Essay:Ich ist ein anderer

Schauspieler Will Quadflieg gestorben

Klaus Mann schrieb den Roman „Mephisto“ über einen Schauspieler, der mit den Nazis paktiert; das reale Vorbild der Figur zog vor Gericht – Manns Schwager Gustaf Gründgens. Das Bild zeigt Gründgens als Mephisto (l.) in einer „Faust“-Inszenierung von 1957 gemeinsam mit Will Quadflieg.

(Foto: Herold/dpa)

Ein Autor macht eine jüdische NS-Kollaborateurin zur Romanfigur. Ein Regisseur verfremdet das Leben eines Künstlers. Wie viel Fiktion verträgt die Geschichte?

Von Hilmar Kute

Vor gut dreißig Jahren - es war die Zeit spielerischer Nachbereitung der todernsten politisch-theoretischen Siebzigerjahre - schrieb Peter Rühmkorf einen fabelhaften Satz, der in seiner Komik und Wahrhaftigkeit ein letzter großer Aufmunterungszuruf an die verbliebene Solidargemeinschaft der Individualisten war: "Wenn ich mal richtig ICH sag, wie viele da wohl noch mitreden könnten?!"

Wenn die Antwort heute gegeben werden müsste, lautete sie wohl: Niemand außer dem Autor, nennen wir ihn Christoph Hein, der vor einigen Jahren einem Regisseur ein paar Kapitel aus seinem Leben erzählt hat, woraufhin der Regisseur einen Film gemacht hat, bei dem so viele Beteiligte mitgeredet haben, dass vom eigentlichen Ich des Schriftstellers nichts mehr zu sehen ist. Oder niemand außer dem großen Maler, nennen wir ihn Gerhard Richter, der demselben Regisseur aus seinem Malerleben berichtet hat und der im fertigen Film eine Verfälschung seines Maler-Ichs reklamiert.

Damals, in den Zeiten Rühmkorfs, galt die Regel, dass in der Kunst immer auch die Gesellschaft mit gemeint ist, wenn jemand die Geschichte eines Einzelnen erzählt. Es war zudem ausgemacht, dass sich die persönliche Schicksalsmelodie eines Menschen im Roman oder im Film zu einem allgemeinen Wiedererkennungswert steigert - ein Prozess, der mit Anverwandlung, Ausschmückung, Weglassen und Verfremdung einhergeht. Dabei maß sich der Anteil an Wahrhaftigkeit am Grad der Integrität des Autors, der sich im besten Fall nicht auf die Pole-Position des souveränen mit allen Wassern des Wissens gewaschenen Nachgeborenen zurückzog, sondern, im Gegenteil, seine Glaubwürdigkeit aus dem Eingeständnis seiner Lücken gewann.

Takis Würger versprüht historischen Goldlack. Darunter ist dann nicht viel los

Ein gutes Beispiel für eine glückliche Lebensgeschichtenaneignung ist der "Hölderlin" von Peter Härtling aus dem Jahr 1976. Härtling beginnt seine romanhafte Biografie des Dichters mit dem Verweis auf seine eigene Nichtzeitgenossenschaft, die es ihm verbiete, so zu tun, als wisse er exakt, wie ein Mann wie Friedrich Hölderlin getickt hat: "Ich weiß nicht genau, was ein Mann, der 1770 geboren wurde, empfand." Ein skrupulöser und redlicher Schriftsteller wie Peter Härtling verzichtet auf den eitlen Auftritt des Kenners und legt stattdessen dar, mit welcher Behutsamkeit er an die Geschichte eines anderen, ihm naturgemäß fern stehenden Menschen herangeht. Den bedächtigen Aufriss des tragischen Dichterlebens hätte kein Hölderlin-Nachfahre, wenn es ihn denn gäbe, als unpassend reklamiert. Zu vorsichtig, zu tastend die Hand des Biografen, der sich selbst in die Geschichte stellt, dessen Ich aber ein sehr diskretes, zweifelndes Ich ist.

