Erwachsene mit Kinderhobbys:Warum es okay ist, ein Kindskopf zu sein

Männer, die mit Lego und Modelleisenbahnen spielen, galten lange als wunderliche Typen. Doch 20 Prozent der Spielzeuge in Deutschland werden von Erwachsenen gekauft - für sich selbst. Die Industrie produziert mittlerweile eigene Produktlininen für die "Kidults". Und die Wissenschaft weiß schon lange: Wer spielt, ist nicht kindisch, sondern kreativ.

Titus Arnu

Pneumatische Pumpe! Greifarm mit 360 Grad Bewegungsfreiheit! Seilwinde! Kran! Gefederte Räder! Der Lego-Unimog U400 ist ein Männertraum - den man allerdings erst aus 2048 Bauteilen zusammenstöpseln muss.

Lego-Fan Stephan Sander

Für das Kind im Mann: 20 Prozent der Spielwaren in Deutschland werden laut Marktforschern inzwischen von verspielten Erwachsenen gekauft.

(Foto: dpa)

15 Stunden mindestens braucht der ambitionierte Lego-Bauer, bis das Ungetüm aus orangenen, gelben und grauen Plastikklötzen fertig ist. Dann lassen sich mit dem Modell im Maßstab 1:12,5 - fast wie mit einem echten Unimog - Erdlöcher bohren, Äste aus dem Weg räumen und Sand transportieren. Für den Einsatz im Winter kann der Hobby-Konstrukteur Kran und Winde dann in einen Schneepflug umbauen.

Wunderliche Typen

Auf der Verpackung des Unimogs ist als Altersempfehlung "11 bis 16 Jahre" abgedruckt, aber das ist Unfug. Welcher Elfjährige bekommt schon ein Spielzeug in die Hand, das knapp 200 Euro kostet? Und welcher 16-Jährige würde noch zugeben, mit Legosteinen zu spielen? Der Riesen-Unimog zielt ganz klar auf das Kind im Mann ab.

Bisher gab es Duplo für Säuglinge, Lego für Kleinkinder, Lego Creator und Lego Technic für größere Kinder, nun gibt es Lego für Erwachsene. Die neue Produktreihe "Lego for men" ist für Männer gedacht, die in ihrer Freizeit gerne die Tower Bridge aus 4287 Einzelteilen zusammensetzen, mit Raumschiff-Modellen "Star Wars - Angriff der Klonkrieger" nachstellen oder eine Großbaustelle mit Tieflader, Raupenbagger und Kran im Kleinen simulieren.

Erwachsene, die sich nach getaner Arbeit nicht den typischen Erwachsenendingen widmen, sondern lieber spielen, werden schnell als wunderliche Typen angesehen.

Ein Verleger, der am Samstagnachmittag nicht Bücher liest, sondern Pirouetten mit seinem ferngesteuerten Hubschrauber übt? Seltsam. Ein Ministerpräsident, der am Wochenende nicht rund um die Uhr Akten wälzt, sondern in seinem Keller Märklin-Züge fahren lässt? Sehr seltsam. Ein Manager, der nachts an einem Modell des Taj Mahal aus Streichhölzern bastelt? Sehr, sehr seltsam.

Ist Männern, die in ihrer Freizeit Lego spielen, mit ihren Kindern stundenlang Sandburgen bauen oder Lenkdrachen mit drei Metern Spannweite fliegen lassen, einfach nur langweilig? Haben sie zu viel Zeit?

Laut einer Untersuchung des Statistischen Amtes der Europäischen Union verfügen deutsche Männer über täglich fünf Stunden und 24 Minuten Freizeit (Frauen eine halbe Stunde weniger). Diese Zeit verbringen die Männer hauptsächlich mit Fernsehen, Ausruhen und anderen Arten des Herumgammelns, immerhin 41 Minuten täglich entfallen auf Hobbys und Spiele.

Frauen halten spielende Männer fälschlicherweise für große Kindsköpfe. Sie belächeln sie und dulden die Spielerei als geringeres Übel. Dabei ist der Spieltrieb dem Menschen in die Gene gelegt, und das Spielen scheint einen evolutionären Sinn zu haben.

