Essay:Wanted

Essay: Illustration: Peter M. Hoffmann

Illustration: Peter M. Hoffmann

In New York waren Hunderttausende Smartphone-Nutzer aufgerufen, sich an der Fahndung nach einem Terroristen zu beteiligen. Das verheißt Sicherheit - und ist ein weiterer Schritt hin zum Überwachungsstaat.

Von Joachim Käppner

Er weiß, sie sind ihm auf den Fersen. "Immer muss ich durch die Straßen gehen, und immer spür ich, es ist einer hinter mir. Das bin ich selber! Ich will davon, vor mir selber davonlaufen. Aber ich kann nicht, kann mir nicht entkommen! Wenn ich es tue, dann weiß ich von nichts mehr. Dann stehe ich vor einem Plakat und lese, was ich getan habe. Das habe ich getan?"

Sie haben ihn in die Enge getrieben: die Polizei, die Leute, die Reporter, sogar die Gangster. Sein Name steht in jeder Zeitung, sein Steckbrief prangt an allen Ecken, einer hat ihm ein M auf den Rücken gemalt, M für Mörder. Denn ein Sexualmörder ist Hans Beckert, er missbraucht und tötet Kinder. Eben hat er sich noch so sicher gefühlt, untergetaucht im Strom der Großstadt, er pfeift auf der Straße ein Liedchen und verhöhnt die Kriminaler in anonymen Briefen. Doch für ihn gibt es kein Entkommen in Fritz Langs weltberühmtem Kriminalfilm "M - Eine Stadt sucht einen Mörder" von 1931. Am Ende halten ausgerechnet die härtesten Verbrecher Berlins, die Herren aus den Ringervereinen unter Führung des berüchtigten Schränker, ein Tribunal über Beckert ab.

Die Schlagzeilen, die Omnipräsenz der Kriminalnachrichten, die ans Obsessive reichende Furcht vor dem Bösen und eine Polizei, welche die Öffentlichkeit durch immer neue News über den Kindermörder einerseits kontinuierlich erregt und andererseits "die Mitarbeit des Publikums" sucht: 1931, vor einem langen Menschenalter, war all das sensationell und noch sehr neu. Die Welt hat sich seitdem vollkommen verändert - aber die alte Geschichte wurde soeben neu erzählt, um ein Vielfaches intensiver.

Die Jagd auf Terroristen per Smartphone gibt uns das Gefühl, nicht wehrlos zu sein

Eine Stadt sucht einen Mörder.

"WANTED: Ahmad Khan Rahami, 28-yr-old male. See media for pic. Call 911 if seen." Gesucht: Ahmad Khan Rahami, männlich, 28 Jahre. Betrachten Sie das Bild in den Medien. Rufen Sie den Notruf, wenn Sie ihn sehen.

Man nennt das "cellphone alert", Handy-Alarm. Das Warnzeichen ertönte zugleich auf Hunderttausenden Mobiltelefonen, als New Yorks Polizei dringend den als Terroristen verdächtigen Afghanen Rahami suchte; er soll die Bombe gelegt haben, die 29 Menschen verletzte, sowie weitere Sprengsätze, die entschärft werden konnten. Die US-Behörden hatten auf diese Weise schon Sturmwarnungen verbreitet oder nach vermissten Kindern gesucht. Aber der elektronische Steckbrief - den hatte es in dieser Form und in diesem Ausmaß noch nicht gegeben. Die Jagd war eröffnet, und Millionen Menschen nahmen durch eine einzige Textnachricht plötzlich teil daran. Glaubt man den Verantwortlichen, war dies nicht die Ausnahme, sondern eine "moderne Vorgehensweise", wie New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio sagte: "Dieses Instrument werden wir in Zukunft wieder nutzen."

Die Bürger als Helfer der Polizei, die Öffentlichkeit als digitaler Hilfssheriff im Kampf gegen den Terror: In gewisser Weise spiegelt sich so das gefühlte Ausmaß der Bedrohung wider. Wenn der neue Terror jeden jederzeit an jedem Ort treffen will, so ist nun jeder dazu aufgerufen, jederzeit und an jedem Ort die Polizei mit Hinweisen zur Verfolgung des Terrors zu unterstützen.

Für die Masse der Bürger sind islamistische Massenmörder wie jene, die in den USA oder Frankreich Kinder vor Schulen, Konzertbesucher, Bahnpassagiere und Restaurantgäste töteten, plötzlich keine Angelegenheit mehr, um die sich allein die Polizei, die Geheimdienste und vielleicht noch Soldaten in sehr fernen Einsatzgebieten kümmern müssen. Der Terror geht alle an, die Angst ist längst in den Alltag hineingekrochen.

