Süddeutsche Zeitung

Eskalation der Nachbarschaftsstreits:Die Zaunkrieger

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Sie sind zu laut, zu freizügig oder sie stinken: Der ärgste Feind des Menschen ist oft sein Nachbar. Die Streitkultur am Gartenzaun wird immer härter - weil die eigene Freiheit wichtiger wird und die der anderen nur nervt.

Hilmar Klute

Einmal hat mein Hund in den Grünstreifen vorm Haus gekackt. Ich hatte die schwarze Plastiktüte bereits in der Hand, als ein Nachbar, er wird Mitte dreißig gewesen sein, mit falschem Lächeln an mich herantrat und die rhetorische Frage stellte: "Sie machen das schon weg?" Meine Gegenfrage, nicht weniger rhetorisch, lautete: Wozu sollte ich die Tüte zur Hand genommen haben, wenn nicht zum Zweck der Beseitigung?

Ich verwandelte die Zurechtweisung des Nachbarn meinerseits in eine Zurechtweisung seiner hausmeisterhaften Anmahnerei und legte ihm in einer vergleichsweise schlanken Suada dar, dass unsere Gesellschaft durchaus ihren friedlich-zivilisatorischen Charakter beibehalten würde, wenn es nicht überall Leute gäbe, die andere auf ihre bürgerlichen Pflichten hinweisen.

Der Mahner verzog sich verstört, ich entfernte das Übel ordnungsgemäß und reagierte damit vergleichsweise moderater als der Hundebesitzer in Jackson/Mississippi, der im Februar dieses Jahres seinen Nachbarn, als dieser sich über einen in seinem Garten vorgefundenen Hundehaufen beschwerte, kurzerhand mit dem Jagdgewehr niederschoss.

Es sieht so aus, als ließen sich Nachbarschaftsuneinigkeiten immer seltener auf verträgliche Weise beilegen. Die sogenannten Zaunkriege - früher ein ironisches Wort für andauernde, aber im Grunde zu handhabende Streitereien - werden immer häufiger zu veritablen Schlachten, auf deren Höhepunkt die Polizei ausrücken muss.

Wenn es ein Nachbar, wie kürzlich in München geschehen, unangemessen findet, dass im Garten nebenan ein Grill angezündet wird, ruft er umgehend die Feuerwehr an, die mit ihrer gesamten Logistik anrücken und natürlich unverrichteter Dinge wieder abziehen muss. Das alles kostet gute Laune und vor allem Geld.

Die niedrige Toleranzschwelle bei Menschen, die nah beieinanderwohnen ist inzwischen derart hoch, dass Konflikte in sensationelle Übergriffe münden, über die man gerne und oft in den Zeitungen liest. Ein Mann in Donauwörth kippt seinen Urin eimerweise in den Garten des Nachbarn. In Wennigsen wurde ein Paar vor Gericht gezerrt, weil es in der Wahrnehmung seiner sexueller Interessen zu lautstark war. Die Mieterin drunter hatte alles minutiös protokolliert. In Reislingen verklagte ein Mann den Betreiber der Kindertagesstätte nebenan, weil dort zu laut gespielt wurde.

Beschwerdefreudigkeit und nachlassende Toleranz gegenüber den Lebensäußerungen anderer führen immer häufiger dazu, dass Ordnungsbehörden auf den Plan gerufen werden. In Markt Schwaben bei München mussten Beamte ein zerquetschtes Ei sicherstellen, das Unbekannte in den Briefkasten einer 68 Jahre alten Frau gezwängt hatten.

Die Lust an der militanten Beschwerde ist offenbar inzwischen derart repräsentabel geworden, dass manche Kombattanten zu Fernsehstars werden. In der RTL-Dokusoap "Nachbarschaftsstreit" schreien sich dicke Frauen über die Hausbegrenzungen hinweg an, und erst, wenn der Mediator und Rechtsanwalt Franz Obst, ein glatzköpfiger Deus ex Machina mit Modebrille, auf den Plan tritt, wächst die Hoffnung, dass der Sturm sich legt.

Es wird mit einer rücksichtslosen Härte gekämpft, und um die Folgen schert man sich kaum noch. Immerhin ist jeder erbitterte Nachbarschaftsstreit mit langjähriger, wenn nicht ewiger Feindschaft verbunden, das soziale Gefüge gerät aus der Balance und ein angenehmes, bauchschmerzenfreies Miteinander ist für lange Zeit ausgeschlossen.

Natürlich sind Streitereien unter Nachbarn kein ausschließliches Phänomen der Spätmoderne. Auch in der frühen Neuzeit ließen sich Bürger zu verbissenen Auseinandersetzungen hinreißen, meistens ging es dabei um das Wegerecht, um zu weit ans Haus ragende Dachrinnen und Landvermessungsfragen. Aber auch öffentliche Verleumdungen mussten von den Schiedsgerichten beurteilt werden, zum Beispiel die unselige Sache, welche der Stralsunder Bürgerin Christina Sophia von Bohlen im August 1794 widerfuhr.

