Ernährungssoziologie:Rückzug des Riesenschnitzels

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Groß und billig oder bio und hochwertig? Wie soll das Schnitzel sein?

(Foto: Catherina Hess)

Menschen, die vor allem Bio-Produkte kaufen, reden besonders viel über ihre Ernährung. Mit ihrem Lebensstil grenzen sie sich vom Mainstream ab - und lenken ihn dennoch erfolgreich in ihre Richtung.

Von Oliver Klasen

Die wenigsten kennen Jean Anthelme Brillat-Savarin, den französischen Schriftsteller und Gastronomiekritiker, aber die meisten seinen aus dem Jahr 1826 stammenden Satz: "Sage mir, was Du isst, und ich sage dir, wer Du bist". Er besitzt auch heute noch Gültigkeit.

Recherche

"Erst das Fressen, dann die Moral - wie sollen wir uns künftig ernähren?" Diese Frage hat unsere Leser in der vierten Abstimmungsrunde unseres Projekts Die Recherche am meisten interessiert. Dieser Text ist einer von zahlreichen Beiträgen, die sie beantworten sollen. Alles zur Recherche zu Fressen und Moral finden Sie hier, alles zum Projekt hier.

Und er lässt er sich vielleicht auch auf die Spezies der unbekümmerten Riesenschnitzel-Esser anwenden. Jene Menschen, die im Restaurant besorgt nachfragen, ob besagtes Stück Fleisch für 8,90 Euro seinen Namen auch zu Recht trage, um dann sicherheitshalber noch eine Extraportion Pommes zu bestellen, "mit doppelt Mayo, bitte". Die schiere Menge ist für sie das mit Abstand wichtigste Kriterium für gutes Essen. Schmecken soll es außerdem.

So ein eingefleischter Riesenschnitzel-Esser ist relativ einfach zufriedenzustellen, aber er ist eine bedrohte Art unter den Konsumenten. Immer mehr wird er verdrängt von einem Typus, wie man ihn zum Beispiel an Samstagnachmittag in einem kleinen, vom einen italienischen Ehepaar betriebenen Lädchen im Münchner Stadtteil Untergiesing findet - wie auch in vielen anderen Städten der Republik. Ausgesucht frisches Bio-Gemüse kann man dort kaufen, hervorragende Olivenöle, hausgemachte Brotaufstriche. Ein junger Mann, Anfang 30, mit seiner Freundin beim Einkauf und im Gespräch mit der Verkäuferin. "Total wichtig, dass man weiß, wo die Produkte herkommen...Ich esse ja fast kein Fleisch ... der Pulpo schmeckt natürlich am besten mit ligurischem Tropföl."

Gesprächsfetzen, die typisch sind für die Konsumentengruppe, die das Paar repräsentiert. Sie bildet die Avantgarde im Ernährungsdiskurs, wie Soziologen das nennen, und grenzt sich ab von den Riesenschnitzel-Essern.

Reflexion des eigenen Konsumverhaltens

Die Wortbeiträge in dem Diskurs kreisen um die Frage: Was dürfen wir eigentlich essen? Die Antwort der Avantgarde-Gruppe ist klar: Fleisch und Fisch, wenn überhaupt, dann nur in Bio-Qualität. Gemüse, das nicht mit Pestiziden belastet und der jeweiligen Saison angepasst ist, also keine Erdbeeren im Januar. Hochwertige Produkte, die ihren Preis haben, für die es sich aber lohnt, mehr auszugeben.

Dieses Konsumverhalten wird dabei oft kommuniziert und in Gesprächen reflektiert. Im Bio-Laden beim Einkaufen. Bei Einladungen, wenn Freunde sich zum gemeinsamen Kochen treffen und am Induktionsherd über die Vorzüge der Niedriggar-Methode sinnieren. In den nicht mehr zählbaren Koch-Shows im Fernsehen, in denen ständig Zutaten und Zubereitungen thematisiert werden.

Immer geht es darum, zu zeigen, dass man sich bewusster ernährt als andere Konsumenten. Dass man besser Bescheid weiß über die Herkunft der Nahrungsmittel. Dass man beim Essen auch Ethik, Tierrechte und Umweltschutz im Blick hat.

Selbst das relativ neue Phänomen des Food Porn fällt darunter. Wenn ein Gast im Restaurant ein Bild vom eigenen Teller auf Facebook oder Instagram postet, dann dokumentiert er damit eben nicht nur, dass das Essen ausgezeichnet war, "sondern auch Kennerschaft, Abenteuerlust, Verrücktheit oder Stilbewusstsein", wie der Ernährungssoziologie Daniel Kofahl sagt.

Gegen die allergrößten Schweinereien

Die Gruppe der Bio-Produkte-Käufer redet mehr als die Gruppe der Riesenschnitzel-Esser. Wer mehr redet, wird in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen. Hinzu kommt, dass diejenigen, die sich sehr bewusst ernähren, häufig aus eher gebildeten Milieus kommen und sich tendenziell besser artikulieren können. Eine Meinung, die vielleicht gar nicht die Mehrheit repräsentiert, erscheint dann als die herrschende Meinung.

