Die österreichische Politikwissenschaftlerin Mariam Irene Tazi-Preve erforscht die Lebensumstände von Müttern und Vätern. Dabei zieht sie ein etabliertes Lebensmodell in Zweifel: die Kleinfamilie. Ein Gespräch über Mythen und falsche Erwartungen.
SZ: Heutzutage gibt es viele Formen von Familie: Regenbogenfamilien, Patch work-Familien, Ein-Eltern-Familien und so weiter. Kann man da wirklich noch die Kleinfamilien-Norm kritisieren?
Mariam Irene Tazi-Preve: Ja, sie ist stärker denn je. Regenbogenfamilien bestehen vielleicht aus "Vater-Vater-Kind" oder "Mutter-Mutter-Kind", Patchwork-Familien aus "Mutter-neuer Partner-Kind" oder "Vater-neue Freundin-Kind". Wirklich neu ist da nur, dass Kinder aus früheren Beziehungen integriert werden. Wenn sie Glück haben, haben sie zusätzlich noch Kontakt zum anderen Elternteil - super, dann ist eine Bezugsperson mehr da! Ansonsten weichen diese Familienformen jedoch nicht von der Kleinfamilien-Norm ab. Und zum Thema Alleinerziehende kann ich nur sagen: Wenn ein Erwachsener - oder eine Erwachsene, meistens ist es ja die Mutter - ganz alleine die Verantwortung für Kinder tragen muss, dann ist das eine Katastrophe. Kein Mensch kann das leisten.
Es gibt Millionen Alleinerziehende in Deutschland, viele davon kommen ganz gut zurecht.
Das sind die, die sich ein gut funktionierendes Netzwerk aus Vätern, Großeltern, Nachbarinnen, Freundinnen aufgebaut haben. Das ist es, was ich sagen will: Alleine geht es nicht, zu zweit geht es auch nicht besonders gut. Wir müssen Familie größer denken.
Also ist Großfamilie die Lösung?
Wenn Sie damit meinen, dass Menschen mehr Kinder bekommen sollen: Nein, die Leute sollen so viele Kinder bekommen, wie sie wollen, ob das jetzt null sind oder fünf. Meine Kritik an der Kleinfamilie bezieht sich auf die Zahl der Erwachsenen, nicht auf die Zahl der Kinder. Wenn Sie mehrere Generationen meinen, die Verantwortung übernehmen, kommen wir dem schon näher. Es soll aber keinesfalls zu einem neuerlichen Zwang führen.
Was raten Sie stattdessen?
Es gibt viele alternative Familienformen, nur westliche Gesellschaften leben so ein rigides "Vater, Mutter, Kind"-Modell. Kennen Sie das afrikanische Sprichwort "Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen"? Das führt zwar jeder im Mund, doch niemand lebt so. Zwei Bezugspersonen sind für ein Kind jedoch zu wenig. Ich halte ein matrilineares Verständnis von Verwandtschaft für ideal, wie das beispielsweise in Burkina Faso üblich ist. Dort fühlen sich alle Frauen einer Familie für alle Kinder verantwortlich, die Kinder wachsen also mit mehreren Müttern auf. Wer die leibliche Mutter ist, ist irrelevant, ein Wort für "Tante" gibt es gar nicht. Die Brüder der Mutter fungieren als soziale Väter. Das ist quasi das Gegenteil des irrsinnigen Mutterwahns, den wir speziell in Deutschland pflegen, wo wir der Frau, die das Kind geboren hat, die komplette Verantwortung aufbürden.
Haben Sie konkretere Vorschläge? Die meisten von uns leben nun mal in Kleinfamilien oder ähnlichen Strukturen. Wir können nicht alles hinschmeißen und einen matrilinearen Familienclan gründen.
Aber wir können, wie ich es nenne, "vom Glauben abfallen". Viele Mütter hoffen, dass der Partner für sie und die Kinder da ist, und sind enttäuscht, wenn das nicht eintritt. Tatsächliche Unterstützung bekommen sie dann - auch in westlichen Gesellschaften übrigens - von ihrer eigenen Mutter, ihren Geschwistern oder Freundinnen. Für die Kinder sind das starke, verlässliche Bezugspersonen, die wir als solche wertschätzen sollten. Leider werden sie zu oft als mittelmäßiger Ersatz für den aufgrund der starken Erwerbszentriertheit von Männern leider nicht anwesenden oder zu wenig anwesenden Vater gesehen. Meine Botschaft ist: Diese Beziehungen sind Familie!
Wieso funktioniert die hierzulande übliche Kleinfamilie Ihrer Meinung nach nicht?
