Essay:Ich bin so frei

Essay: Liberal ist auch, wer die Meinung der anderen gelten lässt: Das Denkmal für Karl Marx und Friedrich Engels nahe dem Roten Rathaus in Berlin im Wendejahr 1990.

Liberal ist auch, wer die Meinung der anderen gelten lässt: Das Denkmal für Karl Marx und Friedrich Engels nahe dem Roten Rathaus in Berlin im Wendejahr 1990.

(Foto: Ullstein Bild)

Unser Autor hält sich für liberal, weil er an die Kraft des Individuums glaubt. Andere verdammen ihn als neoliberalen Ultra. Wie konnte das alles so kommen? Eine Verteidigung.

Von Nikolaus Piper

In Frankfurt lebt ein bekannter linker Kulturschaffender, der sagte mir einmal: "Wenn man deine Artikel so liest, würde man niemals auf die Idee kommen, dass du ein netter Mensch bist." Das war als Kompliment gedacht. Andere lassen die Sache mit dem netten Menschen weg und sagen gleich: "Sie sind doch ein neoliberaler Ultra."

Ich gestehe, dass ich immer noch zusammenzucke, wenn ich "neoliberal" als Schimpfwort höre. Es ist doch nicht lange her, da verstanden sich gebildete Menschen in der Regel irgendwie als liberal, selbst wenn sie nie auf die Idee gekommen wären, FDP zu wählen. Ich selbst bin noch heute angerührt, wenn ich Kurt Tucholskys wunderbares kleines Feuilleton "Blick in die ferne Zukunft" lese: " . . . dann wird es eines Tages wieder sehr modern werden, liberal zu sein. Dann wird einer kommen, der wird eine geradezu donnernde Entdeckung machen: er wird den Einzelmenschen entdecken." Ich hielt es immer für gegeben, dass der Einzelne sich um seine wirtschaftlichen Belange selbst kümmert und der Staat den Menschen die großen Risiken abnimmt, während diese die Verantwortung für die kleinen Risiken selbst tragen. Plötzlich scheine ich mit dieser Meinung in der Minderheit zu sein.

"Alle Politik muss die Anarchie zum Ziel haben", schrieb der Autor. Da war er 17 . . .

"Liberal" mit dem Zusatz "neo" ist ein Schimpfwort, schlimmer noch als "Kommunist" in den Fünfzigern. Das Schimpfwort trifft jene Politiker, die die Finanzmärkte im Unverstand deregulierten. Kritik haben sie verdient, aber sie deregulierten ja nicht aus liberaler Gesinnung, sondern weil sie die Risiken nicht verstanden. Das Schimpfwort trifft Gerhard Schröder, der mit einer "Agenda 2010" den Sozialstaat effizienter machen sollte und trotz seines durchschlagenden Erfolgs dafür angefeindet wurde. Und das Schimpfwort trifft mich, der bis heute nicht begriffen hat, worin der Unterschied zwischen liberal und neoliberal liegen soll.

Ein Problem liegt darin, dass die großen liberalen Köpfe so rar geworden sind. Es gibt keinen Ralf Dahrendorf, dem ich einst im Biberacher Wieland-Gymnasium zuhörte, keinen Ökonomen wie Herbert Giersch, der liberale Wirtschaftspolitik mit sprachlicher Brillanz, analytischer Schärfe und Witz erklären konnte. Die alte FDP ist bei der letzten Bundestagswahl auch deshalb so abgestraft worden, weil sie zu den Krisen der Gegenwart nichts Substanzielles zu sagen hatte. Ob unter Christian Lindner wirklich eine neue FDP entsteht, muss man erst noch sehen.

Zeit also für einen Rückblick auf meinen eigenen Weg zum Liberalismus. Kein Zweifel, ich habe links begonnen. Mit 17 postulierte ich einmal in einem Aufsatz "Alle Politik muss die Anarchie zum Ziel haben". Der Deutschlehrer kommentierte das mit rotem Füller und feiner Schrift: "Sie sprechen ein großes Wort gelassen aus" - und gab mir trotzdem eine Eins. Es war eine meiner ersten Erfahrungen mit klassisch-liberaler Haltung. Als meine Mutter für die SPD in den Gemeinderat gewählt wurde, sagte unser Pfarrer: "Die Frau Piper ist nur deshalb so links, weil ihr Sohn Kommunist ist." Das war ein Missverständnis. Der Pfarrer hatte meine Haar- und Barttracht - eine Mischung aus Karl Marx und Frank Zappa - mit Kommunismus verwechselt. Mit dem hatte ich nichts am Hut, auch deshalb, weil meine Tante Marianne in Leipzig lebte und sehr farbig von ihren Begegnungen mit der Arbeiter- und Bauernmacht zu erzählen wusste.

