Während man versucht, dem eigenen Kind die Grundlagen des friedlichen sozialen Miteinanders und ein Mindestmaß an Manieren zu vermitteln, scheinen manch andere Kinder diese gar nicht zu kennen - oder sie zu ignorieren. Doch dürfen Eltern auch fremde Kinder erziehen? Der Psychologe Hermann Scheuerer-Englisch findet schon - allerdings komme es dabei auf das Wie an.
SZ.de: Ob auf dem Spielplatz oder im Supermarkt: Sollten sich Eltern einmischen, wenn sich andere Kinder völlig danebenbenehmen?
Hermann Scheuerer-Englisch: Ja, in gewisser Hinsicht dürfen Sie auch fremde Kinder erziehen. Schließlich haben Erwachsene immer eine Vorbildfunktion und tragen zumindest teilweise eine öffentliche Erziehungsverantwortung. Es kommt jedoch darauf an, wo sich die fremden Kinder schlecht benehmen. Sind sie zu Besuch im eigenen Haus, ist die Lage klar.
Dann dürfen wir ungeniert fremderziehen?
Das jetzt nicht unbedingt, dennoch haben Eltern das "Hausrecht" und sollten ihre eigenen Regeln verteidigen, die wiederum auf den Grundlagen des sozialen Miteinanders basieren: Du sollst nicht ausgrenzen und nicht schlagen - und ihr sollt gemeinsam auf eine Lösung kommen. Wenn das den Kindern schwerfällt, helfen die Eltern dabei. Bis zum Alter von etwa vier Jahren kommen die Kleinen manchmal einfach auf keine mögliche Lösung, selbst Grundschülern fällt das oft noch schwer. Da zerrt der eine das Spielzeug in seine Richtung, der andere ebenfalls.
Und wie sieht es mit dem Fremderziehen in der Öffentlichkeit aus, zum Beispiel auf dem Spielplatz?
Da geht es meist um offensichtliche Egoismen der Kinder, zum Beispiel wenn eines ewig die Schaukel belegt, obwohl das eigene Kind daneben wartet. Da kann man seinem Kind helfen und sagen: "Jetzt wartest du noch ein paar Minuten und dann gehen wir hin und fragen, ob du auch darfst." In der Regel lassen sich die fremden Kinder darauf ein. Problematisch wird es, wenn der Beschützerinstinkt der Eltern erwacht.
Welchen Fehler machen sie dann?
Viele reagieren rein aus ihrem Gefühl heraus und beschimpfen lautstark das fremde Kind: "Du spinnst wohl, warum haust du mein Kind?" Das ist für das andere Kind zu massiv und wirkt geradezu bedrohlich. Das ruft auch die fremden Eltern auf den Plan, die wiederum ihr Kind beschützen wollen. Besser wäre es, möglichst sachlich und mit positiver Botschaft dazwischenzugehen und allgemeine Regeln in den Vordergrund zu stellen: "Ich mag nicht, dass sich Kinder schlagen und eines dem anderen wehtut. Es ist schöner, wenn Kinder gut miteinander spielen und sich abwechseln." So bekommt das fremde Kind Rückmeldung auf sein Verhalten, ohne sich angegriffen zu fühlen.
Dennoch reagieren viele Eltern gereizt, wenn Fremde ihre Kinder erziehen. Dabei könnten sie doch froh über die Unterstützung sein?
Das Problem dabei ist: Entweder sie sehen ihr Kind bedroht und wollen es verteidigen. Oder sie fühlen sich selbst in ihrem Erziehungsstil kritisiert. Mit manchen kann man leider nicht vernünftig reden. Wenn es Eltern auch noch gut finden, dass ihr Kind sich auch mit Gewalt durchsetzt und zum Beispiel mit der Schaufel haut, macht ein Streit mit diesen Leuten keinen Sinn. Da geht man lieber an die andere Ecke vom Spielplatz.
Kommt das beim eigenen Kind nicht so an, als ob der Brutalere recht behält?
Man kann sich ja selbstbewusst zurückziehen, das ist ganz wichtig: Dafür erklärt man seinem Kind, dass man weder das Verhalten des fremden Kindes noch den Standpunkt der anderen Eltern gut findet und mit jemandem, der schlägt, kein sinnvolles Spielen möglich ist. So erlebt das Kind, dass seine Mutter oder sein Vater ihre sinnvollen Standpunkte vertreten.
