Diskussion über Menschen mit Depressionen:Die im Dunkeln

Diskussion über Menschen mit Depressionen: Illustration: Katharina Gschwendtner

Illustration: Katharina Gschwendtner

Nach dem Flugzeugabsturz in den Alpen stehen psychisch Kranke unter Generalverdacht. Das ist ein großer Irrtum: Sie brauchen Hilfe.

Von Werner Bartens

Wir machen uns etwas vor. Zwar wird nach dem Absturz der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen permanent von krankhafter Schwermut und anderen Leiden der Seele geredet. Doch die Deutungen über Wahn und Seelenqual des Copiloten führen kaum dazu, dass mehr bekannt wird über die Vielfalt der psychischen Leiden, über ihre Verbreitung und darüber, wie unberechenbar der Verlauf und wie schwierig die Heilung sind.

Vielmehr gilt jeder Seelenkranke nun als potenziell bedrohlich. Psychische Leiden und besonders die psychisch Leidenden stehen plötzlich unter Generalverdacht.

Wir fühlen uns hilflos und überfordert angesichts des monströsen Ereignisses. Das ist verständlich, ebenso wie die Sehnsucht nach einer Erklärung für den Absturz von Flug 4U9525. Was wir brauchen, sind aber keine Schuldzuschreibungen und keine vorschnellen Urteile über Menschen mit Depressionen. Vielmehr ist ein besseres Verständnis der Krankheit und der Kranken nötig.

Auf intelligente Weise zu helfen, ist allerdings nicht einfach, denn überall, am Arbeitsplatz, in der Familie wie im Freundeskreis, besteht die Gefahr, dass die Beschwerden vertuscht werden. Weil sich die Kranken schämen und Angst haben, dass ihr Leid entdeckt wird. Die Diskussion über die "Wahnsinnstat", die im Netz vielfältig kommentiert worden ist, verstärkt diese Tendenz, statt sie zu entschärfen.

Deutsche Depressionshilfe warnt vor Stigmatisierung

Auch deshalb warnt der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, Ulrich Hegerl, vor einer Stigmatisierung: "Das kann dazu führen, dass Betroffene weniger offen mit ihrer psychischen Erkrankung umgehen, diese öfter nicht erkannt und behandelt wird und wir letztendlich nicht weniger, sondern deutlich mehr tragische Todesfälle haben."

Depressive fühlen sich auf so vielfältige Weise schlecht, dass es keine allgemeingültigen Zeichen dafür gibt. Manche erleben Hochs und Tiefs, andere sind nur niedergeschlagen. Manche kriegen ihren Tagesablauf ab und zu geregelt, andere nie.

Als "Rost der Seele, Fäulnis des Geistes, eine Hölle eigener Art" beschreibt Robert Burton in seiner 1621 erschienenen "Anatomie der Schwermut" die Niederungen der Depression. Sie ist ein vielgestaltiges Monster; wer sie erleidet, fühlt sich allein, frustriert, ausgeliefert. Die Krankheit zu erleben und zu überleben, erfordert ein großes Maß an Energie.

Wie die anderen, die Gesunden, damit umgehen, ist nicht immer hilfreich. Meist gut gemeint, nicht gut gemacht. Depression ist eben nicht nur ein Übermaß an Traurigkeit. Niedergeschlagene Stimmung spielt eine Rolle, aber das ist längst nicht alles. Beim einen stehen Erschöpfung und Schmerzen im Vordergrund, manchmal Unruhe und Agitiertheit, mal fehlender Appetit, dann ein Übermaß davon.

Beim anderen überwiegt Teilnahmslosigkeit, dieses Nulllinien-Gefühl, die Dunkelheit, dieses Nichts. Keine Freude und auch keine Trauer werden empfunden, keine Resonanz, da schwingt nichts mehr. Gleichgültig bleibt alles, was von außen kommt.

