Süddeutsche Zeitung

Essay:Empört Euch!

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62 Reiche sollen zusammen genauso viel besitzen wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Diese Zahl schockierte unseren Autor. Doch was ihn fast noch mehr traf: Damit steht er scheinbar alleine da.

Von Martin Zips

Es war in der fünften Klasse, als bei einem Schüler plötzlich Panik ausbrach. Seine Mitschüler hatten in einem Klassenzimmer Feuer gelegt, die Flammen drohten auf die Vorhänge überzuspringen, da rannte der Junge in heller Aufregung auf den Gang, dem Lehrer Hanselmann direkt in die Arme. "Herr Hanselmann, Herr Hanselmann!", schrie der Schüler sehr aufgeregt. "Es brennt! Es brennt!" Hanselmann, der wegen seiner beeindruckenden Kenntnisse der griechischen und römischen Mythologie allgemein sehr geschätzt wurde, reagierte unerwartet gleichgültig: "Jetzt komm", sagte er unfassbar ruhig, "steck dir doch erst mal das Hemd in die Hose und atme tief durch." Auch die anderen Schüler schienen angesichts des drohenden Großbrandes nicht sonderlich entsetzt zu sein. Grinsend beobachteten sie, wie Hanselmann dem Fünftklässler bessere Manieren beibringen wollte und schlurften in Richtung Pausenhof. Das Feuer hat dann der Hausmeister gelöscht.

Dieser Tage nun ließ einen diese Nachricht senkrecht im Bett stehen: "62 Menschen gehört zusammen genauso viel wie der gesamten ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung." So meldete es der Radiowecker unter Berufung auf eine neue Studie der Hilfsorganisation Oxfam.

"Und jetzt zum Wetter."

Die Zahl ließ einen nicht mehr los. 62 Supersuperreiche auf der einen Seite, die zusammen genauso viel haben wie 3,7 Milliarden Menschen auf der anderen Seite. Sollte die Zahl auch nur ansatzweise stimmen, so würde doch mit Sicherheit jetzt ein Aufschrei durchs Land gehen, ja, über die ganze Welt.

Man ging zum Bäcker, kaufte sich ein paar Zeitungen, stieg in die U-Bahn und suchte Menschen, mit denen man über den riesigen Spalt zwischen Arm und Reich diskutieren konnte. Mittlerweile hatte man herausgefunden, dass Oxfam im Jahr 2010 noch von 388 Superreichen gesprochen hatte. Vier Jahre später waren es nur noch 80. Oxfam ist ja nicht irgendeine Organisation. Sie arbeitet weltweit dafür, dass Menschen in ärmeren Ländern einen sicheren Arbeitsplatz und Zugang zu Bildung und Nahrung haben. Unabhängig von Nationalität, Religion und Geschlecht. Eine der Fragen, die man sich nun stellte, war: Werden es im Jahr 2020 womöglich nur noch zehn Personen sein, denen die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung gegenüber steht? Und im Jahr 2025?

Der Tennis-Skandal interessiert viele. Die Oxfam- Zahlen eher nicht

Man dachte an Heinrich Heines Gedicht "Weltlauf": "Hat man viel, so wird man bald/Noch viel mehr dazu bekommen./Wer nur wenig hat, dem wird/Auch das Wenige genommen./Wenn du aber gar nichts hast,/Ach, so lasse dich begraben -/Denn ein Recht zum Leben, Lump,/Haben nur, die etwas haben."

Die Leute, die man so traf, sprachen aber über ganz andere Dinge. Über den Rekord-Jackpot in den USA, dessen Millionen sie so gerne selber auf dem Konto hätten. Über den Tod von David Bowie oder ob man gestern "Wer wird Millionär?" gesehen habe. Da sei ein dicker Kandidat auf dem Jauch geritten wie auf einem Pferd.

Sie plauderten, dass der Maschmeyer bald Juror in einer Show sei, die "Die Höhle der Löwen" heiße, sie diskutierten, warum Gunter Gabriel das Dschungelcamp so früh verlassen hat. Sie fragten, ob man nicht auch empfinde, dass das Welt-Tennis durch den Bestechungsskandal ganz schön erschüttert werde. Oder, ob der Söder sich heimlich über Seehofers Schwächeanfall gefreut habe.

Es war ein Gefühl, als treffe man am "Zauberberg" noch einmal all die weltentrückten Figuren, mit denen schon Hans Castorp sieben Jahre verbracht hat. Die Leger von Patiencen, die Fotografen, Schokoladenfresser und Briefmarkensammler. Und man musste an Hans Magnus Enzensbergers Gedicht "Über die Schwierigkeiten der Umerziehung" denken: "Wenn es um die Befreiung der Menschheit geht/laufen die Leute zum Friseur".

