In Zweierreihen betreten die Kinder den Raum, sich brav an den Händen haltend. Eben noch haben sie draußen in der Sonne getobt. Jetzt bleiben sie nach ein paar Schritten erstaunt stehen. Mitten im Raum liegt, auf einer bunten Decke: ein Baby. Die Mutter sitzt daneben, die beiden spielen mit einem roten Tuch. Die Kinder sind irritiert, wissen nicht, was sie tun sollen. Zögerlich setzen sie sich auf die Stühle, die im Kreis um das Baby und seine Mutter bereit stehen. Es ist still, ungewöhnlich still für eine Kindergartengruppe.
Was die zwölf Kinder hier in einem Regensburger Kindergarten ausprobieren, nennt sich "Babywatching", Baby-Beobachtung also. Das klingt ein bisschen wie "Whalewatching", wie es Touristen auf Hawaii angeboten wird, und auch nein bisschen nach Esoterik. Aber das Konzept hat einen wissenschaftlichen Hintergrund. Die Kinder sollen durch das aufmerksame Beobachten von Baby und Mutter - oder Vater - lernen, sich in andere hineinzuversetzen. Das, so die Idee der Forscher, steigert die Fähigkeit zur Empathie, beugt aggressivem Verhalten vor und reduziert die Anfälligkeit für Angststörungen. Ein pädagogischer Ansatz, der gut in eine Zeit passt, in der Wissenschaftler davor warnen, dass exzessiver Smartphone-Gebrauch die direkte zwischenmenschliche Kommunikation verkümmern lässt und sich, vor allem in sozialen Medien, Hass und Rücksichtslosigkeit breit machen.
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Das Babywatching ist kein einmaliges Erlebnis. Über ein Jahr hinweg kommen Mutter und Baby einmal pro Woche in den Regensburger Kindergarten. Die Kinder sehen, wie das Baby gewickelt oder gestillt wird, sie sind dabei, wenn es einschläft oder wenn es schreit.
Gruppenleiterin Natalie Witowski stellt dabei gezielt Fragen. "Werdet ihr auch gern gekitzelt?", fragt Witowski, als die Mutter ihr Baby, Josefine, sechs Monate alt, zärtlich in den Bauch knufft. "Jaa", sagen alle. "Was ist denn das Tolle am Kitzeln?", fragt Witowski weiter. "Dass man lachen muss", sagt der sechs Jahre alte Rasmus, ohne groß zu überlegen. "Geht es der Josefine gut?", fragt Witowski. Drei Stühle weiter sitzt Caterina, sie nickt. "Und woran merkst du das?" Caterina zögert. "Sie lächelt", sagt sie dann. Die Kinder lernen, das Baby zu verstehen.
Die Fragen entwickelt hat Karl Heinz Brisch, 63, Kinderpsychiater und Bindungsforscher am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München. Sein Konzept basiert auf der Arbeit des amerikanischen Psychoanalytikers Henri Parens, der als Kind vor den Nazis floh und später erforschte, wie Aggression entsteht. Er fand heraus, dass Kinder sich dann aggressiv verhalten, wenn sie in ihren Grundbedürfnissen von den Eltern extrem frustriert werden, wenn also beispielsweise ein Baby hinfällt, schreit und die Mutter es ignoriert. Nachdem Brisch Anfang der 1990er-Jahre von Parens' Erfahrungen mit Babys in Schulklassen erfuhr, dauerte es noch weitere zehn Jahre, bis er in Gilching bei München einen Kindergarten fand, der bereit war, Babywatching mit ihm zu testen.
Inzwischen gibt es Babywatching in 50 deutschen Städten und in mehreren Ländern, in Großbritannien, Israel oder Uruguay. Auch das Anwendungsfeld weitet sich aus: Nicht nur in Kindergärten, auch in Schulen, Therapieeinrichtungen und Ausbildungsgruppen für Erzieherinnen werden Babys beobachtet. Sogar bei Demenzpatienten stellten Forscher positive Effekte fest.
Von Babywatching, so Brisch, profitierten fast alle Kinder. Geflüchtete Kinder lernten mit Babywatching schneller Deutsch, insbesondere die Wörter für Gefühle prägten sich ihnen schneller ein. Aggressive oder hyperaktive Kinder würden ruhiger, ängstliche Kinder kämen mehr aus sich raus. Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen, Hyperaktivität oder emotionalen Schwierigkeiten seien ausgeglichener und könnten sich besser konzentrieren. Einzelkinder würden im einfühlsamen Umgang mit anderen Kindern geschult. "So entsteht dann nicht die Situation, dass sie 20 Jahre später zum ersten Mal ein Baby auf dem Arm haben und sich überfordert fühlen", sagt Brisch, der selbst drei Kinder hat. Auch die Mutter des Babys spüre einen positiven Effekt durch das Babywatching: Sie könne am Ende des Jahres die Signale ihres Babys differenzierter wahrnehmen.
Die Kinder fühlen mit dem Baby
Soziale Kompetenzen und ein respektvolles Miteinander zu vermitteln, ist eine gemeinsame Aufgabe von Eltern, Erziehern und Lehrern. Häufig jedoch sind Schulklassen zu groß und Lehrer haben nicht die Zeit, sich um jeden Schüler einzeln zu kümmern. "Teilweise verbringen Lehrer viel Zeit mit Konfliktlösung. Mit Babywatching nimmt das rapide ab, es entsteht mehr emotionaler Zusammenhalt unter den Schülern und es bleibt mehr Zeit für den Unterricht", sagt Brisch.
In Regensburg zeigt sich schon beim ersten Babywatching-Termin, dass die Kinder aufmerksamer werden. Sie beginnen, von sich aus zu erzählen, was sie beobachten. "Die Josefine hat gerade allein ihr Spielzeug gegriffen", sagt Rasmus. Die Kinder identifizieren sich mit Josefine, fühlen mit dem Baby. Regelrecht stolz sind sie, als das Baby sich aus eigener Kraft auf den Bauch dreht. Weil sie gesehen haben, dass das mit sechs Monaten gar nicht so einfach ist.
Fast eine Dreiviertelstunde lang bleiben die Kinder an diesem Apriltag ruhig auf ihren Stühlen sitzen. Ohne die Fragen von Natalie Witowski hätten sie vielleicht einfach nur gesehen, dass da ein Baby liegt. So aber sehen sie, wie Josefine versucht, einen Ball zu greifen, und fiebern mit, ob das Baby das Spielzeug tatsächlich zu fassen bekommt. Sie nehmen genauer wahr, wie sich das Kind verhält und warum. Und vielleicht können sie das dann sogar übertragen: Wenn am Nachmittag beim Spielen ein Mädchen einem Jungen den Ball wegnimmt, könnte er einfach drauflos schimpfen. Er könnte sich aber auch fragen, ob das Mädchen nicht gern mitspielen möchte.