Übrigens hat Härtling die skrupulöse Ich-Behandlung auch an sich selbst erprobt: In seiner autobiografischen Erzählung "Der Wanderer" zeigt er den pubertären Peter Härtling als strammen und überzeugten Hitlerjungen, der sich seiner regimekritischen Eltern schämt und dem nach 1945 nicht das Wunder der Demokratie aufs Haupt regnet, sondern ein Kübel Scham und Traurigkeit über die verloren gegangene Jungenswelt.

Diese kleine Chronik geglückter Ich-Versendung und Ich-Anwendung ist vielleicht hilfreich, um zu begreifen, warum in diesen Tagen so große Aufregung über die Adaption von Lebensläufen in Buch und Film herrscht. Zwei Autoren über zwei geschichtliche Epochen - beide auf sehr unterschiedliche Weise für uns Heutige relevant - haben zu vergleichsweise aufgeregten Debatten geführt: Takis Würger und Christoph Hein. Der Roman des Spiegel-Journalisten Würger ist eine Art Gegen-Härtling: Eine seltsame Melange aus Florian-Illies-Dokufiction und einer Art Men-Spreading-Stil führt den Leser ins Berlin der frühen Vierzigerjahre, wo die Jüdin Stella Goldschlag als sogenannte Greiferin Juden an die Gestapo verrät und ihnen somit in den meisten Fällen den Tod in der Folter oder im Konzentrationslager sichert. Der Erzähler turnt sich gewissermaßen ohne intellektuelles Zirkusdach und ohne moraltheoretisches Netz durch die Manege. Er erzählt von Tod und Verfolgung, von "jüdischer Schuld" und er tut es so, als ginge es um eine vergurkte Eskapade aus der Jugendzeit.

"Stella" ist ein flüchtig und ein wenig ungelenk geschriebenes Nazi-Kitsch-Märchen und hat damit als naher Verwandter von Bernhard Schlinks "Vorleser" gute Chancen, doch noch kanonisiert zu werden. Das Ich in diesem Roman ist ein Ich, das erstaunlich viel weiß, selbst Ereignisse, deren Relevanz sich erst in der Zukunft entfalten. Es werden ein paar Prisen historischer Goldlack auf dieses Buch gesprüht, ansonsten liest man das Ganze mühelos weg, so als würde man auf dem Smartphone rumwischen. Unter der Textoberfläche ist dann nicht mehr so furchtbar viel los, das passiert in der Belletristik öfter mal. Aber ist das Buch wirklich so skandalös, dass wir uns alle in unserer Geschichtsmoral beleidigt sehen müssen? Nein, der Wallungswert dieser Geschichte ist entschieden zu hoch bemessen.

Menasse stand als eine Art Literatur-Relotius kurz vor der Abmahnung

Wäre eigentlich in Frankreich, wo sich Autoren wie Éric Vuillard und Olivier Guez ihre Romanmodelle aus der NS-Zeit holen, wäre "Stella" auch dort unter dem Vorwurf des geschichtsethischen Rabaukentums zurückgewiesen worden? Oder hätte man das Buch als Feldversuch gewertet, jener Generation, die kaum Zeitzeugen mehr befragen kann, den Zugriff auf den Stoff zu überlassen?

Die deutsche Literatur ist sehr traditionsbezogen, und das gilt auch und besonders für das moralische Löschblatt, das man obligatorisch zwischen die Seiten von Romanen legt, die sich mit Schicksalen aus der NS-Zeit mühen. Wir können beim Thema Holocaust nun einmal nicht einfach drauflos schreiben, stimmt schon. Dafür haben wir zu getreue Gewährsleute in der deutschen und europäischen Literatur, die in der belletristischen Aufbereitung des Stoffes Maßstäbe gesetzt haben - von Grass über Kertész hin zu Primo Levi. Allerdings war die Aufregung über die "Blechtrommel", nachdem sie 1959 erschienen war, ebenfalls riesig, und das lag nicht nur an den angeblichen pornografischen Stellen. Ein zwergenhafter Junge, der nicht wachsen will, war in der Nachkriegszeit ein allzu provokativer deutscher Antiheld.