Umgang mit Kranken ist oft falsch

Die Empfehlung, sich "einfach mal zu freuen" und die schönen Seiten des Lebens zu genießen, hilft Depressiven nicht weiter. Sie verharmlost das Leiden und gibt Kranken das Gefühl, dass sie sich nur ein bisschen anstrengen müssten, dann wären sie auch nicht mehr depressiv. Die Kranken werden als Verursacher ihres Leidens beschuldigt; "victim blaming" lautet der Fachbegriff dafür. Ein perfider Mechanismus, der die Verantwortung den Betroffenen zuschiebt, die sich zurückziehen, unverstanden und beschämt.

Dass man sich "gar nicht vorstellen kann", wie sich eine Depression anfühlt, ist ebenfalls eine Bemerkung, die Kranke zurückstößt, statt sie zu unterstützen. Natürlich kann man sich das nicht vorstellen! Was Depressive durchmachen, ist einmalig. Selbst Menschen mit Depression können sich oft nicht vorstellen, wie es anderen Depressiven geht. Sie sind allein auf ihrer Reise.

Es verwundert daher nicht, dass eine Depression von vielen als Versagen empfunden wird, als Schwäche. Man hat es nicht geschafft, war nicht stark genug, um seelisch stabil zu bleiben, so das verbreitete Bild. Viele Betroffene schämen sich, haben Angst, dass ihre Krankheit bekannt wird und es ist ihnen peinlich, sich zu ihrem Leiden zu bekennen. Wenn sie noch genug Antrieb besitzen, tun sie viel dafür, dass ihnen geholfen wird. Deshalb sind Bemerkungen wie "Kann man das nicht heilen?" oder "Hilft vielleicht das dagegen?", nicht wirklich nützlich.

Schwierige Behandlung

Obwohl es etliche Therapieansätze gibt, bleiben viele Menschen chronisch depressiv, manche ihr Leben lang. Etliche Behandlungen - ob pharmakologisch oder psychotherapeutisch - bringen immerhin Linderung, aber keine Heilung. Weniger als 50 Prozent der Depressiven nehmen Hilfe in Anspruch. Fachleute führen dies darauf zurück, dass die Betroffenen Nachteile befürchten, sollte ihre Diagnose bekannt werden.

Wenn, wie in den vergangenen Tagen, darüber diskutiert wird, ob von Depressiven eine Gefahr ausgeht und die ärztliche Schweigepflicht gelockert werden sollte, verfestigt sich der Eindruck der Betroffenen, diskriminiert zu werden.

Kein Leiden wie jedes andere

Der aufgeklärte Bürger tut trotzdem gerne so, als ob eine Depression ein Leiden wie jedes andere wäre. Ist es aber nicht, reine Selbsttäuschung. Auch unter Krankheiten gibt es eine Hierarchie. Da sind die Fünf-Sterne-de-Luxe-Beschwerden - und es gibt jene Erkrankungen, die nichts gelten und die schlecht angesehen sind. Es ist eben etwas anderes, ob man sich im Gebirge kurz vor der Sauerstoffmaskengrenze den Knöchel bricht - oder ob man mit Depressionen in psychiatrische Behandlung muss.

Der Mangelversorgung vieler psychisch Kranker steht die Ausweitung von Krankheitszuschreibungen auf normale Varianten des Lebens und Erlebens gegenüber. Soziologen und Medizinhistoriker haben gezeigt, wie sich die Diagnose Depression mit der Einführung neuer Psychopharmaka in den Neunzigerjahren vervierfacht hat und aus normaler Trauer eine krankhafte Störung gemacht wurde.

Ärzte und Psychologen wissen, dass Suizide fast ausschließlich allein ausgeführt werden. Ein erweiterter Suizid, bei dem vor der Selbsttötung andere umgebracht werden, ist äußerst selten. Zumeist handelt es sich um nahe Angehörige, die der Betroffene nicht in der Situation zurücklassen möchte, die er als so ausweglos empfindet.

Copilot Andreas Lubitz hat, nach allem, was bekannt ist, bei etlichen Ärzten und Therapeuten Rat gesucht - genauso akribisch hat er aber auch versucht, sein Leiden geheim zu halten. Er hatte Angst, nicht mehr fliegen zu dürfen und seinen Lebenstraum zu verlieren. So hat er weder einem Arzt noch seinem Arbeitgeber umfassend Einblick in seinen Seelenschmerz gewährt.