Das Reden ist sogar fast wichtiger als das Handeln selbst. Dass ich darüber spreche, nur Bio-Produkte zu kaufen, erzielt im Diskurs bereits eine Wirkung, unabhängig davon, ob ich es wirklich tue. Die Frage, was dürfen wir eigentlich essen, wird folgerichtig nie explizit gestellt, sie schwingt lediglich im Subtext mit. Deshalb darf man sich die Antworten, die die Bio-Esser geben, auch nicht als strikte Handlungsanweisungen vorstellen. Es gilt: möglichst nachhaltig, möglichst nicht zuviel Fleisch, möglichst viel Bio. Und nicht in jedem Fall und unter allen Umständen.

Der in letzter Zeit aufgekommene Begriff der "Flexitarier", also jener Menschen, die eigentlich kein Fleisch essen, aber gelegentlich mal eine Ausnahme machen, trifft diese Geisteshaltung ziemlich genau. Sogar ein Döner nach einem nächtlichen Discobesuch ist okay, wenn er ein Einzelfall bleibt und das nicht die gängige Form der Ernährung ist. Hey, wir sind vielleicht nicht perfekt, sagen die Flexitarier und meist-Bio-Käufer, aber die allergrößten Schweinereien machen wir nicht mit.

Das ist eine andere Herangehensweise als in den achtziger Jahren. Damals kam die Öko-Bewegung gerade auf, die Grünen zogen in die Parlamente ein. Es entwickelte sich ein diffuses Unbehagen gegenüber der Nahrungsmittelindustrie, deren Erzeugnisse in den zwei Jahrzehnten zuvor zum festen Speiseplan gehört hatten. In der italienischen Region Piemont gründete sich 1986 die sogenannte Slow-Food-Bewegung, die für eine Rückbesinnung auf kulinarische Traditionen eintrat. Aktivisten demonstrierten in Rom, wo direkt neben der Spanischen Treppe ein McDonalds-Restaurant öffnen sollte.

Weniger Verzicht, mehr Geld

Doch trotz des großen Eifers konnte die Öko-Bewegung nur einen Teil der Bevölkerung erreichen. Außerdem war sie im Kern eine auf Verzicht ausgerichtete Ideologie. Sie wollte die totale Alternative zum bestehenden System: kein Fleisch, keine industriell hergestellten Fertiggerichte, keine Coca-Cola für die Kinder.

Die Bio-Produkte-Käufer von heute müssen keinen Verzicht üben. Sie können auf eine Auswahl zurückgreifen, die mindestens genauso reichhaltig ist wie bei konventionell erzeugten Lebensmitteln. Sie müssen lediglich etwas mehr ausgeben dafür.

Diese Tatsache macht es leicht, das Konsumverhalten der Bio-Käufer als Abgrenzungsgehabe einer privilegierten Oberschicht abzutun. Demnach wäre für jene Kreise das Essen inzwischen ein Statussymbol, das ihre soziale Überlegenheit zum Ausdruck bringt. Angesichts von Bio-Tomaten, die in besagtem Lebensmittelladen auch schon mal zwölf Euro pro Kilo kosten, keine ganz abwegige Sichtweise.

Trotzdem greift sie zu kurz. Erstens, weil sich auch mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln ein am Prinzip der Nachhaltigkeit orientierter Lebensstil hinbekommen lässt, wenn man Preise vergleicht und die verrücktesten Auswüchse nicht mitmacht. Zweitens, weil es zweifellos eine genuin moralische Komponente gibt, die für die Käufer von Bio-Produkten eine große Rolle spielt. Sie handeln getreu dem Motto: Jedes Schnitzel von fragwürdiger Herkunft, das weniger gegessen wird, hilft den Tieren und der Umwelt.

Und drittens, weil die strikte Dichotomie zwischen Riesenschnitzel-Essern und Bio-Käufern zu schlicht ist. Die meisten Menschen bewegen sich irgendwo dazwischen. In der Gegenüberstellung wird aber deutlich, dass sich der Mainstream derzeit in Richtung Bio-Käufer entwickelt. Diese ziehen, weil sie den gesellschaftlichen Diskurs dominieren, die Masse der anderen Konsumenten mit. Und vielleicht kann man zufrieden sein, wenn der Riesenschnitzel-Esser zwar nicht auf sein Stück Fleisch verzichtet, aber bereit ist, dafür statt 8,90 Euro einen Betrag von, sagen wir, 14,50 Euro zu zahlen, wenn das Fleisch aus Bio-Produktion stammt.

Die Recherche zu Landwirtschaft und Ernährung: Kein Fressen ohne Moral

"Erst das Fressen, dann die Moral - wie sollen wir uns (künftig) ernähren?" Das wollten unsere Leser in der vierten Runde unseres Projekts Die Recherche wissen. Mit einer Reihe von Beiträgen beantworten wir diese Frage.

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