Expertentipps zur Erziehung:"Alle Eltern haben ein Lieblingskind"

Mit dem Geschwisterkind kommt die Eifersucht - und der Verdacht, Mutter oder Vater könnten die Schwester oder den Bruder bevorzugen. Oft stimmt das auch. Erziehungsberater Joachim Armbrust erklärt, warum Eltern das sogar zugeben sollten.

Katja Schnitzler

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Und wieder fühlt sich ein Kind ausgeschlossen: Eifersucht unter Geschwistern können selbst die gerechtesten Eltern nicht verhindern.

(Foto: Count*0 / photocase.com)

Viele Eltern haben das Gefühl, ihre Kinder können nicht wirklich miteinander, aber ohne einander auch nicht. Und ständig wird misstrauisch verglichen: Wie lange kuschelt der eine mit der Mutter, wie groß ist die Portion vom Lieblingsessen für den anderen? Der Sozialpädagoge Joachim Armbrust erklärt, wann Eltern bei Eifersucht unter Geschwistern einschreiten sollen und warum diese den Kindern sogar dabei hilft, sich weiterzuentwickeln.

Süddeutsche.de: Kann es Geschwister geben, die nicht eifersüchtig aufeinander sind?

Joachim Armbrust: Nein, dieses Gefühl ist immer da. Studien haben ergeben, dass die größte Angst eines Kindes ist, seine Eltern zu verlieren. Am zweitgrößten ist die Angst, dass keine Liebe mehr auf sie fällt. Also wird eifersüchtig beobachtet, wie Mutter und Vater mit dem Geschwisterkind umgehen - und heftig um die Liebe der Eltern gestritten.

Was löst diesen Streit aus?

Für das Gefühl, dass Bruder oder Schwester bevorzugt werden, genügen schon Kleinigkeiten: scheinbar größere Geschenke, mehr Aufmerksamkeit oder der andere bekommt immer die Suppe zuerst. Eltern denken, dass sie durch gerechtes Handeln Eifersucht vermeiden können. Aber da irren sie sich.

Wieso?

Weil sie zu jedem Kind eine andere Bindung haben. Eltern sehen in ihren Kindern unterschiedliche Typen, die ihnen mal näher sind, mal weniger nah: Die schüchterne Mutter erkennt sich selbst in der zurückhaltenden Tochter wieder, die draufgängerische Ältere ist ihr vom Wesen her fremder.

Also haben Eltern doch Lieblingskinder?

Ja, sie können gar nicht anders. Das kann zwar situationsabhängig sein, etwa wenn man mit dem mutigen Kind im Schwimmbad mehr Spaß hat als mit dem ängstlichen. Oft ist es aber grundsätzlich, weil Eltern bei jeder Tochter und jedem Sohn einen anderen Zugang haben. Und manchmal eine ganz besondere Verbindung, etwa weil sie sich eben vom Charakter her ähnlich sind. Oder weil sie bei der Geburt um das Überleben des Kindes ringen mussten, es im Brutkasten war. So etwas prägt die Beziehung, und das merken auch die anderen Kinder.

Und klagen: Du hast meinen Bruder lieber als mich. Wie reagieren Eltern darauf?

Sie dürfen es nicht leugnen, nicht einfach darüber hinweggehen und sagen: "Da irrst du dich, natürlich habe ich euch gleich lieb!" Denn das andere Kind merkt ja den Unterschied.

Gipfel der Eifersucht: ein Baby

Aber Eltern können doch nicht sagen: "Tut uns leid, da hast du eben Pech gehabt."

Bloß nicht! Aber sie sollten dem Kind erklären, woher die enge Bindung kommt: "Ich hatte bei der Geburt viel Angst um deinen Bruder, deswegen achte ich noch heute sehr auf ihn. Aber auf dich passe ich auch auf, habe aber das Gefühl, dass du viel mehr alleine schaffst." Wichtig ist, dem Kind zu zeigen: Du bist genauso wertvoll für mich, auch wenn ich anders mit dir umgehe.

Wie zeigt sich das im Alltag?

Dem Draufgänger muss ich viel verbieten, einem vorsichtigen Kind kann ich mehr erlauben. Eine Tochter hebt ihre Süßigkeiten wochenlang auf, die andere verschlingt alles sogleich und muss eher gebremst werden. Geschwister sind so verschieden, dass Eltern unterschiedlich mit ihnen umgehen müssen. Aber das sollten sie auch erklären und hervorheben, was jedes Kind besonders macht. Diese Unterschiedlichkeit wollen Kinder erkennen, so erfahren sie auch, wer sie selbst sind. Und ihnen muss immer deutlich vermittelt werden, dass sie ihren Platz in der Familie haben.

Kritisch wird es, wenn die Eltern noch ein Baby bekommen ...