Der Homo ludens, von dem der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga sprach, habe die Kultur, die Politik und die Wissenschaft ursprünglich "aus spielerischen Verhaltensweisen heraus" entwickelt, schreibt er. Erst im Laufe der Jahrtausende wurde aus dem Spiel durch Ritualisierungen und Institutionalisierungen Ernst. Aus Spielern wurden Spießer.

Der Spieldrang lebt aber im Unterbewusstsein weiter, und manchmal bricht er eben aus. Frauen sind auch manchmal verspielt, sie kaprizieren sich dann vielleicht auf Duftkerzensets, Hinterglasmalerei und Töpferkurse. Männer spielen lieber mit Maschinen. "Im echten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen", schrieb Friedrich Nietzsche.

Ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Phänomen

Natürlich wirkt ein erwachsener Mann auf den ersten Blick infantil, wenn er versonnen auf dem Teppichboden sitzt und mit Legosteinen hantiert. Doch die Verspieltheit von Männern ist ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Phänomen. Noch nie war es möglich, so lange jung zu sein und sich auch so zu benehmen wie heute.

Marktforscher haben die jung gebliebenen Erwachsenen "Kidults" getauft, eine trendige Wortschöpfung aus "kid" und "adult". Die Kidults verrenken sich vor der Wii-Konsole, feiern ihren 40. Geburtstag mit Papphütchen bei McDonald's, lesen Comics und tragen Turnschuhe und bunte Motto-T-Shirts, obwohl sie schon eine Glatze haben.

Menschen müssen sich von Zeit zu Zeit austoben

Und 20 Prozent der Spielwaren in Deutschland werden laut Marktforschern inzwischen von verspielten Erwachsenen gekauft - für sich selbst. Angesichts des riesigen Spielzeugmarktes mit 2,5 Milliarden Euro Umsatz im Jahr verspricht sich die Branche wachsende Gewinne durch die Erwachsenen-Produkte.

Spielforscher definieren das Hauptspielalter des Menschen auf die Lebensjahre sechs bis zehn, aber was heißt das schon? Warum spielen Menschen dann Karten, Schach oder Mah-Jongg bis ins hohe Alter?

Wissenschaftler sind sich uneins darüber, was Lego, Halma oder "Schiffe versenken" zur geistigen Entwicklung der Menschheit beigetragen haben. Es gibt nur verschiedene Spieltheorien.

Der britische Soziologe Herbert Spencer vermutete einen "Kraftüberschuss" und glaubte, dass der Mensch sich von Zeit zu Zeit austoben müsse. Sigmund Freud sah Ängste und Eskapismus als Antrieb, er vermutete, dass beim Spielen Selbstheilungskräfte frei würden, etwa beim Annehmen anderer Rollen. Psychologen wie Frederik Jacobus Buytendijk argumentierten, Mensch und Tier würden "durch Bewegungstrieb und Gesellungstrieb" zum Spielen gebracht. Friedrich Schiller bezeichnete den Spieltrieb als "lebende Gestalt im ästhetischen Spiel, das triebbefriedigende Glückseligkeit und moralische Vollkommenheit miteinander vereint". Und der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt sah die Neugier als wichtigste Motivation für das Spielen.

Der Spieldrang ist den meisten Säugetieren angeboren; Affen, Bären und Hunde spielen, auch bei einigen Vogelarten findet er sich, sogar Schildkröten vertreiben sich manchmal mit einem Ball die Langeweile. Neurobiologen haben junge Mäuse beobachtet und dabei festgestellt, dass die Tiere am intensivsten spielen in Phasen, in denen sich die Nervenzellen des Kleinhirns verdrahteten. Die Schlussfolgerung: Spielen ist wohl hilfreich beim Lernen von Bewegungsabläufen und beim Einüben von Rollen.

Aber haben das erwachsene Männer wirklich nötig, oder geht es da um etwas anderes?

Ja, um Flucht, lautet die Antwort der selbsternannten Erziehungsberechtigten, also der Ehefrauen. Anstatt sich mit praktischen Hobbys wie Müllraustragen, Geschirrspülen und Fensterputzen zu beschäftigen, so der Vorwurf, ziehe der Mann sich in Aktivitäten zurück, die zwecklos seien und auch noch eine Schweinegeld kosteten.