Das Problem ist, dass wir unsere Glückserwartung fast komplett in dieses Lebensmodell verschoben haben. Der Partner und die Kinder sollen uns froh machen, das Zuhause ist der Sehnsuchtsort, in dem alles stimmen muss. Das ist so überfrachtet, dass es nicht funktionieren kann. Die Familie soll glücklich machen, aber sie tut es nicht.
Warum nicht?
Unsere Definition von Familie ist viel zu eng gefasst. "Vater, Mutter, Kinder - das sind viel zu wenige Personen, um sich gegenseitig sämtliche Bedürfnisse erfüllen zu können. Zudem werden bei der Kleinfamilie zwei Dinge in einen Zusammenhang gestellt, die nicht zwingend etwas miteinander zu tun haben: Die romantische Liebe und das sichere Aufwachsen von Kindern.
Regenbogenfamilien:Zwei Mamas und zwei Papas
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Die Kleinfamilie scheitert also daran, dass es die lebenslange Liebe selten gibt?
Unter anderem. Die monogame Paarbeziehung steht als Ideal in unserer Gesellschaft über allem. Der Normalfall ist sie nicht, fast jede zweite Ehe wird geschieden, bei unverheirateten Paaren sieht es genauso aus. Anstatt das anzuerkennen und eine andere Grundlage für das Familienleben zu schaffen, sprechen wir von einzelnen Paaren, die "es halt nicht hingekriegt haben". Dabei sind stabile Beziehungen kaum möglich in unserem Wirtschaftssystem.
Das müssen Sie erklären. Was hat denn der Kapitalismus mit der Liebe zu tun?
Unser wirtschaftliches System und unser Familienleben funktionieren komplett unterschiedlich. Auf dem Arbeitsmarkt herrschen Konkurrenzdenken, Kosten-Nutzen-Logik und Profitmaximierung. Im Familienleben hingegen sind emotionale Zuwendung und Empathie wichtig. Familie und Beruf gleichzeitig leben zu wollen, ist daher wie die Quadratur des Kreises. Alles, was das eine System stützt, führt im anderen zum Scheitern.
Die meisten Eltern leben täglich in beiden Welten. Es scheint also schon irgendwie zu funktionieren.
Aber wie geht es ihnen damit? Dass wir eine Vereinbarkeitsdebatte nach der anderen führen, ist doch kein Zufall. Leider führen diese Diskussionen zu nichts, weil niemand die Grundsatzfrage stellt. Stattdessen bekommen Eltern - besonders die Mütter - ein paar Vorschläge, wie sie ihr Leben so optimieren können, dass Familie und Berufstätigkeit hineinpassen, Politiker eröffnen ein paar Kindergärten, Unternehmen erlauben ein bisschen Home-Office. Wenn es für die Familie dann immer noch nicht funktioniert, liegt es eben an ihr. Vereinbarkeitsdebatten lenken davon ab, wie viele Menschen an der Kleinfamilie leiden.
Auch die Kinder? Es heißt doch immer, dass Kinder in einer intakten Familie aufwachsen sollen.
Aber die intakte Kleinfamilie existiert kaum. Sie ist ein Mythos. Die Realität sind Trennungen und Scheidungen, immer mehr alleinerziehende Mütter, unzufriedene Väter und eine erschöpfte Elterngeneration. Selbst vermeintlich harmonische Familien sind es häufig nicht: Gewalt gegen Frauen und Kinder spielt sich zum größten Teil in familiären Nahverhältnissen ab. Es ist also gerade umgekehrt: Dass die Kleinfamilie versagt, ist der Normallfall.
Woher kommt dann die Vorstellung, dass Ehe und Familie glücklich machen?
Gute Frage. Dafür vorgesehen war sie nie. Selbst die Römer, die vor 2000 Jahren die Ehe erfunden haben, machten sich da keine Illusionen. Sie sprachen ganz offen von einer "Quelle des Verdrusses" für alle Beteiligten. Die Ehe war lediglich eine Möglichkeit für Männer, zu bestimmen, welche Kinder ihre rechtlichen Nachkommen sind. Die Begründungsszenarien variierten über die Jahrhunderte. Die Kirche stülpte ihre Sexualmoral darüber und die Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe. Heutzutage rechtfertigen wir die Ehe mit der Idee der romantischen lebenslangen Liebe. Auch das Zwei-Kind-Ideal kommt nicht daher, dass man herausgefunden hat, dass das am besten für die Beteiligten ist. Sondern dass ein Volk zwei Kinder pro Frau braucht, um nicht auszusterben. Sie sehen, wir fangen beim Glück an und kommen bei der Bevölkerungspolitik raus. Aber so ist das: Wir glauben, Familie ist ein individuelles und intimes Thema. Das stimmt aber nicht. Es ist hochpolitisch.