Erziehung und "Metoo":Pass auf dich auf!

Schlampenmarsch in München, 2011

Teilnehmerinnen eines sogenannten Schlampenmarsches (slut walk) demonstrieren 2011 auf dem Münchner Goetheplatz gegen sexuelle Gewalt gegen Frauen.

(Foto: Florian Peljak)

Die Tochter will mit sehr kurzen Hotpants aus dem Haus. Was, wenn man weiß, dass Kleidung nichts mit sexueller Gewalt zu tun hat - und trotzdem am liebsten ein Verbot aussprechen würde? Über ein Erziehungs-Dilemma in Zeiten von "Me Too".

Von Barbara Vorsamer

"Macht euch nicht wehrlos mit Alkohol oder Drogen", diesen Ratschlag gab der Freiburger Polizeipräsident kürzlich allen Frauen, nachdem eine 18-Jährige von mehreren Männern vergewaltigt worden war. In Irland macht gerade ein Prozess Schlagzeilen, in dem die Verteidigerin an die Jury appelliert hatte, die Kleidung des mutmaßlichen Opfers zu beachten: "Sie müssen sich ansehen, wie sie gekleidet war. Sie hat einen Stringtanga mit Spitze getragen." Eingeprägt hat sich auch der Satz der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die nach der Silvesternacht 2016 riet, "eine Armlänge Abstand" zu halten.

Abstand halten, nicht provozieren, sich sittsam kleiden, rechtzeitig nach Hause kommen und keinesfalls die Kontrolle über sich verlieren - diese Tipps bekommen Mädchen und Frauen seit Jahrhunderten. Passiert ihnen etwas, ist oft die erste Frage, an welche dieser ungeschriebenen Regeln sie sich nicht gehalten haben. Victim Blaming nennt man das: die gesellschaftliche Tendenz, eher das Verhalten des Opfers (meist weiblich) zu hinterfragen, als den Täter (meist männlich) zur Verantwortung zu ziehen.

Eltern und Polizeipräsidenten haben unterschiedliche Aufgaben

Spätestens mit der "Me Too"-Debatte hat sich allerdings herumgesprochen, dass die Schuld beim Täter liegt, unabhängig davon, was das Opfer zuvor getan oder nicht getan hat. Theoretisch ist die Sache einfach: Eine Frau darf völlig betrunken und leicht bekleidet nachts durch die Stadt torkeln, sie behält trotzdem ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit. Auch als Mutter stimmt man diesem Satz natürlich zu. Und bekommt trotzdem ein mulmiges Gefühl, wenn die eigene Tochter mit Hot Pants aus dem Zimmer marschiert, bei denen hinten der Po und vorne der Bauchnabel herausschauen. Plötzlich hört man sich Dinge sagen wie: "So gehst du mir nicht aus dem Haus, mein Fräulein, und wehe, du kommst wieder besoffen nach Hause." Ist das auch Victim Blaming? Elterliche Sorge? Oder gar beides?

Nun haben Polizeipräsidenten und Eltern unterschiedliche Aufgaben. Die einen sind gesellschaftliche Akteure, die Täter zur Verantwortung ziehen sollen, anstatt Mädchen zu erziehen. Bei den anderen ist es andersherum. Mütter und Väter wollen in erster Linie, dass ihren Kindern nichts passiert. Wer im Falle des Falles wie viel Prozent der Verantwortung trägt, ist ihnen egal. Deswegen bringen sie Fahrradanfängern bei, auf abbiegende Autos zu achten und lieber mal stehen zu bleiben, auch wenn sie selbst grünes Licht hätten. Ähnlich blicken Eltern auf sexuelle Gewalt. Sie soll unter allen Umständen vermieden werden. Der Tochter dafür die Freiheit etwas einzuschränken erscheint als geringer Preis.

Die Vorstellung vom triebgesteuerten Mann hält sich hartnäckig

Was sich die Mutter, die ihrer Tochter den kurzen Rock verbietet, vielleicht zu wenig fragt, ist, ob dieses Verbot überhaupt etwas bringt. Anders ausgedrückt: Ist es möglich, sexuellen Übergriffen vorzubeugen und wenn ja, wie? Denn dass Frauen durch ihre Kleidung oder ihr Verhalten sexuelle Gewalt provozieren, ist falsch, darauf weist selbst die Polizei in Infobroschüren hin. Frauen werden in Jeans und T-Shirt vergewaltigt, in Sportklamotten, in Uniform, im Ganzkörperschleier, im Minikleid und in Spitzenunterwäsche.

Die Künstlerin Jen Brockman zeigt in ihrer Installation "What were you wearing", was Opfer am Tag des Übergriffs anhatten, und es sind ganz alltägliche Kleidungsstücke. Dass sich die Idee vom Mann, der beim Anblick einer beschwipsten 17-Jährigen im Minirock nicht mehr an sich halten kann, dennoch so hartnäckig in den Köpfen hält, liegt an archaischen Vorstellungen von männlicher Sexualität, wie sie Mithu Sanyal in ihrem Buch "Vergewaltigung" beschreibt. Demnach gilt der Mann seit Jahrhunderten als machtloses Opfer seiner Triebe, weswegen den Frauen die Verantwortung für den sexuellen Kontakt aufgebürdet wird.

