Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl:Verwurzelt in der Natur

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Selbstversorger: Wolf-Dieter Storl bei der Kartoffelernte in seinem Garten. (Foto: Gräfe und Unzer/Frank Brunke)

"Das wirkt stimmungsaufhellend": Für Wolf-Dieter Storl sind Pflanzen mehr als Nutzgegenstände. Der Selbstversorger und Ethnobotaniker kennt die Heilkräfte der Natur - und lebt ziemlich gesund damit.

Von Titus Arnu

Der Mann sieht aus wie eine Mischung aus Gandalf und Bob Marley. Die graubraunen Rastalocken sind zu einem Zopf zusammengebunden, der weiße Bart reicht bis über die Brust, auf dem T-Shirt sind Wölfe in einer Schneelandschaft zu erkennen. Wolf-Dieter Storl bückt sich, wühlt mit den Händen im Boden, zupft an einer Wurzel herum, befreit sie mit den Fingernägeln von Erde und reicht seinem Besucher ein Stückchen davon.

"Hier, das ist Meisterwurz. Essen Sie. Dann werden Sie ein Jahr lang nicht mehr krank." An Storls Handgelenken baumeln Freundschaftsbändchen, die Unterarme sind von der Gartenarbeit zerkratzt. Die Pflanze, deren weiße Dolden nach Möhren und Sellerie duften, sieht ja ganz hübsch aus, aber einfach so in die Wurzel beißen?

"Meisterwurz galt früher als Allheilmittel", erklärt Wolf-Dieter Storl, während er an seinen Fingern schnuppert. Aus den Wurzeln wurden schon im Mittelalter Pillen, Pulver oder Salben gemacht, die gegen alles Mögliche helfen sollten: Katarrh, Epilepsie, Magenbeschwerden, Wundbrand, Wassersucht oder Zahnschmerz. Die Wurzel wurde angeblich auch zum Vertreiben von Hexen verwendet. Also Augen zu und essen, vielleicht hilft das Zeug ja tatsächlich gegen irgendwas.

Ein bitterer und gleichzeitig scharfer Geschmack entfaltet sich auf der Zunge. Meisterwurz erinnert ein bisschen an Ingwer. Nach dem Zerkauen des faserigen Stückchens fühlt sich der Gaumen leicht betäubt an, der Puls beschleunigt sich, in der Speiseröhre und im Bauch wird es heiß, so als hätte man Schnaps getrunken. Kann sein, dass alles, was man auf dem Einöd-Hof von Wolf-Dieter Storl bei Isny im Allgäu anschließend hört, sieht und schmeckt, unter dem berauschenden Einfluss einer Zauberwurzel notiert wurde. Kann aber auch sehr gut sein, dass die Welt von Wolf-Dieter Storl tatsächlich so farbenprächtig und bewusstseinserweiternd ist, wie sie einem erscheint.

Bocksbart blüht gelb. Die Triebe lassen sich wie Spargel zubereiten (Foto: imago)

Kunterbunter Hof auf knapp 1000 Meter Höhe

Der 71-jährige Kräuterexperte lebt mit seiner Frau, seiner Tochter und zwei Hunden auf einem kunterbunten Hof auf knapp 1000 Meter Höhe. Von den Almen rundum ist das Bimmeln der Kuhglocken zu hören, weiter unten im Wald rumoren Baumfäller mit schwerem Gerät herum. Wolf-Dieter Storl geht mit einem Korb durch seinen dschungelartigen Garten, pflückt hier eine Tomate, schneidet dort eine Zucchini in der Größe eines Baseballschlägers ab.

Die Klette ist mehr als ein anhängliches Unkraut. Ihre Wurzeln schmecken süßlich. (Foto: imago)

Er bleibt neben blau blühendem Borretsch stehen und empfiehlt, das würzige Kraut, eher als Salatzutat bekannt, mal als Mittel gegen Melancholie einzusetzen: "Das wirkt stimmungsaufhellend." Über seine Pflanzen redet er, als wären sie gute alte Freunde. "Hier, das sind Karden", sagt er, streicht über stachelige, lila Blüten, "die kamen einfach zu mir. Ich habe sie nicht gepflanzt." Pflanzen sind für ihn keine Sachgegenstände, er sieht sie als Wesen mit kultureller, sprachlicher, heilkundlicher und mythologischer Identität.

Wolf-Dieter Storl ist nicht nur ein Gartenfreak mit schier unendlichem Fachwissen, er ist auch Kulturanthropologe und Ethnobiologe. Das sind Wissenschaftler, die Pflanzen in Bezug auf ihre Verwendung durch den Menschen untersuchen. Bevor Storl sich im Allgäu niederließ, erforschte er weltweit den medizinischen oder rituellen Einsatz bestimmter Pflanzen.

Brennnesseln kann man in der Küche gut verwerten - als Tee, Gemüse oder Würze. (Foto: imago)

Er lebte in einer traditionellen Spiritistensiedlung in Ohio, in einer anthroposophischen Vegetarier-Kommune bei Genf, bei alteingesessenen Bauern im Emmental, bei Medizinmännern der Northern Cheyenne, bei Sadhus in Indien und Nepal. Heute stehen viele der Heilpflanzen, die er bei diesen Studien kennengelernt hat, in seinem Garten, etwa ein Essigbaum, der den Cheyenne als wichtige Vitamin-C-Quelle diente und dessen Rinde eine wichtige Rolle in der Medizin der Indianer spielte. Sein gesammeltes Fachwissen, seine philosophischen Ansichten und unterhaltsamen Anekdoten packt er in Bücher, Vorträge und Workshops. Wenn man ihm eine Weile zuhört, erfährt man nicht nur botanische Details, etwa dass Taglilien auch essbar sind, man beginnt auch, die Pflanzenwelt insgesamt mit anderen Augen zu sehen.