Wie viel Vertrauen setzen wir noch in die Kunst der Anverwandlung und der Verfremdung? Wer hat das Recht, einen sensiblen Ich-Stoff zu einem Kunststück zu vernähen? Das geschichtliche Empfinden ließe eigentlich die Regel gelten, je weiter eine Wahrheit zurückliegt, umso freier lässt sich nach einer guten Weile über sie schreiben oder filmen. Es gibt aber heute eine seltsame Überempfindlichkeit beim Zugriff auf den eigenen Lebenslauf und die Lebensläufe anderer. So wie ja überhaupt jedes Skandalon dazu führt, das Pendel in der einen wie der anderen extremen Richtung festzupappen. Nachdem gegen Weihnachten hin die romanhafte Fälschergeschichte des Claas Relotius zum Nachdenken über den Wert sogenannten szenischen Schreibens im Journalismus geführt hat, muss sich irgendwann nach Neujahr ein Bedürfnis nach der reinen Wahrheit auch jenseits des Journalismus, also in jeder Form der Verschriftlichung, eingestellt haben. Auch Wortführer, die zuvor vermutlich kaum die Namen Walter Hallstein und Robert Menasse gehört hatten, erbosten sich furchtbar darüber, dass der österreichische Romancier schrieb, der Begründer der Europäischen Kommission habe 1958 in Auschwitz seine Antrittsrede über die Nachteile des Nationalstaats gehalten. Menasse, der als Schriftsteller seine Textformen und die darin stattfindenden Dramaturgien und Projektionen eigentlich frei bestimmen darf, stand als eine Art Literatur-Relotius kurz vor der Abmahnung. Vermutlich hätte sich selbst Jean Paul für seine "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab" den Vorwurf der Falschdarstellung eingefangen, weil ein toter Christus ja nicht vom Weltgebäude reden könne.

Auch der aufgeregte Aufsatz von Christoph Hein - vorabgedruckt in der SZ vom 24. Januar - besteht auf einer Unantastbarkeit der eigenen Biografie des Autors. Hein ist wütend darüber, dass der Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck angeblich seine, Heins, DDR-Geschichte in einem wild assoziierten "Gruselmärchen" hat untergehen lassen. Der Filmemacher habe aus dem Stoff, den Hein ihm in Gesprächen ausgebreitet habe, etwas ganz anderes gefertigt, etwas, das einen Realhintergrund habe wie Tolkiens Mittelerde - nun ja, das ist nicht furchtbar originell. Interessanter ist da ein Begriff, den Hein sarkastisch verwendet, dessen Eigenwert aber ruhig einmal ernsthaft betrachtet werden darf: Es gebe, schreibt Hein, offenbar eine Art "melodramatische Wahrheit".

Und da möchte man dem Dichter zurufen: Ja, natürlich gibt es die. Das ist die gleiche Art von Wahrheit, die Johann Wolfgang Goethe veranlasst hat, seine Schwärmerei für die Wetzlarer Juristengattin Charlotte Kestner in eine von den Peitschen der verzweifelten Leidenschaft gestriemte Liebes- und Selbstmordgeschichte zu fassen. Die nüchterne Wahrheit ist die: Goethe war in Frau Kestner verliebt, diese aber nicht in ihn, sondern, wie es sich gehörte, in ihren Ehemann, den Reichskammergerichtslegationsrat Johann Christian Kestner. Als "Die Leiden des jungen Werthers" 1774 erschienen waren, war Kestner entgeistert darüber, als piefiger Ehemann im Erfolgsroman auftreten zu müssen. Kestner bestand auf einigen Änderungen, die Goethe für die rasch folgende zweite Auflage des Buchs diskret vornahm. Bemerkenswert ist aber eine sehr selbstbewusste Volte Goethes, auf die Rüdiger Safranski in seiner großen Biografie hinweist: "Werther muß - muß sein! - Ihr fühlt ihn nicht, ihr fühlt nur mich und euch." Das heißt nichts anderes als: Eure und meine Geschichte ist die Geschichte des Publikums und aller unglücklich Liebenden geworden. Die melodramatische Wahrheit steht über der kleinmütigen Wahrheit der privaten Rechthabereien.