Geht dann was schief, muss es an ihr gelegen haben. Selbst manche Betroffene schließt sich dieser Logik an, denn die menschliche Psyche sucht immer nach Antworten auf die Frage "Warum ich?". Eltern, die wirkungslose Kleidungsvorschriften machen, handeln da ähnlich. Das Problem dabei ist, dass das Märchen vom dauererregten Mann und der prüden Frau so immer weitererzählt wird. Die Alternative wäre, nach dem Prinzip der Gleichwürdigkeit des dänischen Familientherapeuten Jesper Juul die eigenen Ängste anzuerkennen und dennoch der Tochter die Entscheidungsfreiheit zu lassen.

Wie lernen Kinder, "Nein" zu sagen?

Eltern könnten also sagen: "Ich habe Angst um dich, wenn du so rausgehst, weil ich weiß, dass solche Kleidung Aufmerksamkeit provoziert. Früher hat man sogar gedacht, sie würde Gewalt auslösen. Das weiß man heute besser. Ich wünsche dir daher viel Spaß und hoffe, dass du dich nicht erkältest." Ein weiterer Mythos ist die Vorstellung, dass die größte Gefahr von Unbekannten ausgeht, dabei kannten sich Täter und Opfer in 74,5 Prozent der Fälle, wie Zahlen des Bundeskriminalamts von 2017 zeigen. Es ist der Partner oder Ex-Partner, ein Freund oder der Typ, mit dem man ein Date hat. Da sind manchmal die Grenzen nicht allen klar: Sind wir schon zusammen oder noch nicht oder nicht mehr? Will er oder sie was von mir, wenn ja, wie viel, und kann ich jetzt noch einen Rückzieher machen? Sich in solchen Situationen richtig zu verhalten, ist nicht leicht, auch für Erwachsene nicht. Für Teenager, die ihren Körper als sexuelles Medium gerade kennenlernen und dessen Wirkung austesten, ist es umso schwieriger.

Wie man Nein sagt und woran man ein Ja erkennt, lernen Mädchen und Jungen daher im Idealfall lange vor der Pubertät, von und mit ihren Eltern. Wer will, dass ihre Tochter mit 17 zu irgendwelchen Typen klar "Nein!" sagen kann, muss dieses "Nein!" die Jahre zuvor selbst ertragen, irgendwo müssen Kinder üben. Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung sollten Mütter und Väter schon Kleinkindern zugestehen und sie zum Beispiel nie mit Gewalt waschen oder wickeln. Und keinesfalls sollten sie es mit "der mag dich halt" erklären, wenn der Klassenkamerad die Tochter ständig am Zopf zieht.

Eltern haben andere Möglichkeiten, ihr Kind vor Unheil zu bewahren

Wer von den Eltern lernt, dass die eigenen Grenzen zählen, tut sich als Teenager leichter, sie zu setzen beziehungsweise zu achten. Für Mütter und Väter, deren 17-jährige Tochter heute Abend losziehen will, kommt dieser Ratschlag allerdings zu spät. Was können sie noch tun, um ihr Kind vor Unheil zu bewahren? Das Taxi bezahlen zum Beispiel. Oder anbieten, sie auch spätnachts noch abzuholen. Die Tochter bitten, nicht alleine weiterzuziehen, sondern bei ihrer Clique zu bleiben. Nicht zu viel zu trinken und keine Drogen zu nehmen.

Ja, das erinnert jetzt an den eingangs zitierten Spruch des Polizeipräsidenten. Doch es ist eben etwas anderes, ob ein politischer Akteur Verhaltensregeln für eine gesellschaftliche Gruppe aufstellt oder Eltern für ihre Kinder. Und falls doch der Exzess sein muss - das muss er ja manchmal mit 17 - können Eltern darauf hinwirken, dass er im geschützten Rahmen stattfinde, zum Beispiel bei der Party der besten Freundin. "Geschützter Rahmen" und "Exzess" in einem Satz, das klingt jetzt natürlich reichlich bescheuert. Aber vielleicht gibt es nur widersprüchliche Antworten auf das Dilemma, theoretisch für die bedingungslose Freiheit der Frau zu sein - und praktisch die Realität anzuerkennen, in der jede dritte Frau schon einmal Gewalt erlebt hat, sei es in der Disco, im Job, beim Sport oder im Freundeskreis. Frauen, die im öffentlichen Raum die Kontrolle verlieren, gehen ein Risiko ein. Männer, das sei der Vollständigkeit halber gesagt, tun das auch. Bei ihnen ist die Gefahr eines sexuellen Übergriffs zwar geringer, alle anderen Gewalttaten treffen Männer aber häufiger als Frauen.

Die Realität anzuerkennen heißt aber nicht, dass man sie ohnmächtig und angstvoll ertragen muss. Familien sind nicht nur passive Bewohner des Raumes, den man so oft "die Gesellschaft" nennt. Eltern können den Umgang zwischen Mann und Frau grundlegend verändern, indem sie heute mit ihren Söhnen und Töchtern anders umgehen. Somit könnte es durchaus sein, dass die Jugendliche, die heute ohne blöden Spruch zu ihrem Outfit von ihrem Vater verabschiedet wird, in 30 Jahren als Anwältin nicht den Stringtanga des Opfers für irgendetwas verantwortlich macht.

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