Außerdem war da noch der Prager Frühling. Die tschechischen und slowakischen Kommunisten probierten 1968 eine Mischung aus Liberalismus und Sozialismus, also genau das, was ich auch wollte. So sah ich das jedenfalls. Entsprechend atemlos saß ich abends immer vor meinem Transistorradio und hörte das deutsche Programm von Radio Prag auf Kurzwelle. Entsprechend war meine ohnmächtige Wut, als die sowjetischen Panzer durch die Tschechoslowakei rollten.

Trotzdem war ich damals, wie die meisten, für die Verstaatlichung der Wirtschaft. Im Nachhinein erscheint das ziemlich verrückt, schließlich hatte man ja die DDR vor Augen. Mir wollte allerdings von Anfang an nicht einleuchten, was gewonnen gewesen wäre, hätte man dem netten Herrn Kressin aus unserem Kirchenchor seine Maschinenfabrik weggenommen.

Auch Antiamerikanismus gehörte damals zum Kodex, schließlich hatten die Amerikaner in Vietnam genug Anlass geliefert. Aber dann kam mein Freund Gerhard eines Tages mit einem rosa Taschenbuch daher. Es hieß "Unterwegs" und war die Übersetzung des berühmten "On the Road", in dem Jack Kerouac, der Held der Beat-Generation, atemlos seine Trampfahrten aufgeschrieben hatte. Ich verschlang das Buch und beschloss, selbst in die USA zu reisen und Kerouac für mich zu inszenieren. Und wer einmal per Greyhound und Anhalter von New York über Memphis, El Paso und San Diego nach San Francisco gefahren ist, der kann nicht mehr antiamerikanisch sein.

Volkswirtschaft habe ich studiert, wie die meisten Ökonomen, weil ich die Welt verbessern wollte. Die Universität Freiburg schien mir der richtige Ort zu sein, um dies zu tun. Es war eine Zeit der Umbrüche. Im Wintersemester 1973/74 ging das deutsche Wirtschaftswunder endgültig zu Ende. Der Ölkrise folgte die erste schwere Rezession der immer noch jungen Bundesrepublik. Plötzlich gab es Massenarbeitslosigkeit, dem Staat ging das Geld aus, der Sozialstaat wurde zu teuer. Es begannen die Jahre der "Stagflation", der Kombination von Inflation, Arbeitslosigkeit und geringem Wachstum. Die Bundesrepublik wurde unter Helmut Schmidt noch am besten mit der Lage fertig, anderswo, besonders in den USA und Großbritannien, löste die Stagflation schwere gesellschaftliche Krisen aus. Ein Paradigmenwechsel stand an. Der Staat hatte das in ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt, jetzt schwang das Pendel in Richtung Markt zurück.

Mein persönlicher Paradigmenwechsel fand am 6. Februar 1979 statt. An diesem Tag hielt der radikalliberale Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek in der Freiburger Aula seine heute berühmte Rede "Wissenschaft und Sozialismus". Der Text war damals provozierend und ist es noch heute ("Ich muss gestehen, wenn Sie auch darüber entsetzt sein werden, dass ich nicht sozial denken kann, denn ich weiß nicht, was das heißt.") Aber die Rede zwang einen, sich mit der Gedankenwelt Hayeks auseinanderzusetzen. Zum Beispiel mit seinem Satz vom "Markt als Entdeckungsverfahren": In einer Marktwirtschaft enthält jeder Preis Informationen, er enthält auch eine Aufforderung zum Handeln (kaufen, verkaufen, investieren, sparen). Wird dieser Mechanismus unterbunden, dann ist nicht nur der Wohlstand, sondern auch die Freiheit gefährdet.

Man solle die Erfolge des Kapitalismus "philosophisch negieren", riet Che Guevara

Dann kam der 9. November 1989, die Berliner Mauer fiel, mit ihr brach der real existierende Sozialismus zusammen, und zwar aus genau den Gründen, die Hayek genannt hatte. Es gab niemals realistische Preise, den sozialistischen Planern fehlten die Informationen, Innovation wurde absurd teuer, Freiheit war nicht möglich.

Damals berichtete ich für die Zeit über den Umbruch im ehemaligen Ostblock, wobei ich das Privileg hatte, einige Helden dieses Umbruchs kennenzulernen. So saß ich im Frühjahr 1990 in der Amtsstube von Valtr Komárek in Prag, einem Ökonomen, der nach dem Sturz der Kommunisten stellvertretender Ministerpräsident geworden war. Während des Prager Frühlings hatte Komárek am Programm der Reformkommunisten für eine "sozialistische Marktwirtschaft" mitgewirkt. Während der bleiernen Jahre nach dem Einmarsch der Roten Armee in die Tschechoslowakei überwinterte Komárek in verschiedenen Instituten, jetzt machte er sich daran, den Sozialismus in seinem Land abzuschaffen.