Das Oberlandesgericht verbot die Publikation von Manns Roman. Aber warum?

Und welcher junge Mann in dem heute noch in aufregender Weise lesenswerten "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz durch Gesellen-Schinderei, Freitisch-Demütigung und religiöse Perversitäten getrieben wurde, weiß man auch: Es war der Autor selbst, der seine eigene Lebensgeschichte zu einem schwarzen Märchen über die Vernichtung derer verknüpfte, die unter dem falschen religiösen Symbol und im falschen sozialen Milieu auf die Welt kommen. Weil Moritz wusste, dass er mit heißem, auch fremd-biografischem Material arbeitete, kürzte er in beinahe rührender Weise die Stadt Hannover auf H. herunter und nannte seinen Schulkameraden Iffland den I., obwohl kein Zweifel an der Wiedererkennbarkeit des neben Kotzebue berühmtesten Theatermanns der Goethe-Zeit bestand.

Und schließlich gilt es, vom vielleicht größten Abmahnungsmythos der deutschen Literaturgeschichte zu erzählen, dem Roman "Mephisto", in welchem Klaus Mann den Vulkantanz des Schauspielers Hendrik Höfgen schildert, der sich durch das NS-Regime großwerden lässt. Im März 1966 entschied das Oberlandesgericht Hamburg, dass Mann in der Figur Höfgens eindeutig seinen Schwager Gustaf Gründgens als opportunistischen Regimegewinnler porträtiert habe und verbot die Publikation des Buchs, das erst 1981 in der Bundesrepublik aufgelegt wurde. Höfgen-Gründgens - der sprachliche Anklang ist unbestreitbar. Aber ist eine Person der Zeitgeschichte, die durch die Waschstraße der Fiktionalisierung geht, nicht am Ende einfach nur eine Romanfigur?

Die ambivalente Rolle von Gründgens im Dritten Reich kannte damals jeder, es wurde auch darüber geschrieben in Zeitungen, im Spiegel. Erst die Apotheose der Biografie durch den Roman macht den Skandal aus. Warum eigentlich? Weil die Literatur, die ja immer ein Modell von Wirklichkeit liefert, ein so schwer steuerbares Entfaltungsmedium ist? Weil in der Verwandlung des realen Menschen in ein romanhaftes Pendant die reale Figur an Gestalt verliert, eben zugunsten der Romanfigur, deren empfindliche Stellen durch das Kontrastmittel der Fiktionalisierung aufleuchten? Ist es die Angst, dass das Romanpendant den realen Menschen überlebt? Wenn wir uns Truman Capote vorstellen, haben wir Philip Seymour Hoffman vor Augen. Können wir uns den fiesen Polizeipräfekten Napoleons, Joseph Fouché, anders denken als durch den Blick Stefan Zweigs? Bei Stella Goldschlag werden wir wohl auf immer Takis Würgers "Stella" sehen, wie sie in der Badewanne Vicki Baum liest und Sekt mit Eiswürfeln trinkt. Und Christoph Hein hat, pardon, selbst Schuld, dass wir in der Figur des von Sebastian Koch gespielten Dramatikers Georg Dreyman künftig den Autor des "Tangospielers" und des fabelhaften Romans "Trutz" erblicken, obwohl der gar nicht gemeint war.

"Je est un autre - Ich ist ein anderer" - mit diesem Satz baute sich Arthur Rimbaud ein poetisches Königreich, das mächtiger war als seine traurige Realität eines streuendenden Handelsvertreters in Afrika. Die Frage lautet also; "Wer ist schon sein eigenes Ich?" Oder wie Takis Würger in dem Kapitel "Dank" - der interessantesten Passage seines Romans - an seinen Verleger Lendle schreibt: "Eine Frage, die ich mich nie getraut habe zu stellen, Jo: Heißt du echt 'Jo'?"

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