Süddeutsche Zeitung

EU beschließt Lebensmittelkennzeichnung:Wer schützt uns vor diesem Gesetz?

Das Europaparlament hat eine einheitliche Lebensmittelkennzeichnung beschlossen: Künftig müssen Hersteller die wichtigsten Inhaltsstoffe auf der Verpackung angeben. Die neue Verordnung sollte die Interessen der Verbraucher stärken. Tatsächlich aber schützt sie vor allem die Interessen der Lebensmittellobby.

Violetta Simon

Mehr als drei Jahre wurde darüber gestritten, ob und in welcher Form der Verbraucher informiert werden sollte, was drin ist in seinem Essen. Nun, endlich, hat das Europaparlament sich zu einer einheitlichen Lebensmittelkennzeichnung durchgerungen. Um es gleich vorweg zu sagen: Der Verbraucher hat keinen Grund zur Freude.

Ob in der Pizza Klebschinken, Analogkäse oder Allergene verarbeitet wurden, wie viel Fett, Zucker und Kalorien darin enthalten sind, erfährt der Kunde im Supermarkt noch immer nicht auf den ersten Blick. Das Ergebnis der zähen Verhandlungen zwischen Europaparlament und Ministerrat ist keine Lösung, sondern ein Kompromiss, der möglichst wenige Institutionen vergrätzt - vom Verbraucher mal abgesehen.

Künftig müssen Hersteller in Europa die wichtigsten Nährstoffe wie Salz, Zucker, Kohlenhydrate, Eiweiß, Fett und gesättigte Fettsäuren sowie den Kaloriengehalt des Produkts in Tabellen auf der Verpackung angeben. Bei frischem Fleisch muss die Herkunft vermerkt werden. Alkohol ist von der Regelung ausgeschlossen.

Mit dem Termin scheint es das EU-Parlament nicht besonders eilig zu haben: Die Verordnung wird voraussichtlich zwar noch vor Ende des Jahres in Kraft treten. Für die Umsetzung wurden der Lebensmittelindustrie jedoch Fristen von drei bis fünf Jahren eingeräumt. Eine weitere Gnadenfrist, um Spielraum zu gewinnen für neue Schlupflöcher?

Was soll's. Unwichtig, wann die neue Lebensmittelkennzeichnung kommt - solange die Politik nicht bereit ist, die Interessen der Verbraucher um jeden Preis zu schützen, müssen sie sich ohnehin auf sich selbst verlassen. Alles andere ist Augenwischerei.

Nach Angaben eines Sprechers sollte das so genannte Nährwertkästchen für "normalsichtige Verbraucher" lesbar sein. Die Erfahrung hat gezeigt, wie gut findige Hersteller es verstehen, solche Hinweise möglichst unauffällig zu platzieren oder derart zu verkleinern, dass man zum Entziffern eine Lupe benötigt. Da kann man dem Kunden nur viel Glück beim Suchen wünschen.

Mehrere europäische Verbraucherverbände haben ihre Enttäuschung ausgedrückt und beklagt, dass es Kunden auch künftig nicht möglich sei, auf einen Blick das gesündeste Produkt zu wählen. Damit können die zuständigen Politiker offenbar gut leben. Besser, als die Vertreter der Lebensmittelindustrie zu enttäuschen.

Nach wie vor haben Lobbyisten mehr als ein Wörtchen mitzureden, wenn es um die Ernährung der Deutschen geht. So hat nach einem Bericht des Magazins Spiegel die Lebensmittelindustrie im April 2009 Bundesernährungsministerin Ilse Aigner kräftig unter die Arme gegriffen, als es um die Einführung neuer Qualitätsstandards für die Verpflegung in Kindertagesstätten ging. Das Ergebnis: Die schändliche Ausgrenzung von Schmelzkäse und Majonäse, Geschmacksverstärkern, künstlichen Aromen und Süßstoffen konnte erfolgreich verhindert werden.

Auch diesmal ist die Industrie gut davongekommen bei dem EU-Deal. Was nach wir vor fehlt, ist eine wirkungsvolle Maßnahme, die die Interessen der Verbraucher vertritt. So eine Maßnahme hätte beispielsweise die Ampel sein können. Doch die von Verbraucherschützern und Ärzten geforderte Kennzeichnung war gleich in erster Lesung gekippt worden, nachdem sich Lebensmittelindustrie und mehrere EU-Staaten gegen die Einführung des dreifarbigen Hinweises massiv zur Wehr gesetzt hatten.

Die neue Lebensmittelverordnung erinnert in ihrer Undurchsichtigkeit an das deutsche Steuerrecht: Der Bürger hat die Möglichkeit, jede Menge Vorteile zu nutzen. Das funktioniert aber nur, wenn er weiß, dass sie existieren und wie er in ihren Genuss kommt. Da der Staat den Bürger nicht auf Erstattungen oder Zuschüsse aufmerksam macht, profitiert dieser nur davon, wenn er sich selbst informiert und eine Menge Formulare auszufüllen bereit ist - um das zu bekommen, was ihm eigentlich zusteht.

Die Inhaltsstoffe von Lebensmitteln sollten selbstverständlich und gut lesbar für jeden Kunden ersichtlich sein. Doch viele dieser Tabellen findet nur, wer gezielt danach sucht, sprich: wer sich mit dem Thema Ernährung auseinandersetzt. Bei manchen Angaben hat man ohnehin das Gefühl, dass sie eher für Chemiker bestimmt sind. Doch haben Verbraucher, selbst wenn sie keinen Wert auf gesunde Ernährung legen, nicht trotzdem das Recht auf Lebensmittel, die nicht dick und krank machen?

Warum werden die kommerziellen Interessen der Lebensmittellobby erst einmal durchgewunken, während der Bürger sich anschließend mit den Konsequenzen auseinandersetzen muss? Warum produziert die Industrie Nahrung, vor denen der Bürger sich anschließend schützen muss? Warum darf die Verpackung so gestaltet sein, dass ihm genau diese Tatsache möglichst lange verborgen bleibt? Warum dürfen Lebensmittelkonzerne gezuckerten Tee für Säuglinge herstellen? Und warum muss der Verbraucher von selbst darauf kommen, dass das "Qualitätsprodukt" die Milchzähne seines Kindes zerfrisst?

Die Frage ist doch: Warum müssen wir überhaupt als Verbraucher dagegen kämpfen, an unserem Essen zu erkranken? Was hat Klebschinken und Analogkäse in Lebensmittelgeschäften verloren, was haben künstliche Zusatzstoffe und Zucker in Babynahrung zu suchen? Die Antwort auf diese Frage werden wir auf den Tabellen nicht finden. Aber vielleicht bemühen wir uns nur nicht richtig.

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