommt das leider immer wieder mal vor.
Und wohin sollen Mutter und Kind dann ausweichen?
Wenn überhaupt Stillgelegenheiten angeboten werden, handelt es sich oft um unbequeme Stühle in Vorräumen von Toiletten oder im Wickelraum. Das ist nicht nur wegen des Geruchs kaum auszuhalten, sondern auch unhygienisch. Und diese Diskriminierung sollten die Mütter auch nicht hinnehmen.
Wie wirken sich solche negativen Erfahrungen aus?
Leider stillen manche Frauen deswegen sogar ab. Diesen und auch Müttern, die sich scheuen, in der Öffentlichkeit zu stillen, empfehle ich, sich anfangs bewusst an Orte zu begeben, wo Stillen erlaubt und selbstverständlich ist, zum Beispiel in Stillgruppen oder Rückbildungskursen. Dort könnten sie Hemmungen abbauen und sich Rückenstärkung holen.
Trotzdem ist es etwas anderes, unter Frauen zu stillen als etwa im Restaurant ...
Was schade ist, denn es sollte ja als das wahrgenommen werden, was es ist: die natürliche Ernährung eines Kindes. Wenn eine Frau aber überhaupt nicht in der Öffentlichkeit die Brust geben möchte, wäre es besser, sie pumpt für diese Situationen vorher ab, als dass sie deswegen gänzlich abstillt. Allerdings ist das Pumpen sehr aufwändig und das Flaschegeben muss vorher geübt werden, um das Kind an den Sauger zu gewöhnen. Die Milch in der Brust ist hingegen immer wohltemperiert und steht ausreichend zur Verfügung. Das ist einfach praktischer und entspannter.
Vielleicht reicht es manchen Frauen schon, so wenig wie möglich in der Öffentlichkeit zu stillen?
Das können Mütter durchaus planen, sie kennen ja in etwa den Stillrhythmus ihres Kindes. Und nach Bedarf zu stillen bedeutet auch, nach dem Bedarf der Mutter. Es spricht absolut nichts dagegen, dem Kind vor dem Verlassen der Wohnung nochmals die Brust zu geben, obwohl sein Hunger noch nicht so groß ist. Dann hält es oft zwei oder drei Stunden durch, bis die Mutter wieder in einem geschützten Raum ist. Und wer will schon zum Beispiel draußen in der Kälte stillen? Außerdem kann man sich Fixpunkte aussuchen, etwa Leseecken in Buchhandlungen oder - wer fremden Blicken ganz entgehen will - auch Umkleidekabinen in Kaufhäusern. Manche Geschäfte haben sogar Aufkleber an der Tür: "zum Stillen willkommen" mit dem Piktogramm einer stillenden Mutter. Aber auch in anderen Läden, Kaufhäusern oder Cafés sollten Mütter willkommen sein. Eigentlich.
Nun wird das Stillen kleiner Babys oft noch akzeptiert, schwieriger wird es für manche, wenn ein einjähriges Kind an die Brust will.
Manche Mütter sind dann aber so gut informiert und selbstbewusst, dass sie sagen: Das ist immer noch die gesündeste Nahrungsergänzung für mein Kind. Außerdem geht das Abstillen auch nach sechs Monaten nicht von einem Tag auf den anderen, die Mahlzeiten werden erst nach und nach durch Beikost ersetzt. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt sogar, bis ins zweite Lebensjahr und darüber hinaus neben der Beikost solange weiter zu stillen, wie Mutter und Kind es möchten. Manche Frauen stillen ihr älteres Kind nur noch zuhause, um kritische Blicken oder Diskussionen zu vermeiden, was schade ist. Aber bei älteren Kindern ist die Muttermilch nicht mehr die alleinige Nahrung, da kann man also manchmal auch eine Banane oder ein Brot reichen. Oft wollen die älteren Kinder auch nicht nur an die Brust, weil sie Hunger haben, sondern weil sie die Nähe und die Sicherheit der Mutter in diesem Moment brauchen. So wie sich Erwachsene in den Arm nehmen. Und das ist ja auch etwas Schönes.
Regine Gresens ist Beauftragte für Stillen und Ernährung beim Deutschen Hebammenverband und berät zudem in ihrer Hamburger Praxis bei schwierigen Stillsituationen und Problemen mit dem Baby. Seit sie vor 19 Jahren ihren eigenen Sohn "lange und gerne" gestillt hat, setzt sie sich dafür ein, dass es stillende Mütter künftig leichter haben. Umso begeisterter ist sie von der Initiative von Viechtach im Bayerischen Wald: Viechtach hat sich zur stillfreundlichen Stadt ausgerufen, mehr als 40 Geschäfte heißen Mütter ganz offiziell "zum Stillen willkommen".