Süddeutsche Zeitung

Geduld:Warum Warten ein Stück Freiheit ist

An der U-Bahn, an der Supermarkt-Kasse oder beim Arzt: Kaum etwas nervt die Deutschen mehr als sich gedulden zu müssen. Dabei können wir von anderen Kulturen lernen, wie schön die Ungewissheit sein kann.

Von Timo Reuter

Die Mittagssonne brennt vom blauen Himmel, gigantische Seemandelbäume spenden großzügig Schatten. Am Wegesrand werden frische Säfte serviert. Laute Reggae-Musik ertönt. Trotzdem scharren die Füße ungeduldiger Touristen im feinen, weißen Sand. Denn was hier im Nordosten Brasiliens zum Alltag gehört, daran müssen sich die meisten Europäer erst gewöhnen: an die Langsamkeit. Und an das Warten. Kommt der Bus nicht jetzt, kommt er später. Oder morgen.

Weil es auf der ziemlich unberührten Insel Boipeba keine Straßen gibt, sondern nur Sandpisten, ist der Bus hier ein Traktor samt Anhänger. Der Fahrer will allerdings erst losfahren, wenn sich weitere Fahrgäste finden und der Wagen voll ist. Zwischen dem einen und dem anderen Ende der Insel liegt also nicht nur die halbstündige Überfahrt, sondern auch eine unbestimmte Zeit des Wartens.

Dieser Zustand macht mancherorts einen Großteil des Tages aus - und gilt in der westlichen Welt als höchst anachronistisch. Schließlich bedeutet die Verfügung über die eigene Zeit einen Zugewinn an Freiheit. Wer hingegen über die Zeit anderer bestimmt, übt Macht aus. Schon der Adel ließ seine Bittsteller gerne warten. Demgegenüber verspricht die Warteschlange Gerechtigkeit, weil dort die Zeit eines jeden dasselbe wert ist. Dieses Gleichheitsideal stammt aus England, dem Mutterland der modernen Demokratie - und ist längst durch kapitalistische Prinzipien ausgehöhlt. Als Privatpatient beim Arzt oder als Reisender in der Businessclass: Man kann sich vom Warten freikaufen. Und wo das nicht klappt, kommt es manchmal noch schlimmer - etwa für Flüchtlinge, die auf eine Aufenthaltsgenehmigung warten. Für sie ist das Wartezimmer ein Ort, wie ihn schon Franz Kafka in seinem Roman "Der Prozess" beschrieb: ein Symbol der Ohnmacht im Angesicht undurchsichtiger Bürokratie.

Doch meist geht es um viel Profaneres. Mehr als 55 Prozent der Deutschen nehmen Wartezeiten als größtes Ärgernis im Alltag wahr, so das Ergebnis einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung. Die Rede ist nicht vom Warten auf Lebensnotwendiges, ein Spenderorgan etwa oder die Feuerwehr, wenn es brennt. Gemeint ist ebenso wenig die Zeit bis zum Auslaufen des Bausparvertrags oder das freiwillige Campieren vor der Filiale eines Technikkonzerns, um als Erster das neue Gerät in den Händen zu halten.

Es geht um das ganz alltägliche Warten, im Supermarkt oder am Bahnhof, wenn wir, unfreiwillig und zu Passivität gezwungen, auf die Kassiererin oder den verspäteten Zug warten - und uns ärgern. Doch das muss nicht so sein. "Wo der Alltag weniger durchrationalisiert und effizienzgeleitet ist, wie es in Ländern des globalen Südens die Regel darstellt, ist das Warten eine Art praktische Tugend", sagt der Soziologe Andreas Göttlich, der an der Universität Konstanz das Warten als "soziales Alltagsphänomen" erforscht.

Wer schon mal in einem abgelegenen Dorf im ländlichen Afrika auf den Bus oder in einer ostasiatischen Strandbar auf die Bedienung gewartet hat, weiß: Das Warten kann Freiräume eröffnen - für eigene Gedanken, soziales Miteinander oder einfach nur fürs Nichtstun. Auf einer abgelegenen Insel im Süden Thailands kommt es vor, dass die Köchin im Familienrestaurant Stunden braucht, weil sie seelenruhig ein Gericht nach dem anderen zubereitet. Wer es ihr gleichtut und die Ungeduld überwindet, kann sich ganz dem Moment hingeben, um so bei den Dingen zu verweilen. Statt auf den leeren Teller schaut man gedankenverloren in den Sonnenuntergang. Warten als Glücksworkshop? Schon der russische Schriftsteller Leo Tolstoi wusste, was dann passiert: "Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann." Ohne Stress wird irgendwann das frisch zubereitete Abendessen serviert.

"Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann"

Zu warten heißt aber nicht nur, sich dem Nichtstun, dem Träumen oder, wenn ein Buch zur Hand ist, der Lektüre hinzugegeben, sondern auch, sich der Ungewissheit anzuvertrauen. In einem Dorf im Westen Ghanas kommt der Bus einmal am Tag - wann er will. Ein Mangel? Aus Sicht vieler Einheimischer schon. Doch wer gelernt hat, dass der Bus unpünktlich ist, arrangiert sich damit - und versucht, das Beste daraus zu machen. So kann das Warten zur Kulturtechnik werden: Während man umringt von neugierigen Kindern stundenlang gemeinsam herumsteht und plaudert, lernt man seine Umgebung und vor allem seine Mitmenschen kennen. Den ungeduldigen Deutschen, die schon bei kleineren Verspätungen Herzrasen oder Aggressionsschübe bekommen, sollte man sich mit solchen Empfehlungen aber besser vorsichtig nähern.