Es gibt keine diagnostische Abklärung

Ein umfassender Einblick ist auch gar nicht möglich. Es gibt keine Blutuntersuchung auf Depression, keine Schädel-CT, keinen Gentest und keine andere diagnostische Abklärung, mit denen die Erkrankung sicher vorausgesagt werden könnte, und es wird sie auch nie geben. Der Wunsch nach einer Erklärung, nach einer Diagnose für das, was zu dem schrecklichen Ereignis führte, verengt den Blick.

Allerdings hat die Psychiatrie selbst zu diesem reduktionistischen Blick beigetragen. Gen-Varianten, Nervenerregungen im Gehirn, Rezeptorbindungen wurden mannigfach untersucht. Die biologistische Forschung wurde stärker unterstützt als die Suche nach psychischen und sozialen Faktoren, die seelisches Leid begünstigen.

Eine psychische Störung entsteht jedoch aus individuellen Entwicklungen, psychosozialen Belastungen und den biologischen Voraussetzungen, die bei jedem unterschiedlich sind.

"Bei manchen Menschen können eine schwierige Persönlichkeitsentwicklung mit Selbstwertproblemen, übermäßiger Ehrgeiz und belastende aktuelle Lebensumstände für ihr Handeln viel entscheidender sein als eine gleichzeitig bestehende akute psychische Störung", schreibt Iris Haupt, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.

Depressionen - ein Leiden am Rande der Gesellschaft?

Depressionen und andere psychische Leiden gelten als Leiden am Rande der Gesellschaft. Es ist erst 40 Jahre her, dass die Reformpsychiatrie sich dafür eingesetzt hat, die "Irrenhäuser" von der sprichwörtlich grünen Wiese abseits der Gemeinwesen in die Städte zu holen. Auch äußerlich sollte auf diese Weise ein Zeichen gesetzt werden, dass die Übergänge zwischen "normal" und "verrückt" fließend und manchmal nur eine Frage der Definition sind.

Ein Leiden am Rande der Gesellschaft ist die Depression auch deswegen nicht, weil so viele Menschen davon betroffen sind. Krankhafte Schwermut betrifft jeden Vierten. 25 Prozent aller Menschen machen irgendwann in ihrem Leben eine Depression durch, unvermittelt trifft sie die trübe Finsternis.

Die rapide Karriere der Diagnose Burnout hat die Blickrichtung zwar etwas verändert: Während bei der Depression das lädierte Selbst im Mittelpunkt stand, waren es beim Burnout die widrigen Umstände, die zur totalen Erschöpfung führten. Der unerbittliche Chef, der immer mehr forderte, oder die ständige Hetze zwischen den Anforderungen von Beruf, Familie und Freizeit. Der Perspektivwechsel brachte etwas Entlastung.

Depression ist häufig, sie kann jeden treffen

Doch das Unbehagen bleibt. Die Depression ist häufig, sie kann jeden treffen. Dazu braucht es weder Jobkrise noch Trennung noch den Verlust eines nahen Menschen. Das ist das Irritierende. Und dann kann auch die Medizin nicht sagen, wie sich das Leiden entwickelt. Ob es sich gibt, ob es wiederkommt - dann mit immer schwärzeren Anteilen, die von uns Besitz ergreifen, ohne dass wir für irgendetwas garantieren können.

Aus diesem Unbehagen wächst der Wunsch nach der eindeutigen Diagnose und bitte auch gleich nach der wirksamen Therapie. Doch die kann die Medizin nicht bieten. Jetzt nicht und in Zukunft nicht.

Psychisch Kranke zu diskriminieren oder als gemeingefährlich darzustellen, hilft da nicht weiter. Es zeugt eher von einer Hilflosigkeit angesichts der Tat - und angesichts der Abgründe, die sich auftun können. In jedem von uns, jederzeit.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: