Süddeutsche Zeitung

Essay:Wie bitte?

Lesezeit: 6 min

Die Babyboomer kommen jetzt in die Jahre. Sie haben noch immer die viel zu lauten Rocksongs ihrer Jugend im Ohr. Über die Generation der Schwerhörigen.

Von Evelyn Roll

Schade, dass es hier so laut ist, man kann sich gar nicht unterhalten."

"Wie bitte?"

"Schade, dass es so laut ist, man kann sich gar nicht unterhalten!"

"Tut mir leid, ich verstehe dich nicht, es ist hier so laut, dass man sich gar nicht unterhalten kann!"

Im Nichtverstehen haben wir Übung. Früher hatten wir jeden Samstag solche Dialoge in der Disco, in den Clubs oder ganz vorne an den Minirock-Wummer-Stehplätzen bei den Konzerten unserer Lieblingsbands. Heute schicken die Netz-Algorithmen uns Werbung für Hörgeräte. Pete Townshend hat solche Dinger hinter beiden Ohren. Auch Eric Clapton hört fast gar nichts mehr. Und zum AC/DC-Sänger Brian Johnson haben die Ärzte jetzt gesagt, wenn er noch ein einziges Konzert durchstehen muss, wird er vollends taub sein.

Talking 'bout my Generation. Die Babyboomer werden schwerhörig. Siebzehn Millionen in Deutschland wissen es schon. Die anderen ahnen es allmählich.

Das ist traurig. Das ist ein Problem. Das wird ein sehr großes Geschäft. Und, ja, stimmt, es kommt davon, dass wir zu viel und zu laut Musik gehört haben.

Man merkt Schwerhörigkeit erst spät und nur sehr langsam, vor allem, weil man es ja auch nicht merken will, natürlich. Hörgeräte sind immer noch ein No-No. Die meisten Menschen gehen mit beginnender Schwerhörigkeit deswegen so um, wie sie es mit allen anderen unangenehmen Sachen auch machen: erst mal ignorieren.

Die Tontechniker sind gar nicht bescheuert oder schlecht ausgebildet. Sie sind nur jung

Diese Phase dauert zwei bis sechs Jahre. Anschließend wird noch eine Weile lamentiert und nach Schuldigen gesucht - die Gene der Großmutter bieten sich gerne dazu an. Akzeptiert wird Schwerhörigkeit statistisch dann erst im siebten Jahr, wenn es richtig schlimm geworden ist und der Ohrenarzt sagt: Besser, Sie wären schon früher gekommen.

In der ersten Ignorierphase passieren seltsame und sehr lustige Geschichten, deren Seltsamkeit man allerdings vor allem aus den Gesichtern der anderen ablesen muss. Wenn man zum Beispiel sagt: "Das Beste an der neuen Wohnung ist, dass hier oben im fünften Stock der Straßenlärm gar nicht mehr zu hören ist", und die Kinder, die ja heutzutage sehr höflich und behutsam sind, sich schon wieder so komisch anschauen. Wie sie sich neulich angeschaut haben mit hochgezogenen Augenbrauen, als angeblich die Kühlschranktür fiepte, weil sie nicht richtig geschlossen war. Dabei fiepte doch gar nichts.

Man könnte beginnende Schwerhörigkeit auch bequem beim Zeitungslesen feststellen, zum Beispiel, wenn wieder einmal das Sounddesaster beim "Tatort" verhandelt wird. Man freut sich erst, weil also offenbar alle die Dialoge zu leise und die Musik viel zu laut finden. So wie alle meckern, wie sehr dieser Nick Tschiller nuschelt. Bis man weiterliest und begreift: Das liegt daran, dass alle nicht mehr richtig gut hören, jedenfalls alle, die noch fernsehen.

Die Tontechniker sind gar nicht bescheuert oder schlecht ausgebildet. Sie sind nur jung. Wenn sie erst 30 Jahre alt sind, haben sie noch fast keine Hörverluste, mischen also, wie sie hören können: für junge Ohren perfekt. Ein guter Teil der "Tatort"-Zuschauer ist aber eher 60.

Der "Tatort"-Zuschauer mag auf einmal auch synchronisierte Spielfilme gar nicht mehr. Er hält sein dogmatisches "Ich sehe Filme nur noch OmU" dann so lange für intellektuell höher stehend, bis er erkennt, dass er auch im richtigen Leben beim Hören längst das meiste von den Lippen ab-liest. Unsere Gehirne sind ja sehr trickreich im Kompensieren.