Ganz wertfrei lässt sich erst einmal feststellen, dass Wolf-Dieter Storl ein Händchen für Pflanzen hat. Wobei "Händchen" nicht ganz der richtige Ausdruck ist, es handelt sich eher um beeindruckende Pranken mit breiten Fingern, Schwielen und abgenutzten Nägeln, denen man die harte Arbeit in der Natur auf den ersten Blick ansieht. Storl ist Selbstversorger, fast alles, was die Familie an Obst, Salat, Kräutern und Gemüse braucht, pflanzt er im eigenen Garten an, zusätzlich liefert er Bio-Gemüse an ausgewählte Restaurants in der Umgebung.

Wolf-Dieter Storl stammt aus Sachsen, wanderte im Alter von elf Jahren mit seiner Familie in die USA aus, wuchs in einem Kaff mitten in Ohio auf und verbrachte die meiste Zeit seiner Jugend in der Natur. Zum Öko-Freak wurde er allerdings erst viel später. "In den Fünfzigerjahren gab es null ökologisches Bewusstsein", erzählt er. "Damals gab es eine immense Verschwendung von Ressourcen, und Müll wurde einfach in der Öltonne verbrannt."

Eigentlich wollte er nach der Highschool Botanik studieren, wechselte aber, vom Laborbetrieb angeödet, bald zur Völkerkunde. 1974 promovierte er zum Doktor der Ethnologie (magna cum laude) in Bern. Es folgten Lehraufträge in Wien, Oregon, Genf und Bern. Als er in eine anthroposophische Landkommune in der Schweiz zog, ursprünglich als ethnologischer Spion mit der Absicht, eine Studie über diese kuriose Gemeinschaft zu schreiben, beschloss er, seine akademische Laufbahn zu beenden - und blieb zweieinhalb Jahre.

Damals fing er an, barfuß zu laufen, sich die Haare und den Bart nicht mehr zu schneiden, um "besser geerdet" zu sein. "Es war, als wäre ich vorher in Plastik eingehüllt gewesen", sagt er. Seitdem versucht er, so zu leben, dass er immer "der inneren Stimme folgt" und einen guten Kontakt mit der Natur hat. Das scheint ihm gelungen zu sein.

Kompromiss beim Auto

Wer ihn auf seinem Hof besucht, hat das Gefühl, einem Menschen zu begegnen, der in sich ruht, weil er Kraft aus der Natur schöpft. Die Hälfte seiner Zeit verbringt Storl im Freien und arbeitet körperlich, die andere Hälfte ist er drinnen und beschäftigt sich geistig. Im Winter, der auf dem Bergbauernhof von November bis Anfang Mai dauert, meditiert und schreibt er, jedes Jahr ein Buch - über Heilpflanzen, Naturrituale oder Selbstversorgung.

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Wenn er nicht gerade im Garten ist oder im Schuppen, um Holz zu sägen, hält er Vorträge oder führt Interessierte auf Kräuterwanderungen. Seinem Ideal, absolut autark zu sein, ist er nah, aber natürlich geht er manche Kompromisse ein.

Er hat ein Auto, denn der Hof ist nur über eine fünf Kilometer lange Schotterpiste durch den Wald erreichbar, er zahlt Steuern, das Haus ist an die Strom- und Telefonleitung angeschlossen. Sein erwachsener Sohn, der in Isny wohnt, hat ihm eine Funkstation für den Internet-Anschluss auf einen Hügel gebaut.

Über das Netz tauscht er sich mit Kritikern und Fans aus. Unter den Fans sind Esoteriker, die an Naturgeister glauben, unter den Kritikern Naturwissenschaftler, die nichts von "Kraftorten" und "beseelten Pflanzen" halten. "Nur weil Pflanzen keine Hirne haben, heißt das nicht, dass sie keine intelligenten Wesen sein können", sagt Wolf-Dieter Storl. "Es scheint so, dass sie auf unsere Gedanken und Gefühle reagieren", behauptet er, "ich habe das selbst lange für Aberglaube gehalten."

Aus streng naturwissenschaftlicher Sicht ist das ziemlich fragwürdig. Als Ethnobiologe hat Storl einen anderen, alternativen Blick auf die Natur: Senden Bäume und Blumen nicht auf biochemischem Weg Informationen aus? Und ist das nicht auch eine Art von Kommunikation? "Die Welt hat mehr Dimensionen als das Mess- und Beweisbare", gibt er zu bedenken.

Rein rational betrachtet ist es auch Unsinn, in 1000 Meter Höhe einen Bio-Selbstversorgerhof zu betreiben. Trotzdem stellt man beim Besuch im Spätsommer fest: Das Experiment trägt reichlich Früchte. Rote Bete, Schwarzwurzeln, Kartoffeln, Zuckermais, Kohl, Karotten, dazwischen Blumen, Stauden und Gräser, die andere Leute als Unkraut ausreißen würden. Die vielen Blüten locken Insekten an: Bienen, Schmetterlinge, Hummeln und Käfer schwirren durch den Garten, sie bestäuben die Pflanzen und fressen Schädlinge.

Apropos, was unternimmt Bio-Gärtner Storl, der konsequent auf Gift verzichtet, gegen Schnecken? "Ich sammele sie ein und trage sie in den Wald." Wirklich? Weil auch Schnecken eine Seele haben? Und was ist dann mit der armen, angenagten Zucchini-Seele? Wolf-Dieter Storl kratzt sich an den Dreadlocks und sagt grinsend: "Na gut, ich gebe zu, wenn ich schlecht drauf bin, schmeiße ich sie in die Jauchegrube."

© SZ vom 20.09.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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