Wie verhält man sich selbst richtig, wenn das eigene Kind fremderzogen wird?
Wenn die fremde Person recht und das Kind nicht geängstigt hat, stimmen Sie ruhig zu: "Das hätte ich auch zu dir gesagt." Bei unangemessenem Verhalten des Fremden würde ich zunächst mein Kind schützen und einen anderen Umgangston einfordern. Dann ist immer noch Gelegenheit, über das zu sprechen, was das Kind gemacht hat. Bleibt der Fremde uneinsichtig, kann man dem Kind durchaus zeigen, dass man das auch nicht in Ordnung findet.
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Auch der Nachwuchs von Freunden und Verwandten fällt bisweilen aus der Rolle. Sollte da eher das Kind angesprochen werden - oder die Eltern?
Wenn Sie die Eltern kennen, sollten Sie sie auch ansprechen - natürlich nicht moralisierend, abwertend oder vorschreibend, sonst kommt man nicht weit. Wenn die anderen Kinder oft da sind, können Sie sich die Erlaubnis der Bekannten holen, mit zu erziehen - schließlich haben Sie viel Kontakt zu den Kindern. Außerdem können sie klar über eigene Erziehungsgrundsätze sprechen und so ihre Position verdeutlichen.
Und das negative Verhalten des anderen Kindes ignorieren?
Das nicht, vor allem nicht, wenn es das eigene Kind in Mitleidenschaft zieht. Ansonsten können Eltern praktische Lösungen finden, ohne dass das Kind den Freund verliert. Wenn dieser etwa daheim den ganzen Nachmittag am Computer spielen darf, begrenzt man eben für das eigene Kind die Zeit des Besuchs dort. Nicht alles lässt sich regeln, manchmal haben die Elternpaare dann eben weniger Kontakt. Eltern sollten es durchaus auch mal aushalten können, dass ihr Kind mit einem anderen befreundet ist, das völlig anders erzogen wird.
Was haben die Kinder davon, den Kontakt zu halten?
Sie lernen viel über die soziale Vielfalt im Leben und machen ganz andere Erfahrungen als zu Hause. So wird ihnen bewusst, was in ihrer eigenen Familie gut läuft.
Und was lernen fremde Kinder, wenn sie kritische Rückmeldung auch von anderen Personen als ihren Eltern oder Erziehern bekommen?
Dass es in der Erwachsenenwelt wichtige Regeln gibt - und es nicht ignoriert wird, wenn sie diese überschreiten: Es wird nicht beschimpft, nicht gekränkt, nicht geschlagen und es werden keine Dinge genommen, die einem nicht gehören. Leider treten viele Erwachsene Kindern gegenüber dabei oft sehr bedrohlich und kinderfeindlich auf: "Ihr dürft hier nicht spielen! Weg hier!" Da lernen sie natürlich nicht viel.
Mischen Sie selbst sich öfter ein?
Ja, durchaus. Viele Kinder schauen dann ganz erstaunt und ich sehe, wie sie anfangen, über ihr Verhalten nachzudenken. Manche aber sind nur frech, die haben in ihrer bisherigen Entwicklung gelernt, dass man anderen keinen Respekt entgegenbringen muss. Da kann man nicht in einer Minute eine jahrelange falsche Erziehung wiedergutmachen. Aber oft bewirkt man schon etwas. Einmal schrie mich ein Kind aus einer Gruppe Grundschüler an: "Ich werfe dich vom Rad!" und sprang fast davor. Ich war sehr erschrocken, kehrte um und fragte, wer von ihnen das war. Der Anführer deutet auf den Jüngsten, der Angst bekam und weinend davonlief. Die anderen guckten betreten und einer gestand schließlich, dass es ja der Rädelsführer selbst gewesen war. Ich sagte ihnen, dass sie doch gemeinsam unterwegs seien und ich es nicht gut fände, wie sie miteinander umgehen. Da rannten sie hinter dem Kleinen her und holten ihn zurück. So etwas kann für ein Kind eine Erfahrung fürs Leben sein.
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Der Psychologe und Familientherapeut Dr. Hermann Scheuerer-Englisch ist Leiter der Erziehungsberatung der KJF in Regensburg und hat zahlreiche Bücher zu den Themen Erziehung, Bindung und Entwicklungspsychologie verfasst.