Das mit dem Geld kann in einzelnen Extremfällen stimmen, etwa wenn der 600 Euro teure Modellhubschrauber beim Jungfernflug abschmiert, doch ganz zwecklos ist die Spielerei sicher nicht. Legospielen enthält innovatives, kreatives Potential, was man vom Staubsaugen überhaupt nicht behaupten kann. Deshalb sind Spielphasen auch in modernen Managementschulungen enthalten. Das Spielen scheint nicht nur ein erholsamer Ausgleich zur Arbeit zu sein, es kann auch neue Impulse für die Arbeit geben.

Entscheidend ist die Freisetzung von Kaufkraft

Dem Spieltheoretiker Huizinga zufolge ist das Spiel eine grundlegende menschliche Aktivität, die Energie und Kraft freisetzt. Entscheidend für Konzerne wie Lego ist allerdings die Freisetzung von Kaufkraft, und da trifft es sich gut, dass die erwachsenen Spielkinder viel mehr Taschengeld haben als zehnjährige Jungen.

50 Euro geben Kunden im Durchschnitt für ein großes Spielzeug aus, vierzigjährige Männer sind bereit, deutlich mehr zu zahlen - etwa für Carrera-Rennbahnen im großen Maßstab, die pro Set gut 400 Euro kosten. Wichtig dabei ist der Retrofaktor: Wer als Kind gerne mit Lego, Matchboxautos oder der Märklin-Bahn gespielt hat, macht das als Erwachsener auch noch gerne.

Ärzte, Architekten und Anwälte

Die Käufer von Luxus-Automodellen, ferngesteuerten Segelschiffen und Lego-Riesenbaggern sind im Schnitt 38 Jahre alt. Und sie kommen aus allen möglichen Berufen: Unter den Lego-Fans der Website 1000Steine.de sind auch Ärzte, Architekten und Anwälte.

Früher hat das Taschengeld die kühneren Bauprojekte arg eingeschränkt, aber mittlerweile verfügen die Kind gebliebenen Männer über die nötigen Mittel, die Bauten endlich zu realisieren - ein Retrotrend, der sich für die Spielwarenindustrie zu lohnen scheint. "15 Prozent aller Lego Technic-Modelle wurden 2010 von Männern für sich selbst gekauft, 50 Prozent mehr als im Jahr zuvor", sagt Helena Seppelfricke, Pressesprecherin von Lego.

Da war es nur ein logischer Schritt, Männer-Lego zu vermarkten. "Lego for men" solle ein öffentliches Bewusstsein für das Kind im Mann schaffen, heißt es. Im Angebot ist auch ein motorisierter Raupenbagger, den man mit einer Infrarot-Fernsteuerung bewegen kann. Mit Hilfe der "Power Functions" lassen sich die Ketten in Bewegung setzen, die Kabine um 360 Grad drehen, der Baggerarm heben und senken und die Schaufel steuern.

Für den Herbst hat Lego übrigens den Sternen-Zerstörer Executor angekündigt, ein 1,22 Meter langes und 3,6 Kilogramm schweres Star-Wars-Raumschiff. Das Paket enthält 3152 Bausteine und kostet mehr als 300 Euro. Das ist eine ganze Menge Geld für eine ganze Menge kleiner Plastikklötzchen, aber dafür ist das Schiff ausgestattet mit Turbolaser und Traktorstrahl-Projektoren, dann natürlich noch mit Langstrecken-Tachionendetektor-Scannern. Allein die Triebwerke sind so groß wie ein Kindskopf.

Wie grenzenlos der Spieltrieb erwachsener Männer sein kann, erlebte der Betreiber eines Spielwarenladens in Hannover, der zum zehnjährigen Bestehen seines Geschäftes zu einem "Männerspielabend" einlud. Spielwarenhändler Heinz Lehmann hatte immer wieder von Vätern, die mit ihren Kindern beim Einkaufen waren, den verträumten Satz gehört: "Hier möchte ich mal eine Nacht verbringen." Mittlerweile veranstaltet Lehmann jeden Freitag einen Männerabend, der Eintritt kostet 30 Euro, jeweils von 20 Uhr bis Mitternacht fahren die Männer Carrera-Rennwagen, steuern Funkautos, spielen Darts und Tischfußball.

Der Termin ist auf Monate ausgebucht.

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