Expertentipps zur Erziehung:"Eltern müssen Risiken immer neu einschätzen"

Kind klettert auf Baum

Mit einem "Vorsicht, du fällst runter!" helfen Eltern ihrem Kind in einer solchen Situation nicht weiter

(Foto: kallejipp / photocase.com)

Beim Laufenlernen stoßen sich Kinder an Tischkanten, später stürzen sie beim Klettern von Bäumen. Vor diesen Gefahren würden Eltern ihre Kinder gerne schützen. Warum Mütter und Väter ihre Vorsichtsmaßnahmen dennoch kritisch prüfen sollten und wie sie im Notfall Ruhe bewahren, erklärt Ursula Sottong, Expertin für Kindersicherheit.

Von Katja Schnitzler

Messer, Schere, Licht, sind für Kinder nicht - so hieß es früher. Doch ab einem gewissen Alter sollten Kinder auch mit Messern und mit Scheren schneiden können. Eltern stehen immer wieder vor der Frage: Muss ich nun eingreifen oder kann ich das Kind seine Erfahrung machen lassen? Und wie leite ich es dabei richtig an? Ursula Sottong ist Ärztin bei den Maltesern und unter anderem Expertin für Kindersicherheit. Sie gibt Tipps, wie Kinder ohne Gefahr Erfahrungen sammeln können, wann Eltern vorsorgen müssen und wie sie sich im Notfall verhalten sollten.

SZ.de: Türgriffe und Tischkanten sind gepolstert und am liebsten würden Eltern gerade ihre Erstgeborenen in Watte packen, um sie zu schützen. Wie sinnvoll ist dieser Versuch der Rundum-Sicherung?

Ursula Sottong: Das hängt grundsätzlich davon ab, in welchem Alter das Kind ist, was es schon leisten und verstehen kann. Lernt es gerade erst laufen, kann es nur geradeaus nach vorne stolpern und sich kaum abfangen. In dieser Phase ist es durchaus sinnvoll, bewusst durch die Wohnung zu gehen und gefährliche Ecken zu entschärfen. Nur kann man diese Sicherungen wieder zurückbauen, wenn das Kind motorisch weiter ist. Das Leben ist voller Risiken, Eltern können sie in den jeweiligen Entwicklungsphasen reduzieren, aber nie ganz vermeiden.

Woher wissen Eltern, was sie ihren Kindern schon zutrauen können?

Auf der einen Seite sind manche Eltern überbesorgt und unterschätzen das Können ihrer Kinder. Auf der anderen Seite gibt es aber Mütter und Väter, die sich aus der Verantwortung stehlen und zum Kind sagen: "Du wirst schon sehen, was du davon hast", zum Beispiel wenn es anfängt, erste Kletterversuche auf dem Sofa zu erproben. Doch bei Kleinkindern ist es die Aufgabe der Eltern, Risiken richtig einzuschätzen. Kinder wollen alles ausprobieren und das ist wunderbar so. Also sollten sich Eltern etwa in Fachbüchern informieren, was ihr Kind in welcher Entwicklungsphase schon kann. Und ihm dann helfen, Herausforderungen sicher zu bewältigen. Wenn es also auf das Sofa oder später auf den Baum geklettert ist, sollten es Eltern für seinen Mut loben - und ihm dann zeigen, wie es wieder herunterkommt. Zum Beispiel von der Couch am besten rückwärts, die Treppe erst sitzend und dann immer mit einer Hand am Geländer. Das lässt das Kind selbständig werden und vermittelt ihm zugleich Sicherheit und Selbstbewusstsein.

Doch manche Sachen sind zu gefährlich, um sie Kinder ausprobieren zu lassen ...

Da muss es ganz klare Gebote und Verbote geben, zum Beispiel im Straßenverkehr. Einen Zweijährigen muss ich da eben an die Hand nehmen und einem älteren Kind klarmachen, dass es nicht auf die Straße rennen darf. Eltern sollten brenzlige Situationen bewusst ansprechen und sogar üben. Etwa dass das Kind auch dann nicht auf die Straße hüpfen darf, wenn die Oma auf der anderen Straßenseite steht. Das sind keine Einschränkungen, sondern ein klarer Rahmen für das Kind, so dass es sich sicher bewegen kann. Denn trotz aller Kindersicherungen im Haus muss irgendwann der adäquate Umgang mit den Gefahrenquellen gelernt werden.

Wann können Eltern damit beginnen?

Das sollten sie ständig machen, aber altersgerecht. Steckdosen sollten gesichert sein, trotzdem muss das Spielen damit klar verboten werden. Schließlich treffen Kinder woanders auf ungesicherte Stromquellen. Und irgendwann wollen Kinder auch mal den Staubsauger einstecken. Da müssen die Eltern klarmachen, dass die Kleinen das nur dürfen, wenn die Eltern es erlauben und dabei sind. Und dass nur der Stecker, aber nichts anderes in die Steckdose darf. Während beim Zweijährigen die Gefahr noch groß ist, dass er trotzdem anderes hineinstochern will, ist bei Schulkindern die Einsicht eine ganz andere. Mit diesen können Eltern unter Anleitung schon kochen, während sie bei Kleinkindern immer auf den hinteren Herdplatten Wasser und Fett erhitzen und Pfannenstiele nach hinten drehen sollten. Das ist für sie kein Aufwand, aber ein enormer Sicherheitsgewinn für ihre Kinder.