Die Jagd auf Terroristen per Smartphone-Aufruf macht sich diese Angst zunutze. Sie gibt den Menschen das Gefühl, etwas tun zu können, nicht wehrlos zu sein. Man kann nun fragen: Was, bitte, ist daran schlecht? Unzweifelhaft ist es doch besser, der dringend tatverdächtige Afghane sitzt in Untersuchungshaft und läuft nicht frei herum, um vielleicht neue Bomben zu legen. Beim Amoklauf von München im Juli half die dauernde Unterrichtung über die Lage durch die Tweets der Polizei sogar, viel Hysterie und Panik herauszunehmen - die freilich mancherorts bewaffnete Zivilpolizisten, die nicht als Beamte erkennbar waren, erst ausgelöst hatten.

Überhaupt, ließe sich beschwichtigend sagen, hat es das immer gegeben: Regierungen riefen ihre Bürger und Untertanen auf, Gesuchte zu melden. In feudalen Zeiten taten sie das schon deshalb, weil Rebellen bei den Armen und Unterdrückten erhebliche Sympathie genossen. Der "Bayerische Hiasl", im 18. Jahrhundert Kopf einer gefürchteten Räuberbande, galt als Held, dessen Bildnis man aufstellte:

"Kein Haus war auf dem Land

Kein Haus fast in der Stadt,

wo nicht der Hiesl stand

auf einem Kupferblatt."

In der harten Pionierwelt der jungen USA wurden Banditen nicht nur durch Aushänge wie "Wanted" gesucht - hier, wo die Staatsgewalt noch schwach war, stellte sie es den Bürgern frei, den Gesuchten selbst zu stellen und "dead or alive" bei den Behörden abzuliefern. Zu der Zeit, als Fritz Lang "M" drehte, arbeitete der genialische Leiter der Berliner Mordermittler, Ernst Gennat - genannt "der volle Ernst", wegen seiner bemerkenswerten Körperfülle - schon mit Mitteln der Öffentlichkeitsfahndung.

Und dennoch. Der "emergency alert" ist mehr, viel mehr als der alte Steckbrief auf Litfaßsäulen oder die Liste der Meistgesuchten, welche die Polizei auf ihren Homepages zeigt. Paradoxerweise erreicht der Aufruf per Handy durch die schiere Masse eine ganz neue Qualität. Jedermann ist der Adressat, jedermann steht in der Pflicht. Oder er soll sich zumindest so fühlen. Und das ist nur der Anfang.

Obwohl es letztlich eine Polizeistreife war, die den Tatverdächtigen fand, sind die Beteiligten begeistert über die digitale Levée en masse. Ihre potenzielle Wirksamkeit steht außer Frage. Ein Mann, nach dem sich Millionen umsehen, ist gezeichnet wie der Kindermörder Beckert mit seinem M auf dem Mantel. Nur hat diese schöne Welt des kriminalistischen Fortschritts einen Preis. Und wahrscheinlich ist er viel höher, als viele Menschen ahnen oder wahrhaben wollen.

Was passiert, wenn die wehrhaften Bürger den Falschen suchen?

Es geht nicht nur um den cellphone oder emergency alert, doch ist er das jüngste Beispiel für das Ausmaß, das die digitale Überwachung bereits erreicht hat. Die freien Gesellschaften stehen vor einer Herausforderung, der sie sich, wenn überhaupt, erst sehr langsam bewusst werden. Noch vor einer Generation wünschten sich Kriminaltechniker und Innenpolitiker technische Überwachungsmittel, die damals nicht machbar waren. Die digitale Revolution hat das Problem auf den Kopf gestellt. Heute ist die Frage, ob wir uns alles, was technisch machbar ist, wirklich wünschen sollten. Theoretisch wäre es bereits möglich, die komplette deutsche Bevölkerung oder einzelne ihrer Gruppen per DNA-Datei abzuspeichern. Das Gesetz verbietet es, der Aufwand wäre noch ungeheuer - aber möglich.

Es ist ein Dilemma. Einerseits kann und wird die Polizei nicht technisch rückständiger bleiben als die Leute, die sie sucht. Dies wäre auch nicht wünschenswert, zumal Terroristen das Internet heute schon zu Rekrutierung und Planung intensiv nutzen und Kinderschänder ihre getarnten Dateien im Netz verkaufen.

Andererseits wachsen die technologischen Möglichkeiten der Überwachung mit der Geschwindigkeit einer Lawine, die unkontrollierbar zu Tal donnert. Und das Vertrauen, der demokratische Rechtsstaat werde der Versuchung, durch Einschränkungen der Freiheit mehr Sicherheit zu schaffen, schon niemals erliegen, ist spätestens durch den NSA-Skandal zutiefst erschüttert. Man muss nicht gleich, wie der amerikanische Regisseur Oliver Stone, der das Leben des Whistleblowers Edward Snowden verfilmt hat, von einem "sanften Faschismus" durch digitale Überwachung sprechen. Faschismus ist niemals sanft. Aber es bleibt erschreckend, wie anfällig demokratische Rechtsstaaten für die Versuchungen der allumfassenden digitalen Kontrolle sind.