Also wartete man jetzt die Hauptnachrichtensendungen ab, die Diskussionen im Netz und die Zeitungskommentare. Wie Loriot in seinem Sketch hatte man den Eindruck, dass da was ziemlich schief ist, an der Wand. Aber bevor man nun selber aufsteht und alles umschmeißt, wird doch sicher jemand reinkommen und einem das schiefe Bild mal gerade rücken. Da und dort tauchte das Thema dann tatsächlich in den Medien und sozialen Netzwerken auf. Aber recht klein. Kein Aufschrei, wie bei anderen Themen. Zum Beispiel, wenn es um Sexismus oder Rassismus geht.

Es schnürte einem die Luft ab. 62 Superreiche! Man hatte das Gefühl, dass man gerade bei Monopoly eine Straßenkarte nach der anderen umdreht, doch auch mit immer neuen Hypotheken seine Schulden einfach nicht mehr abbezahlt bekommt. Am liebsten würde man das Spiel jetzt sofort beenden und noch einmal ganz von vorne beginnen. Doch der, dem die Schlossallee gehört, sagt, das Spiel mache doch gerade so viel Spaß. "Steck Dir doch lieber mal das Hemd in die Hose und atme tief durch."

Nun las man allerlei Artikel, die sich etwas genauer mit der Oxfam-Studie befassten. In einem stand, das mit den 62 Superreichen stimme wahrscheinlich gar nicht. Es könnten nämlich, je nach Berechnung, auch 59 oder 224 Superreiche sein.

In einem anderen Artikel stand, man könne sich nicht des "Eindrucks erwehren, dass die Ursachen des beklagten Phänomens schon vor Studienbeginn feststanden". Außerdem, so schrieb ein weiterer, wüchsen Mittelschicht und Realeinkommen ja gerade. Kein Grund zur Panik also. Wieder ein anderer bemerkte: "Den meisten Zahlen zu dem Thema kann man nicht trauen." Die Reichen-Liste des Wirtschaftsmagazins Forbes mit dem von der Bank Credit Suisse errechneten Weltvermögen einfach mal so zu kombinieren, das sei nicht seriös. Wer die Oxfam-Zahlen ernst nehme, so las man, der sei sogar ein "Idiot". Und überhaupt: "Eine langsam wachsende Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft" könne man auch durchaus "als gutes Zeichen anhaltender Stabilität deuten". Wie bitte?

Die Internet-Satire-Zeitung Der Postillion immerhin witzelte: "62 fleißigste Menschen genauso reich wie 3,7 Milliarden faulste Menschen zusammen." So ein bisschen Zynismus tat gut. Und irgendjemand postete auf Facebook: "Das haben sie nicht, die Superreichen: Das glockenhelle Lachen der Nachbarskinder über die Schrottkarre, die bei Minustemperaturen nicht anspringt (. . .) und das Gefühl von Regen auf der Haut, wenn der Bus nicht kommt."

Tausende Hanselmänner verlieren sich im Kleinklein und sehen das große Ganze nicht

Dennoch plagte einen dieses saure Gefühl, welches gelegentlich auch Zuschauer von Talkshows plagt. Einer der Gäste hat gerade eine wirklich gute Idee zur Lösung eines großen Problems vorgestellt, jetzt also könnte was passieren, das Studio-Publikum klatscht begeistert, schon wird zu Caren Miosga ins Tagesthemen-Studio geschaltet und die Sendung ist aus. Und jetzt?

Während die Diskussion über die Oxfam-Studie ("fragwürdig", "unglaubwürdig", "wahrscheinlich frisiert") multimedial schon bald wieder abebbte, dachte man immer noch darüber nach, ob es eigentlich irgend einen Unterschied macht, ob es nun 62 oder 224 Menschen sind, denen exakt so viel gehört wie den 3,7 Milliarden anderen. Geht es hier nicht einfach um ein skandalöses Missverhältnis, dessen Existenz auch grundsätzlich niemand anzweifelt? Nur: Warum formulierte das keiner so?

So wie damals in der Schule sah man wieder etwas lodern. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Plötzlich sah man sich nicht nur einem, sondern gleich Tausenden von Hanselmännern gegenüber, die quatschten und quatschten und diese oder jene Formalie kritisierten, die sich im Kleinklein verloren, aber das große Ganze nicht sahen. Und diesmal gab es noch nicht mal einen Hausmeister, der den Brand hätte löschen können.