Im Jahr 2014 untersuchte die Psychologin Bettina Lamm, inwieweit das Warten kulturell geprägt ist. Angelehnt an die berühmte Marshmallow-Studie, in welcher der US-Psychologe Walter Mischel den Einfluss der Fähigkeit zu warten und zur Selbstregulation auf beruflichen Erfolg nachwies, wurden deutsche und Kinder der Nso-Volksgruppe aus Kamerun vor die Wahl gestellt, entweder sofort eine Süßigkeit zu essen oder zehn Minuten zu warten und dann zwei zu bekommen. Das Ergebnis: etwa 30 Prozent der deutschen Kinder konnten warten, bei den kamerunischen waren es 70 Prozent. Die Erklärung der Wissenschaftlerin: "Während in westlichen Gesellschaften viel Wert darauf gelegt wird, dass Kinder Individualität entwickeln und sich aktiv für ihre Ziele einsetzen, ist es etwa in Kamerun wichtiger, sich respektvoll in die Gemeinschaft einzufügen. Das begünstigt die Fähigkeit zu warten."

Auch auf der Insel Boipeba ist das Warten eine Art soziale Tugend. Nach zwei frischen Säften im Schatten heißt es plötzlich: einsteigen. Doch als das Gepäck verstaut ist, passiert erst mal nichts. Der Fahrer ist verschwunden, eine halbe Stunde später taucht er wieder auf. Der Traktor holpert über hügelige Sandpisten bis zum Fischerdorf am anderen Ende der Insel. Hier sitzen Männer, Frauen, Alte, Junge. Einige haben geduldig auf den Traktor gewartet. Sie lachen, verabschieden sich. Hektik scheint hier ein Fremdwort zu sein.

Offenbar beeinflusst auch der unterschiedliche Umgang mit der Zeit, wie gewartet wird. In den Neunzigerjahren untersuchte der Forscher Robert Levine die Zeitkonzepte verschiedener Kulturen. Er fand heraus: Wo die Gemeinschaft stärker, das Klima wärmer und die Wirtschaftskraft niedriger ist, herrscht ein geringeres Lebenstempo. Levine nennt das "Ereigniszeit": Die Fahrt dauert eben nicht 30 Minuten, sondern so lange, bis man ankommt. Solch ein gedehntes, am Rhythmus der Natur oder an sozialen Gegebenheiten orientiertes Zeitverständnis erhöht auch die Toleranz beim Warten - weil Pausen ritueller Teil des Alltags werden. Umgekehrt gilt: Je straffer und individualistischer eine Gesellschaft organisiert ist, je stärker die Zeit in die Uhr gepresst wird und die Erwartung an Pünktlichkeit und Zielstrebigkeit steigt, desto eher haben die Menschen das Warten verlernt.

Die dafür notwendige Fähigkeit zur Geduld gilt zwar weithin als Tugend, doch zu warten heißt in der westlichen Welt vor allem, Zeit zu verlieren. Der Soziologe Andreas Göttlich sagt: "Speziell der spätmoderne, ,beschleunigte' Mensch, der versucht, mehrere Leben in einem zu leben, wird beim Warten stets von dem Gefühl geplagt, etwas Wichtiges zu verpassen." Wir versuchen, die Zeit zu nutzen - um nicht zu spüren, wie sie verrinnt. Das schnelle Tempo im Beruf, aber auch im Privatleben suggerieren uns eine hohe Selbstkontrolle. Das Gegenteil ist aber der Fall.

"Mit dem Warten ist es wie mit dem Fischen"

Oft übertönt das Ticken der inneren Uhr das Rauschen des Meeres, ungeduldig scharrende Füße halten die Anspannung aufrecht, der Ärger über das bloße Herumstehen verhindert, dass wir mit anderen ins Gespräch kommen. Das Smartphone erledigt den Rest. Die fünfzigste Whatsapp-Nachricht des Tages überbrückt den kurzen Moment der Langeweile, das Instagram-Foto ersetzt das Staunen über den ersten schönen Sommerabend, auf den man voller Ungeduld gewartet hat. Im digitalen Zeitalter soll alles sofort in Besitz genommen werden, selbst das Teilen, ein an sich harmloser Akt, ist zur Aufmerksamkeitswährung geworden. Wer ist da noch bereit, dem Warten auch etwas Positives abzugewinnen?

Manchmal ist weniger tatsächlich mehr. Ein etwa 50-jähriger Fischer, der sein ganzes Leben auf der Insel Boipeba verbracht hat, sagt lächelnd: "Mit dem Warten ist es wie mit dem Fischen. Manchmal fängst du an einem Tag Fisch für einen Monat, und in manchen Monaten fängst du nicht genug für einen Tag." Aus diesen Worten spricht eine tiefe Gelassenheit. Sie kann die Zwangspause des Wartens in geschenkte Zeit verwandeln.

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Quelle:
SZ vom 15.07.2017/ick
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