Und dann sind da möglicherweise noch die schrecklich leisen Kollegen in den Konferenzen und der so unzumutbar viel stärker gewordene Lärm auf Partys und in Restaurants. Oder diese Studentinnen in den hinteren Reihen mit ihren Pieps-Stimmchen. Wenn man ihnen sagt: Sprechen Sie bitte laut, deutlich und selbstbewusst! Wie wollen Sie mit so einer Weil-ich-ein-Mädchen-bin-Stimme jemals in einer Redaktionskonferenz Ihre Themen durchbekommen? Dann halten die das für eine pädagogische Maßnahme. Was ja auch wieder nett ist.

Wenn es Paare trifft, ist die Phase der Leugnung besonders lustig. Psychologen nennen, was dann geschieht, die Delegation von Selbsterkenntnis. Das geht etwa so: Sie glaubt, dass er langsam wirklich schwerhörig wird. Sie hat gelesen, wie früh man dagegen etwas tun muss, wenn das Gehirn nicht für immer verlernen soll, hohe Frequenzen zu identifizieren und Sprache aus Störgeräuschen herauszufiltern. Sie erklärt ihm das alles, und auch, warum eine nicht versorgte Schwerhörigkeit der Hauptrisikofaktor für Altersdemenz ist. Und, bitte sehr, sogar dein Kant hat geschrieben: Nicht sehen trennt von den Dingen. Nicht hören von den Menschen.

Er sagt dann möglicherweise dazu: Sehr interessant das alles. Nur, wenn hier eine von uns nicht mehr richtig hören kann, bist doch du das. Also testet sie ihn heimlich, sagt aus der Ecke seines Zimmers mittellaut: "Süßer, kannst du mich hören?"

Und bekommt keine Antwort. Dann geht sie etwas näher ran und sagt noch mal: "Hörst du mich?" Wieder keine Antwort. Schließlich steht sie direkt hinter seinem Schreibtischstuhl und ruft triumphierend: "Kannst du mich jetzt vielleicht endlich hören?"

Möglicherweise kommt das große öffentliche Gelaber und Monologisieren der alt gewordenen 68er von ihrer Schwerhörigkeit

"Ja doch, Herrschaftszeiten, ja", sagt er dann, "wie oft soll ich das denn noch sagen?"

Eine beliebte, scheinbar sozialverträgliche Möglichkeit der Tarnung von beginnender Schwerhörigkeit ist: selber sehr viel reden. Das kann man versuchen. Beliebt wird man damit nicht. Möglicherweise kommt das große öffentliche Gelaber und Monologisieren der alt gewordenen 68er-Männer gar nicht daher, dass sie ja noch nie zuhören wollten, sondern dass sie es jetzt auch gar nicht mehr können. Und, ja, kann sein, Frauen auch, Alice Schwarzer vielleicht.

Nächste Station, Ohrenarzt endlich. Der sagt: Mit Ihrer Großmutter hat das gar nichts zu tun. Vierzig Stunden pro Woche etwa 80 Dezibel Musik auf die Ohren genügen, um vorzeitig schwerhörig zu werden. Und: 100 Dezibel können auch einmalig schon zu viel gewesen sein.

Oh. Die Dezibel-Skala ist logarithmisch, das heißt, zehn Dezibel mehr bedeutet dop-pelte Lautstärke. Das Who-Konzert 1976 im Londoner Valley-Stadion war, wie man heute weiß, mit 120 Dezibel das lauteste Rock-Konzert aller Zeiten. Pete Townshend hatte sich von Jim Marshall den ersten 100-Watt-Gitarrenverstärker bauen lassen. Und niemand hat uns Stöpsel in die Ohren gesteckt.

Neulich bei der Preisverleihung vom Li-berty Award spielte Silbermond. Stefanie Kloß trug großartige, strassbesetzte Ohrringe, genau genommen waren es Im-Ohr-Ringe, die Selbstoptimierer von heute gehen ja nur noch mit Ohrstöpseln auf die Bühne und in die Disco. Wir hatten solche Dinger nicht und waren trotzdem immer vorne an den Boxen. Wir haben uns stolz erzählt, wie es, nachdem wir die Stones in der Gruga-Halle erlebt hatten, noch eine Woche klingelte in den Ohren. Wir liebten das Wummern der Bässe im Beckenknochen schon auf dem Weg von der U-Bahn ins Olympiastadion zu Pink Floyd. Wir blieben jede Samstagnacht auf, um die Top-Ten vom BSBF mitzuschneiden und montags schon die Texte zu können. Die Disco verlassen, wenn es laut wird? Mit Ohrstöpseln ins Konzert? Pah! Niemals!