Eine Hetzschrift an einem Baum vor der Langeschen Buchhandlung stellte Frau von Bohlen in klaren Zusammenhang mit Zuchtlosigkeiten, die ihrer Ehre schadeten. Auf dem Zettel standen die Worte: "dies ist das neue lied von fräuln bohlen, die sich alle nacht vögeln liehz." Weiter ist die Rede von Frau Bohlen als namentlich ausgewiesenem Mitglied des Adels, aber: "die adelschaft ist mit mistforck auf den Kop gesetzt, ihre erziehung ist her wo die ogsen aus dem fenster sehen." Die damals dieser Verbalinjurien verdächtige, einstige Mitbewohnerin Frau von Bohlens, Anna Katharina Kaehlert, wies die Vorwürfe von sich. Man überbot sich am Ende mit Ehrbezeugungen, und die Sache war aus der Welt.

Solche Waffenstillstände folgten freilich nicht der wunderbaren Läuterung der Streitenden, sondern wurden von Nachbarschaftsvorstehern herbeigeführt, die man heute als Mediatoren kennt. Wenn sich zwei Nachbarn so verhaken, dass sie sich selbst nicht mehr aus der Kampfzange befreien können, rufen sie einen Mediator, der ihnen auf nicht-juristischer Ebene die Konfliktlösung abnehmen soll.

Meistens verlangen Akademiker nach einem solchen Streitschlichter, weil sie es einerseits nicht schlimm finden, ihre Entscheidungskompetenz einem Außenstehenden zu überlassen und weil sie zum anderen wissen, dass Streits, die das Zeug haben, zu eskalieren, ihrem sozialen Empfinden abträglich sind.

Das Schicksal des niederrheinischen Teichfroschs Knötti konnte allerdings kein Mediator abwenden. Weil das Tier nach Ansicht des Nachbarn unaufhörlich quakte, nahm dieser ein Luftgewehr und zersiebte Knötti, der, was die Tragik des Falls auf schmerzliche Weise rundete, wegen eines Gendefekts gar nicht in der Lage gewesen sein soll, froschtypische Quarkgeräusche von sich zu geben. Die Causa endete vor dem Amtsgericht Krefeld mit einer geringen Geldstrafe für den Angeklagten.

Warum regen sich immer mehr Leute über Kinder- und Tierlärm auf, über Sex-Geräusche aus Wohnungen, über Fußgetrappel und wild wuchernde Sträucher? Der Dresdner Soziologe Eric Piltz sagt, dass viele Menschen heutzutage ihre Nachbarschaft nicht mehr als öffentliche Veranstaltung begreifen.

Öffentlichkeit finde im Internet statt, in den sozialen Foren oder in der Bahn, wo stressverschwitzte Consulter ihren Feierabendstreit mit der Ehefrau über das Handy austragen.

In der alten BRD waren die Nachbarn noch institutionell verankerte Größen, und die Verquickungen innerhalb der nachbarlichen Familien schienen stärker zu sein. Wenn die Hausfrau sich mit der Nachbarshausfrau in den Haaren lag, konnte es immerhin vorkommen, dass die benachbarten Männer ganz gut miteinander auskamen, sodass sich Zwistigkeiten über diesen Weg auflösten.

Heute sieht Piltz vielerorts das "hedonistische" Argument wirken, nach welchem immer mehr Menschen den Sinn ihres Lebens darin sehen, sich auf jede erdenkliche Art frei zu entfalten, andererseits aber das Lustverständnis der anderen nicht akzeptieren wollen.

Die gewachsene Sehnsucht nach Egozentrik hat auch die Phantasie von Architekten beflügelt, die Hausmodelle entworfen haben, welche dem Prinzip der Segregation gehorchen sollen. Menschen aus derselben, vorzugsweise bildungs- und geldnahen Schicht leben homogen in abgeschlossenen Reservaten wie es in den Gated Communities in den USA vorgeführt wird.

Das Leben ist vollständig reglementiert, es gibt die entsprechende Infrastruktur und für hedonistische Alleingänge gibt es keine Wege. Dass ein derartiger Integrationszwang auch nicht glücklich macht, zeigt die hohe Auszugsquote aus diesen überwachten und bis in den Vorgarten geordneten Utopien.

Apropos Vorgarten: Gemeinhin gelten die deutschen Schrebergärten als Musterbeispiel für ein geordnetes Miteinander, weil in ihnen das Leben und gärtnerische Wirken der Besitzer komplett geregelt wird. Der integrative Zwang, der in den meisten Stadtvierteln nicht mehr gegeben ist, sei hier oberstes Ordnungsprinzip, sagt Eric Piltz.

Aber dass eben gerade das Verständnis von Ordnung ein individuelles ist, zeigt die traurige Geschichte aus einem Kleingarten in Niedersachsen, die sich vor knapp drei Jahren zutrug.Am 22. September 2008 brachte Wilfried Reinecke, der jahrelang seinen Kleingarten in Gifhorn gepflegt und jede Unordnung darin als Angriff auf seine Person verstanden hatte, seine Nachbarn mit einem Knüppel um.

Reinecke war zum Zeitpunkt der Tat 65 Jahre alt und hatte bis dahin in sein Leben keine wirkliche Rundung gebracht. Er verdingte sich als Gelegenheitsarbeiter und schleppte sich so durch die Jahrzehnte, bis ihn 2004 eine Krebserkrankung in die Knie zwang.

Als die Therapie anschlug, legte er sich den Kleingarten zu und setzte einen verbissenen Ehrgeiz daran, den Rasen kurz und ordentlich zu halten. Aber es wehten regelmäßig Saatkörner auf diesen Rasen, die, Reinecke war davon überzeugt, vom Grundstück der Familie Kaczmarek stammten. Reinecke und die Kaczmareks beschimpften sich von da an maßlos und überboten sich mit Racheakten, ein Kaninchenstall ging in Flammen auf, eine Hütte brannte ab.

An jenem 22. September nahm Reinecke einen Knüppel zur Hand und erschlug Hans Kaczmarek, dessen Frau Gisela und deren 33-jährigen Sohn Martin damit. Drei Tage später wurde er gefasst, später zu lebenslanger Haft verurteilt. In seinem Schlussplädoyer sagte Reinecke, die Tat tue ihm leid, Ordnung sei aber nun mal sein höchstes Lebensprinzip und: "Ich würde immer wieder so handeln."

Wenn die Tat nicht so grausam gewesen wäre, könnte man sagen, Herr Reinecke habe auf die archaisch wilde Weise gehandelt, um seinen Nachbarschaftsstreit auszufechten. Denn wie es sich für eine digitale Gesellschaft gehört, finden sich Denunzianten und Rufzerstörer mittlerweile vorzugsweise in Internetforen zusammen, deren erstes in den USA ins Netz gestellt wurde. Die Website hieß rottenneighbour.com und war eine Art Segregationsnavigator. Wer in eine bestimmte Wohngegend ziehen wollte, konnte sich vorab informieren, was für Leute dort wohnten.

Das deutsche Pendant trug den bräsig-programmatischen Namen mein-doofer-nachbar.de und ließ geifernden Anonymi Raum für allerlei Verleumdungen und Beleidigungen. Beide Seiten sind inzwischen gesperrt worden, ein Umstand, der für Hasskappenträger schwer zu verarbeiten sein dürfte.

Stadtplaner, Architekten und Sozialwissenschaftler sind seit Jahren dabei, auf eine Gesellschaft zu reagieren, deren Mitglieder oft so unterschiedliche Lebensvorstellungen haben, dass sie kaum konfliktfrei unter einem Hausdach wohnen können.

Sozialität soll durch Social Engineering hergestellt werden, durch eine ausgefeilte Stadt- und Wohnplanung , die genug Freiraum bietet für Singles, Ein-Kind- und Mehr-Kind-Familien, für Alte und für Griesgrame. Und dann muss das Ganze auch noch einen urbanen Charakter haben, weil die Stadt mehr Hedonismus verspricht als das Ländliche. Einerseits möchte man die alte Nachbarschaftskultur wiederhaben, zum anderen aber so leben, wie man es sich wünscht.

Der Prophylaxe wird deshalb so viel Augenmerk geschenkt, weil der Kampf mit dem Nachbarn, ist er einmal in Gang gekommen, nur noch mit Mühen zu stoppen ist. In Bingen wäre es beinahe auf privatem Wege gelungen. Beinahe. Dort ermöglichte die Familie Gfrörer dem Puter Eros einen langfristigen Aufenthalt in ihrem Garten, den Eros dazu nutzte, Werberufe auszustoßen, welche die nachbarliche Familie Dams in ihrer Lebensgestaltung einschränkten. Der Streit begann, die Dams platzierten Protestplakate gegen Eros, die Nachbarn wurden Gegner.

Dann fasste sich Monika Dams ein Herz, erstand die Putendame Layla und schenkte sie den Gfrörers, damit Eros nicht mehr rufen muss. Kann man dem verfeindeten Nachbarn schöner die Hand reichen als mit einem zarten Vogel daran? Die Gfrörers nahmen Layla zwar an, anerkannten auch, dass die Dams die Plakate entfernt hatten. Aber sie fühlten sich durch die Liebesgabe verarscht und schenkten den Dams wiederum Ohrenstöpsel.

Jetzt wird die Bingener Putenaffäre womöglich doch vor Gericht landen, zumal sich Eros, so liest man, von der Mediatorin Layla nicht angesprochen fühlt.

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Quelle:
SZ vom 18.06.2011
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