Es ist ja gut und wichtig, dass dieser Tage so leidenschaftlich über Flüchtlingsströme, Terror und die Zukunft Europas diskutiert wird. Zugleich ist es erschreckend, wie wenig über die Zusammenballung des Kapitals in den Händen einiger weniger geredet wird. Da könnte es nämlich einen Zusammenhang geben.

"Empört Euch", hatte der französische Intellektuelle und Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel einst die Jugend im Kampf gegen den Finanzkapitalismus ermahnt. Gleichgültigkeit gegenüber den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen sei doch "das Schlimmste, was man sich und der Welt antun" könne. Und auch Papst Franziskus erneuert immer wieder seine Kritik an diesem einen, "an der Wurzel ungerechten" Wirtschaftssystem. Vor zwei Jahren schien die Welt noch weiter zu sein. Da diskutierte sie - teilweise sogar recht leidenschaftlich - die Thesen des französischen Ökonomen Thomas Piketty. Piketty hatte in seinem Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" klargestellt, dass Vermögenskonzentration und wachsende Ungleichheit einerseits zum Kapitalismus gehören, andererseits aber Demokratie und Wirtschaft gefährden.

Im Ameisenhügel der sozial und asozial verlinkten Dauerquassler

Neu war das schon damals nicht. "Der Kapitalismus handelt nur nach den Geboten kältester Zweckmäßigkeit", so hatte es Carl von Ossietzky, von den Nazis verfolgt und mit dem Friedensnobelpreis geehrt, bereits im Jahr 1929 ausgesprochen. "Kapitalismus kennt nicht Sentimentalität, nicht Tradition. Er würgt, wenn es sein muss, schnell und sicher den Verbündeten von gestern ab und fusioniert sich mit dem Feind."

Doch wo sind die Ossietzkys heute? Wo sind die Pickettys, die gebetsmühlenartig und parteiunabhängig wiederholen, dass die Superreichen vor allem deshalb immer reicher werden, weil ihre Kapitalerträge höher sind als Wirtschaftswachstum und Reallohnzuwachs? "Fuck-you-money", wie man das leistungsunabhängig schön sprudelnde Geld schon unter Business-Schülern nennt.

Und wie könnten die Mahner endlich genügend Gehör finden, im Ameisenhügel der sozial und asozial verlinkten Twitter-Facebook-Dauerquassler? Wo ist die Öffentlichkeit, die den ein oder anderen Hoppla-Hashtag einfach mal ignoriert, um sich endlich um das wirklich Relevante zu kümmern? Zum Beispiel um die Bewahrung eines globalen, stets am Schwachen ausgerichteten Wertesystems sowie um schärfste Sanktionen für all jene, die nichts anderes anstreben, als die weitere Vergrößerung ihres Vermögens auf Kosten anderer.

In der Psychoanalyse gibt es - ganz grob gesagt - drei Schulen in der Frage nach dem Glück. Erstens: Macht und Geld (frei nach Alfred Adler). Zweitens: Sex (frei nach Sigmund Freud). Drittens: Sinn (frei nach Viktor Frankl). Woran es uns dieser Tage am meisten fehlt, das ist Sinn. Gemeinschaftssinn. Etwas, das man früher einmal Moral genannt hätte.

Natürlich: Unter den 62 bis 224 Superreichen finden sich Leute wie Bill Gates (gut 80 Milliarden Dollar), der mit viel Geld auch sinnvolle Forschungsprojekte unterstützt. In der kleinen Gruppe der Multimilliardäre finden sich auch einige soziale Aufsteiger wie der ehemalige Englischlehrer und heutige Alibaba-Chef Jack Ma, dessen Unternehmen sehr vielen Menschen Arbeit gibt. Das immerhin macht Sinn.

Alles hingegen, das den Graben zwischen den (selbstverständlich auch von deutschen Konzernen, Krankenhausbetreibern und Hoteliers sehr umworbenen) Reichen und dem nicht allein auf dem Mittelmeer verendenden Rest der Welt weiter und weiter vergrößert, das ist und bleibt zutiefst lebensverachtend.

Sicher, auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum werden sie über all das bestimmt viel, klug und ausgiebig geredet haben. Seltsam nur, dass viele der dort tonangebenden Unternehmen laut Oxfam mindestens eine Niederlassung in einer Steueroase besitzen. Mit diesem Geld könnte man doch auch was für die Allgemeinheit tun.

Ja, es brennt mal wieder. Und tief durchatmen bringt nichts. Also empört euch endlich über die wirklich relevanten Themen. Empört euch. Jetzt.

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Quelle:
SZ vom 23.01.2016
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