Was unsere Eltern dazu gesagt haben? Die bezweifelten heftig, dass das gut für die Ohren sein könnte. Aber sie nannten unsere Musik auch überhaupt Lärm und glaubten, dass man mit den Kinks auf dem Plattenspieler niemals Mathematik-Hausaufgaben lösen könne. Eltern!

Sie hatten recht. Wer damals nicht hören wollte, kann heute nicht mehr hören. Eltern haben, wie wir inzwischen wissen, immer recht, weswegen wir unseren eigenen Teenagern später aus Papierservietten Ohrschutz-Kügelchen gedreht haben beim gemeinsamen Alice Cooper-Konzert.

Die Rock- 'n'-Roll-Gespenster sind weg vom Fenster, das Hörgerät ist angesagt. Die schwerhörigste Generation aller Zeiten hat sich selbst gezüchtet. Prozentual haben heute sehr viel mehr der Sechzig- bis Siebzigjährigen Hörschäden als die Achtzigjährigen.

Wer auf Soul stand übrigens, konnte sogar schon in den Sechzigerjahren in den Genuss von Dynamikkompression kommen, Motown war das erste Label, das damit experimentierte. Dynamikkompression geht so: Erst werden die lauten Passagen leiser und die leisen lauter gemischt, um dann alles zusammen anzuheben und diesen akustischen Druck zu erzeugen, den wir fetten Sound nannten. Die Experten sagen: Ohne Höhen und Tiefen, ohne leise und laute Stellen verringert dynamisch komprimierte Musik auf Dauer die Fähigkeit im Gehirn, Frequenznuancen zu hören, das heißt, auch Gespräche im sogenannten Störgeräusch verfolgen zu können. Als unsere nicht komprimierten Platten und CD-Sammlungen zu groß wurden für die Umzüge, war der Mp3Player erfunden. Und deswegen wird auch nichts besser für die Generation Kopfhörer: Komprimierte Musik ganztägig über Kopfhörer zu hören, ist genau genommen Körperverletzung.

Dringend zu empfehlen: Auf Aktien von Firmen setzen, die im Hörgeräte-Geschäft sind

Wir hören nicht mehr gut. Aber auf uns hört auch keiner. Auch nicht auf die bayerische Staatsministerin für Gesundheit und Pflege, deren alarmierende Studien leider abschreckend anbiedernd "Ohrkan" heißen. Die Seite, auf der junge Menschen testen könnten, ob sie im höheren Frequenzbereich überhaupt noch etwas hören, heißt sogar "earaction". Wer soll das freiwillig anklicken?

Ach, was soll's. Beethoven, Smetana und Helmut Schmidt hatten auch Hörprobleme und waren nie bei einem Rockkonzert. Außerdem werden die Hörgeräte offensichtlich immer besser. Man bekommt als eingetragener Babyboomer ja jetzt ständig diese Werbung. Die Algorithmen vergessen keinen von uns. Wir sind die stärkste Konsumkohorte. Für uns tun sie alles: Es gibt schon unsichtbare Im-Ohr-Hörgeräte, für Tekkis auch welche, die man mit dem iPhone bedienen kann. Wenn jetzt schon etwa 17 Millionen Menschen in Deutschland schwerhörig sind, sollten wir vielleicht, bevor wir uns endlich beim Ohrenarzt anmelden, erst mal googeln, welche Aktiengesellschaften im Hörgeräte-Geschäft sind und: kaufen!

Noch was: Wir haben hier zwei Tickets abzugeben für AC/DC am 26. Mai im Hamburger Volksparkstadion. Axl Rose soll einspringen für Brian Johnson, damit der nicht ganz taub wird. Großes Kino: Sie ersetzen also einen Sänger, der nicht hören kann, durch einen, der nicht singen kann. Und wir? Müssen leider unsere Ohren schonen.

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Quelle:
SZ vom 07.05.2016
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