Das Ergebnis der jüngsten Unicef-Studie ist deprimierend: Obwohl die Situation der Kinder in Deutschland nach objektiven Maßstäben besser ist als je zuvor, fühlen sich viele Mädchen und Jungen unglücklich. Weil es ihnen, im Gegensatz zu ihren Eltern, nicht um materielles Wohlbefinden, Gesundheit und Bildung geht. Diplom-Psychologin Elisabeth Raffauf hat zahlreiche Erziehungsratgeber und Aufklärungsbücher geschrieben. Sie arbeitet als Familientherapeutin und leitet in einer Erziehungsberatungsstelle unter anderem Gruppen für Eltern pubertierender Jugendlicher. Im Interview mit Süddeutsche.de spricht die Psychologin über falsch verstandene elterliche Fürsorge und darüber, was Kinder wirklich zum Glücklichsein brauchen.
SZ.de: Kinder in Deutschland sind gesünder, gebildeter und reicher als in den meisten anderen Ländern - und zugleich unglücklicher. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
Elisabeth Raffauf: Da klafft eine Lücke zwischen dem, was die Erwachsenen wollen und dem, was Kinder brauchen. Während die Politik sich auf Leistung konzentriert, fallen soziale Faktoren hinten runter. Es wird zu sehr darauf geachtet, dass die Kinder in ein bestimmtes Raster passen und fit für den Beruf gemacht werden. Es geht darum, der Beste zu sein und um die Frage, wie sich das in der Benotung spiegelt. Andere Faktoren, die den Menschen ausmachen, kommen dabei zu kurz.
Welche Faktoren sind das?
Dass Eltern ihren Kindern das Gefühl geben: Du bist gut wie du bist, wir glauben an dich, du hast Kompetenzen, auch wenn die nicht in Noten sichtbar werden. Kinder werden viel zu selten danach beurteilt, ob sie nette, hilfsbereite, sozial kompetente, einfühlsame, neugierige, interessierte Menschen sind. Sie spüren, dass Eltern und Lehrer ihnen fordernd und erwartend gegenüber stehen - und reagieren darauf oft eingeschüchtert.
Ist es denn so schlimm, Kindern etwas abzuverlangen?
Das Problem ist nicht, dass Kinder gefordert werden. Problematisch ist der Umgang mit dem Scheitern. Kinder verzweifeln, wenn Erwachsene von ihnen wollen, dass sie anders sind als sie sind - sportlicher, ruhiger, konzentrierter, schlauer, fröhlicher. Wenn man Kindern das Gefühl gibt "Ich werde angenommen wie ich bin, meine Eltern glauben an mich", dann können sie wieder aufstehen und Aufgaben selbstbewusster angehen. Diese Souveränität verleiht ihnen nicht nur in der Schule Sicherheit, sie hilft auch in allen anderen Bereichen.
Was brauchen Kinder noch, um glücklich zu sein?
Motivation! Eltern und Lehrer sollten nicht Defizite hervorheben, sondern Vorzüge verstärken. Sehen, was das Kind kann und es unterstützen. Außerdem: Respekt. Vor den Ansichten des Kindes, seinen Freunden, seinen Interessen. Respektlosigkeit erfolgt im Alltag meist unterschwellig, etwa wenn wir die Lieblingsband unserer Tochter niedermachen. Deshalb sollten Eltern und Lehrer Respekt nicht nur fordern, sondern auch vorleben - das gilt eigentlich für viele Dinge in der Erziehung. Karl Valentin hat einmal gesagt: "Wir brauchen unsere Kinder nicht erziehen, sie machen uns sowieso alles nach."