Auch die Handy-Fahndung, die nun schon als neues Wundermittel der Strafverfolgung gepriesen wird, birgt enorme Risiken. Was, wenn überraschte Bürger plötzlich vor dem Gesuchten stehen und ihn erkennen: Sind sie der Situation gewachsen, geraten sie in Panik, gar in Gefahr? Was, wenn die Fahnder den Falschen suchen? Wenn sie selbst ernannte Bürgerwehren zu Treibjagden auf jeden motiviert, den sie irgendwie verdächtigen?

In Emden an der Nordsee nahm die Polizei 2012 einen jungen Mann fest, den sie anhand von Videoaufnahmen dringend verdächtigte, in einem Parkhaus ein kleines Mädchen getötet zu haben. Die Nachricht machte über Facebook die Runde, nur Stunden später sammelte sich eine wütende Menge vor der Polizeiwache und johlte Lynchparolen. Der, dem sie den Tod wünschten, war freilich unschuldig, die Ermittler hatten sich geirrt.

Orwell, 2016: Schon jetzt nutzen autoritäre Regime die digitale Überwachung für sich

Wird zudem ein Verdächtiger wie der Afghane Rahami gesucht, dann fürchten viele Menschen aus demselben Kulturkreis, beschuldigt und der Polizei gemeldet zu werden. Das ist, leider, alles andere als Hysterie - seit Jahren ist das "racial targeting" amerikanischer Polizeibehörden ein heftig diskutiertes Problem, also der oftmals berechtigte Vorwurf, Schwarze oder Muslime unter Generalverdacht zu stellen.

Schon heute nutzen autoritäre Regime die digitale Überwachung in einem Maße, das von der schrecklichen Utopie der totalen Kontrolle nicht mehr weit entfernt ist, die George Orwell in dem Buch "1984" entwarf. Oppositionelle, Bürgerrechtler, Journalisten werden als Landesverräter angeprangert und elektronisch bespitzelt. Und natürlich sind die Untertanen aufgerufen, diese zu denunzieren. Auch die totalitären Systeme, auch Hitler, Stalin, Mao versuchten die Mobilisierung der Massen gegen "Verbrecher". Die Schriftstellerin Anna Seghers schildert in "Das siebte Kreuz", wie die Bevölkerung bei der Suche nach entflohenen Lagerhäftlingen eingespannt wird, einschließlich der Kinder, die in ihren HJ-Uniformen die Bauernhöfe durchsuchen: "Und die Pimpfe, der Fritz voran, setzten einer nach dem anderen über den Waschkorb weg, und schon hörte man ihre Pfeifchen aus der Küche, aus dem Stall und den Stuben. Ping, jetzt gab es auch Scherben."

Die Freiheit des Einzelnen wird nicht nur vom Staat bedroht, sondern auch durch die Macht der internationalen Netzkonzerne. Viele Digital Natives aber, die mit höchster Alarmbereitschaft die Netzfreiheit gegen wirkliche und angebliche Angriffe der Exekutive und des Gesetzgebers verteidigen, machen sich selber in den sozialen Netzwerken zu gläsernen Menschen. Der Kritiker Andrew Keen hat das in seinem Buch "Das digitale Debakel" so beschrieben: Das Internet führe nicht zu mehr, sondern wegen der sozialen Kontrolle zu weniger Freiheit, wovon eine "elitäre Gruppe junger weißer Männer" profitiere, die Konzernchefs nämlich.

In Dave Eggers' Roman "Der Circle" sagt ein Vertreter der allmächtigen Netzfirma, die totale Transparenz, die der Konzern geschaffen habe, werde "die Demokratie vollenden". Und Mae Holland, die technikgläubige Protagonistin, feiert in einer Rede den Fortschritt: "Wie ihr wisst, ist hier beim Circle eines unserer Ziele, mit Hilfe von Social Media eine sichere und vernünftige Welt zu erschaffen." Straftäter solle man elektronisch markieren, dann werde die Polizei auch nicht mehr auf die Falschen schießen. Und die Schöpfer dieser neuen, fürchterlichen Welt tun all dies, anders als Orwells Parteiführer und Geheimpolizisten in "1984", natürlich mit den allerbesten Absichten.

Die hatte auch die New Yorker Polizei: Menschen zu schützen, weitere Anschläge zu verhindern. Man sollte das nicht leichtfertig kritisieren. Aber das eine, mehr Sicherheit, ist ohne das andere, Verlust an Freiheit, gerade in dieser Zeit unerhörter Überwachungsmöglichkeiten selten zu haben. Die freien Gesellschaften müssen hier jedes Mal eine sehr sorgsame, ehrliche Abwägung treffen, im Interesse ihrer eigenen Werte. Freiheit lässt sich dauerhaft nicht dadurch verteidigen, dass man sie immer weiter beschneidet.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: