Süddeutsche Zeitung

Erziehung:Wie man Kindern Moral beibringt

Lügen, stehlen, zündeln - jedes Kind macht mal was Verbotenes. Aber können Kinder überhaupt zwischen Gut und Böse unterscheiden?

Von Mareen Linnartz

Die Delinquenten sind kaum mehr als einen Meter groß, aber an den Anklagepunkten ändert das nichts: Brandstiftung, Diebstahl, Meineid. Die sechsjährige Tochter eines Freundes wollte nur mal schauen, "ob die auch wirklich brennen" und kletterte mit einer wackligen Aufstiegshilfe aus Stuhl und Hocker bis zum obersten Bücherregal, um sich dort eine Streichholzschachtel zu schnappen, die der Vater Minuten zuvor mit den Worten abgelegt hatte: "Nicht damit zündeln."

Beim achtjährigen Nachbarskind fand die Mutter trotz überschaubaren Taschengelds überraschend viele Silbermünzen im Schulranzen - schnell beschlich sie ein Verdacht: Lag nicht die gleiche Summe gestern Abend noch auf der Kommode - Wechselgeld, achtlos abgelegt? Unvergessen ist auch der treuherzige Blick des Vierjährigen, der offensichtlich mit wasserfestem Folienstift alte Familienfotos übermalt hatte und mit drei gespreizten Fingern auf dem Herzen vor einem stand: "Das war der Pumuckl. Ich schwör's bei meinem Leben!"

Besonders raffiniert war keiner dieser kleinen Übeltäter, aber die Frage ist ja: Haben wir es hier schon mit Klein-Kriminellen zu tun? Oder eher mit Unschuldsengeln, die sich keines rechten Vergehens bewusst sind?

Das Gesetz kennt klare Grenzen: Kinder unter 14 Jahren sind, wie es so schön heißt, überhaupt "nicht deliktfähig". Aber was heißt das für Eltern im Umgang mit ihren Kindern? Sollen sie eine Gardinenpredigt halten? Oder gar nicht groß darauf eingehen? Sollten sie sich ernsthafte Sorgen machen, ihre Kinder könnten auf die schiefe Bahn geraten? Oder sich lieber beruhigen mit "Jedes Kind lügt und stiehlt doch mal." Ab wann verstehen Kinder überhaupt, dass sie ein Verbot gebrochen oder etwas Ungutes angestellt haben? Ab wann haben sie so etwas wie einen inneren moralischen Kompass - und inwiefern sieht der bei einem stehlenden Achtjährigen schon anders aus als bei einem lügenden Vierjährigen?

Empathie statt Verbote

Kinder und Moral: In der Forschung schienen das jahrzehntelang zwei unvereinbare Begriffe zu sein. Denn Menschen, postulierte Sigmund Freud, kämen als "amoralische Wesen ohne Hemmungen" auf die Welt, anarchisch, regellos, egoistisch. Zunächst ohne jegliches Gefühl für die Bedürfnisse oder Interessen anderer. Wer je einen zornigen Einjährigen gesehen hat, der sich an den neuen Bagger des Nachbarjungen festkrallt, weil er ihn unbedingt haben will, weiß, wie Freud zu dieser Vermutung kam.

Erst durch Erziehung, gesellschaftliche Normen und zunehmende geistige Fähigkeiten würden sich, so Freud, Menschen auch zu moralisch handelnden Menschen entwickeln. Ähnlich sah das der amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg, der in den Sechzigerjahren einen bahnbrechenden Fahrplan der Moral-Entwicklung des Menschen von Geburt an entwickelte, doch für seine Studien erst Kinder heranzog, die zehn Jahre oder älter waren.

"Man hat viele Jahre einfach angenommen, jüngere Kinder wären nicht in der Lage, wirklich moralisch zu denken oder zu handeln", sagt Monika Keller vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Weil ihnen die kognitiven Fähigkeiten dazu fehlten, sie also, wenn sie sehr klein sind, ja noch nicht mal sprechen können. Kohlberg, sagt Keller, die seit knapp 40 Jahren zu dem Thema forscht, habe nur einen entscheidenden Denkfehler gemacht: "Er hat übersehen, dass zur Entstehung eines Moralgefühls nicht nur ein Verständnis von Regeln, sondern vor allem auch Empathie gehört - und diese entwickeln Menschen bereits von Beginn an." Durch Erfahrung und Beobachtung ihrer Umwelt, durch Erziehung, dadurch, wie gerecht und fürsorglich sie selbst behandelt werden.

Moral ist also, schlicht gesagt, nicht nur eine Frage des Kopfes - sondern auch des Bauches. Schon Einjährige, sagt Keller, zeigten in Untersuchungen klare Zeichen von Empathie, und ein Bewusstsein von richtig und falsch. So bevorzugen sie beispielsweise eine Puppe, die einer anderen geholfen hat, gegenüber einer Puppe, die andere behindert hat. In einer anderen Untersuchung zeigte sich, wie viele Kinder schon mit ein, zwei Jahren eine Vorstellung davon haben, was moralisch richtig ist und was nicht. Dabei spielen nicht Verbote, sondern Mitempfindung eine Rolle.