Ein Kind kann sich gar nicht vorstellen, wie die Beziehung zu diesem neuen Geschwisterchen aussehen könnte. Oft versprechen die Eltern, dass die Kinder einmal miteinander spielen können. Dass dies Jahre dauern kann, versteht ein kleines Kind nicht. Und dann liegt da ein Baby herum, schreit und fordert die Aufmerksamkeit der Eltern - was für eine Enttäuschung. Also sollten Mütter und Väter nur realitätsnahe Versprechungen machen und schildern, wie es sein wird: Dass das Baby sie mehr braucht, weil es noch nicht so viel kann wie das große Kind. Dieses darf aber helfen, es zu versorgen.

Aber wenn das Baby da ist, werden viele Geschwister neidisch auf die Nähe zur Mutter. Wie können Eltern die Situation entspannen?

Da muss man die Kinder schon verstehen: Sie kommen in ein Mehrbettzimmer im Krankenhaus und müssen sich ruhig verhalten wie ein Erwachsener, während das Baby im Bett bei der Mutter kuscheln darf. Hier sind Gesten wichtig, die dem Älteren zeigen: Du hast noch einen Platz. Dann darf er eben kurz mit unter die Decke schlüpfen. Und wenn das Baby daheim gestillt wird, kann sich die Mutter mit den älteren Geschwistern gemeinsam Lieder anhören oder vielleicht vorlesen. Hauptsache sie vermittelt, dass die anderen Kinder weiterhin wichtig sind. Auch auf das Umfeld können Eltern einwirken, wenn Omas und Opas nur noch das Neugeborene beachten. Allerdings gehört Eifersucht dazu: Kinder lernen zu teilen, fühlen sich mal zurückgesetzt, aber auch mal im Vordergrund und können so unterschiedliche Rollen ausprobieren. Mal sind sie hilfsbereit, mal aggressiv, mal großzügig, mal neidisch - und sie erleben, wie das kindliche Gegenüber reagiert. Eine wichtige Erfahrung.

Hört die Eifersucht jemals auf?

Wie stark sollten Eltern bei Streit aus Eifersucht eingreifen?

Natürlich wenn ein Kind dem anderen wehtut, aber auch, wenn sich eines sehr benachteiligt fühlt. Dann müssen sich Mütter und Väter fragen, was sie dazu beigetragen haben und wie sie dieses Kind wieder mit einbinden, ihm wieder seinen Platz in der Familie verschaffen. Manchmal schiebt man ein Kind aus Stress immer weg, vertröstet es auf später und löst das nie ein. Also muss man sich selbst Verschnaufpausen gönnen, um einem Kind wieder positiv zu begegnen. Dazu gehört, dass der Partner Zeit nur mit den "Großen" verbringt. Und auch den Geschwistern sollte man die Möglichkeit geben, eine eigene Beziehung zu entwickeln. So können die Älteren beim Spazierengehen ruhig mal den Kinderwagen und damit ein wenig Verantwortung übernehmen.

Bei Patchwork-Familien treffen Kinder aufeinander, die sich plötzlich als Geschwister fühlen sollen. Da ist doch die Eifersucht noch viel größer?

Das ist sehr schwierig und mit ein Grund, warum 70 Prozent der Patchwork-Familien wieder auseinanderbrechen. In einer Familie gibt es einen ritualisierten Alltag, der als verlässlich empfunden wird. Jetzt kommt plötzlich ein ganz anderes Muster dazu, man muss erst mal einen gemeinsamen Weg finden. Daneben steht die Beziehung zu den leiblichen Eltern, viele Kinder haben da Loyalitätsprobleme: Darf ich die neue Freundin des Vaters überhaupt mögen? Und das neue Paar bemüht sich oft sehr um die Kinder des anderen, was die eigenen wieder eifersüchtig macht. Grundsätzlich sollten Patchwork-Familien nicht zu schnell zusammenziehen, sondern den Kindern erst viel freien Raum geben, sich kennenzulernen. Je schneller sie sich vertragen müssen, desto ablehnender werden viele Kinder reagieren. Druck erzeugt immer Gegendruck. Und gegen den Willen der Kinder zusammenzuziehen, ist ein immenser Druck.

Endet die Eifersucht zwischen Geschwistern jemals?

Nein, das ist nie überstanden. Auch wenn man als Erwachsener die Gründe für eine Ungleichbehandlung eher einordnen und vielleicht sogar nachvollziehen kann - die Eifersucht beschäftigt Geschwister immer.

Joachim Armbrust ist Sozialpädagoge und Erziehungswissenschaftler, seit fast 25 Jahren arbeitet der Vater von zwei Kindern in der Erziehungs- und Jugendberatung. Er hat Ratgeberbücher zu den Themen Kinderängste, Jugendliche und auch "Streit unter Geschwistern" verfasst. In seiner Praxis bietet er unter anderem Beratungen und Therapien bei Erziehungsfragen und Konflikten in der Familie an.

Es ist wunderbar, Brüder oder Schwestern zu haben. Eigentlich. Wenn nicht die Eltern immer den anderen bevorzugen würden, selbst wenn Mütter und Väter das vehement abstreiten. Für diese alltägliche Ungerechtigkeit gibt es erschreckende Beweise. Hier lesen Sie die Erziehungskolumne "Kinder - der ganz normale Wahnsinn".

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