Wie verhalten sich Eltern im Notfall richtig?

Wie reagieren Eltern richtig, wenn doch mal etwas passiert?

Es ist schwierig, aber bitte bewahren Sie Ruhe. Das große Zittern können Sie bekommen, wenn das Kind versorgt ist. Und wenn Sie unbedingt schimpfen müssen, verkneifen Sie es sich bis dahin. Die Eltern sind aufgelöst, aber das Kind ja auch. Wer erwachsen ist, sollte sich auch so verhalten und dem Kind möglichst viel Ruhe vermitteln. Dazu trägt bei, wenn man dem Kind genau erklärt, was man macht: "Den Verband müssen wir jetzt ein wenig fester machen, dann hört es auf zu bluten. Und dann gehen wir zum Arzt, weil der deine Wunde noch besser versorgen kann als ich."

Aber gerade wenn es ums eigene Kind geht, fällt das Ruhigbleiben schwer. Wie schaffen Eltern das?

Jeder bleibt auch in Stresssituationen gefasster, wenn er weiß, was zu tun ist. Das vermitteln Erste-Hilfe-Kurse für Babys und Kinder. Auch sollte man die wichtigsten Telefonnummern, etwa vom Notarzt oder Giftnotruf im Handy haben - dem kann man dann auch Fotos von den Beeren schicken, die das Kind gerade gegessen hat. Eltern können zudem immer eine kleine Notfallausrüstung mitnehmen. Als meine Kinder klein waren, hatte ich immer Pflaster und ein gebügeltes Stofftaschentuch dabei. Wer schon mal eine Wunde mit Papiertaschentüchern versorgen wollte, weiß das zu schätzen.

Und diese Vorbereitung beruhigt?

Ja, und sie hilft, nicht in Panik zu geraten. Auch sollte man immer schrittweise vorgehen: Was ist als Nächstes am Wichtigsten? Das gilt auch, wenn sich ein Kind gerade in einer gefährlichen Situation befindet. Wenn es oben auf dem Baum auf knackenden, dünnen Ästen steht, hilft es ihm nicht, wenn die Eltern unten schreien: "Vorsicht, du fällst runter!" Da müssen die Eltern ihm genau sagen, was es konkret zu tun hat: "Steig mit dem linken Fuß auf den dicken Ast unter dir." Oder auch: "Bleib sitzen. Ich hol dich herunter." Und wenn ein Kleinkind plötzlich mit dem scharfem Fleischermesser durch die Wohnung saust, ist es am wichtigsten, ihm das ruhig und ohne Verfolgungsjagd abzunehmen. Und sich dann zu überlegen, wie es überhaupt da drankommen konnte.

Manche Eltern lassen aus lauter Vorsicht gleich gar kein Klettern auf dem Baum zu. Wie können Eltern erkennen, dass sie ihr Kind überbehüten?

Früher waren viel mehr Kinder im gleichen Alter im direkten Umfeld unterwegs, da konnte man auch sehen, was sie können und dürfen. Heute sammeln Eltern etwa in Krabbelgruppen diese Erfahrungen. Allerdings sollten sie stets sehen, dass Kinder sich unterschiedlich schnell entwickeln. Manche Kinder laufen schon mit zehn Monaten, andere sind erst mit eineinhalb Jahren so weit. Eltern sind oft überrascht, was ihr Kind in der Tagesstätte schon darf und kann. Und die motorischen Fähigkeiten entwickeln sich im Alltag ständig weiter.

Wie können Eltern die Motorik fördern?

Nicht durch Übungen, sondern indem sie Bewegungs- und Erfahrungsräume anbieten, zum Beispiel beim Kinderturnen oder im Freien, auch bei Regen. Und sie sollten Lernen zulassen, etwa selbständiges Treppensteigen oder Streichen des Brotes. Das wird nicht gleich klappen, die Butter wird an einer Stelle zentimeterdick sein und Marmelade auf dem Tisch landen. Aber nur so lernt das Kind den Umgang mit dem Messer. Wichtig ist, dass Eltern Freude an den Fortschritten ihres Kindes haben. Und dafür auch mal eine vollgekleckerte Tischdecke in Kauf nehmen.

Ursula Sottong leitet die Abteilung Gesundheitsförderung und Prävention bei den Maltesern und ist Mitautorin von "Das Kinder-Sicherheitsbuch. Zuhause und unterwegs - Gefahren erkennen und gezielt vorbeugen". Die Malteser bieten wie andere Hilfsdienste und oft auch Kinderärzte Erste-Hilfe-Kurse speziell für Kindernotfälle an.

Wenn aus Paaren Eltern werden, sehen sie die Welt mit anderen Augen: Plötzlich lauern überall Fallen, in die ihr Kind tappen kann. Tischkanten werden zur Gefahr und Rutschen zum riskanten Hindernis. Angesichts des ständigen Risikos ist es unerklärlich, wie da manche anderen Eltern völlig ruhig bleiben können. Die Erziehungs-Kolumne.

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