Die Kinder sahen eine Bildergeschichte, in der ein kleiner Junge Bonbons klaut und wurden gefragt, wie sie das finden. Die meisten waren aufrichtig empört über den Dieb. "Menschen sind Gemeinschaftswesen, das hat sich über die Evolution auch in unsere Gene eingeprägt. Ohne Empathie und Kooperation könnten wir gar nicht in einer Gruppe zusammenleben. Also versuchen Kinder von klein an, die Regeln dieser Gruppe zu verstehen und sie auch einzuhalten", sagt Monika Keller.

Die Leiterin eines Münchner Kindergartens erzählt, wie Kinder von zwei bis sechs Jahren in der Gruppe "mit großer Ernsthaftigkeit" darüber sprechen, welche Regeln im Umgang miteinander bei ihnen gelten sollen. "Man spürt da ein großes Bedürfnis nach Klarheit." Ein zweijähriges Kind, das einem anderen ein Spielzeug wegnimmt verstehe natürlich noch nicht, was daran so falsch sein soll. "Aber ich muss ihm trotzdem deutlich zeigen, und das spürt ein Kind dann auch: Es ist nicht in Ordnung, was du gerade gemacht hast",, sagt die Leiterin. Sie halte deswegen auch wenig davon, bei Streitigkeiten zwischen kleinen Kindern um eine Schaufel im Sandkasten nicht einzugreifen. "Kleine Kinder können das noch nicht alleine klären, sie brauchen jemanden, der ihnen klarmacht: So geht man miteinander um - und so nicht."

"Viele Eltern überfordern ihre Kinder"

Kinder brauchen also einen moralischen Wegweiser, auch Vorbilder, sonst sind sie verloren. Wer sich bei einem lästigen Anruf von seinen Kindern am Telefon verleugnen lässt oder sie anstiftet, bei der Fahrkartenkontrolle beim Alter zu schwindeln, braucht nicht mit dem 9. Gebot aus der Bibel ankommen - "Du sollst nicht lügen".

Der Kinderarzt und Bestsellerautor Herbert Renz-Polster ("Kinder verstehen") beobachtet seit ein paar Jahren eine merkwürdige Entwicklung: Die von Abstiegsangst geplagten Mittelschicht-Eltern wollten nicht mehr nur ein perfekt funktionierendes und Leistung bringendes Kind, sondern auch ein besonders gutes Kind, "sie wollen Werte vermitteln". Dagegen sei ja nichts einzuwenden, im Prinzip: "Sie hängen aber die Latte zu hoch.

Nicht jede Rangelei ist ein ethischer Notfall, nicht jedes kleinere Vergehen bedeutet, der Nachwuchs würde sich später mal nicht an die Genfer Konvention halten. Viele Eltern überfordern da ihre Kinder." Denn erst ab dem Schulalter sind Kinder in der Lage, wirklich zu lügen und vorsätzlich zu täuschen. Davor, sagt Renz-Polster, haben sie einfach noch zu wenig "perspektivischen Hubraum", in der Wissenschaft "theory of mind" genannt - die Fähigkeit, sich in die Sichtweise eines anderen hineinzudenken.

Die Studie von Monika Keller, in der Vierjährige gefragt wurden, wie sie den Jungen im Bilderbuch fanden, der Bonbons gemopst hatte, zeigt diesen Unterschied: Die Kinder wurden nämlich auch noch gefragt, wie sich der Junge nach dem Diebstahl wohl fühlen werde: "Super! Die Bonbons sind doch lecker. Und er wollte sie haben!" Schulkinder antworteten bei der gleichen Versuchsanordnung ganz anders - sie bedachten die Situation des Bestohlenen mit ein: "Der Dieb wird sich schlecht fühlen, weil er jemand anderen traurig gemacht und etwas getan hat, was man nicht darf."

Bei aller Empörung sollten Eltern also bei kleinen Gaunereien wie Lügen, Stehlen oder Zündeln mit Augenmaß reagieren. Diese Grenzüberschreitungen sind ja auch kleine Tests der Eltern-Kind-Beziehung: Wie reagiert meine Mutter? Was muss ich fürchten? Wie schlimm ist das wirklich? "In Familien, die das Lügen streng bestrafen, wird am meisten gelogen", hat Herbert Renz-Polster beobachtet. Und die Münchner Erzieherin sagt: "Ich ermutige die Kinder, zu ihren Taten zu stehen, und sage: Du wirst dich besser fühlen, wenn du zugibst, geschwindelt oder etwas mitgehen gelassen zu haben."

Der zündelnden Sechsjährigen erklärte der Vater beim Anblick der flackernden Streichhölzer eindringlich, welche dramatischen Folgen das haben könne. Und versprach, bald mit ihr ein Feuer zu machen, um ihre Faszination für Flammen stillen zu können. Den achtjährigen Dieb stellte die Mutter vor die Wahl: Bis zum nächsten Tag soll er die gestohlenen Münzen zurückgeben - oder ihr erklären, wie er zu diesem Reichtum gekommen ist. Wenig später lag ein Häufchen Münzen auf dem Tisch. Und der Vierjährige stimmte bald der Annahme zu, der Pumuckl hätte im Leben nicht so ein zeichnerisches Talent wie der Familien-Foto-Bemaler. Das müsse wohl jemand anders gewesen sein, ein begabter junger Künstler, der leider nur eines nicht wusste: Die Farbe geht nie wieder weg.

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Quelle:
SZ vom 07.11.2015
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