Komárek erzählte mir diese Geschichte: 1964 war er nach Kuba gereist, um Fidel Castros Revolutionäre kennenzulernen. Einmal diskutierte er mit ein paar jungen Kubanern, darunter Castros Industrieminister Ernesto Che Guevara, eine ganze Nacht lang über die Zukunft, 14 Stunden lang. Er habe Guevara dabei tief depriminiert erlebt, sagte Komárek. Nach Reisen durch die Sowjetunion und China war Guevara eine Erkenntnis gekommen: "Er sah keine Möglichkeiten mehr, dass der Sozialismus in diesem Jahrhundert die entwickelten kapitalistischen Länder wirtschaftlich überholt." Also sollten die Kommunisten den Versuch aufgeben und stattdessen die Erfolge des Kapitalismus "philosophisch negieren", sie als "nicht notwendig für den Menschen erkennen".

Nach dem schmählichen Ende des real existierenden Sozialismus, nach all den Absurditäten, die dabei ans Tageslicht kamen, glaubte ich zwar nicht mit Francis Fukuyama an das "Ende der Geschichte", ich konnte mir aber auch nicht vorstellen, dass der Sozialismus zu meinen Lebzeiten noch einmal Anhänger finden würde.

Das war ein Irrtum. Es begann der Kampf gegen den Neoliberalismus. Zunächst erwischte mich dieser Kampf auf dem falschen Fuß. Ich dachte an das berühmte Kolloquium, zu dem der amerikanische Liberale Walter Lippmann 1938 Gleichgesinnte aus dem bedrängten Europa versammelt hatte und auf dem zum ersten Mal der Begriff "Neoliberalismus" fiel. Die Teilnehmer hätten nicht unterschiedlicher sein können, vom Konservativen Wilhelm Röpke über den klassischen Liberalen Friedrich August von Hayek bis zum Sozialliberalen Alexander Rüstow. Sie alle einte nur ihre Feindschaft gegen die Nazis und der Wille, aus alten Fehlern des Liberalismus zu lernen.

Wenn etwas unangenehm, ungewohnt und unpopulär ist, dann ist es gleich mal neoliberal

Irgendwann begriff ich, dass die, die auf den "Neoliberalismus" schimpften, etwas ganz anderes meinten. Die meisten kannten Lippmann gar nicht. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu schrieb 1998 im linken Le Monde Diplomatique: "Was ist Neoliberalismus ? Ein Programm zur Zerstörung kollektiver Strukturen, die die pure Marktlogik stören könnten." "Neoliberal", also böse, ist schon Kritik an der Rolle des Staates und die Begrenzung dieser Rollet, "neoliberal" ist das bloße Konzept der Wettbewerbsfähigkeit, "neoliberal" ist jeder, der "kollektive Strukturen" infrage stellt. Letztlich ist die Kritik am Neoliberalismus auch eine Fundamentalkritik am Liberalismus selbst und seiner Wirtschaftsordnung. Und niemand scheint die Gefahr zu sehen, dass sich diese Ablehnung der Wirtschaftsordnung auch sehr schnell gegen die liberale Gesellschaftsordnung und ihre Freiheiten richten könnte.

In jüngster Zeit muss ich immer häufiger an Valtr Komárek denken und seine Geschichte aus Kuba. Könnte es sein, dass sich die Kritiker des Neoliberalismus an die Devise von Che Guevara halten: den Kapitalismus "philosophisch zu negieren", ohne eine Alternative zu haben, ohne Rücksicht auf die Kosten? Es sind nicht nur radikale Kritiker, die den Liberalismus mit klaren Lügen denunzieren (die gibt es auch). Schlimmer ist ein antiliberales Grundrauschen, das sich überall ausbreitet. Wenn etwas unangenehm, ungewohnt oder unpopulär ist, dann ist es neoliberal. "Stuttgart 21 ist kein Bahnhof, sondern ein neoliberales Schlüsselprojekt", behauptete einmal eine Gruppe christlicher Demonstranten. Warum sagte damals niemand: Nein, ein Bahnhof ist nicht liberal, er ist ein Bahnhof. Liberal ist, wenn man dagegen demonstrieren kann. Liberal ist aber auch, wenn der Bahnhof nach einem ordentlichen Verfahren wirklich gebaut wird.

Und ich selbst? Ich berichtete acht Jahre lang für die Süddeutsche Zeitung aus New York. Amerikanischen Gesprächspartnern sagte ich dabei oft: "I am a liberal", was in den USA ein Synonym für "sozialdemokratisch" ist. Ich lehne die meisten Dinge ab, die von der amerikanischen Rechten kommen: den ungehemmten Zugang zu Waffen, die Todesstrafe, die Leugnung des Klimawandels. In Deutschland bin ich dagegen klassisch liberal, weil ich nicht immer gleich nach dem Staat rufen will und weil ich den Konformitätsdruck der Kollektive ablehne.

Und noch ein Zusatz aus aktuellem Anlass: Ich bin auch deshalb liberal, weil Einwanderungspolitik nur dann gelingen kann, wenn sich die Gesellschaft auf das Wohlergehen des Einzelnen - Migrant oder Einheimischer - konzentriert und wenn sie aufhört, auf Kollektive zu starren.

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