Entführungsopfer:"Terroristen haben mir meinen Traum entführt"

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Henrike Dielen auf ihrem Boot: "Die Terroristen haben mir viel genommen." (Foto: privat)

22 Jahre segelte sie mit ihrem Partner um die Welt, dann wurden beide auf den Philippinen entführt. Henrike Dielen über ihre Zeit in der Gefangenschaft der islamistischen Terroristen von Abu Sayyaf.

Protokoll: Lars Langenau

"1992 sind wir im Mittelmeer gestartet, das erste Jahr verbrachten wir auf dem Roten Meer, weil Stefan und ich das Tauchen liebten. Damals war diese Ecke noch nicht so gefährlich wie heute. Wir hatten uns erst kurz zuvor kennengelernt. Stefan war Arzt, hatte Geld zurückgelegt, wollte mit seinem Segelschiff aussteigen und suchte eine Begleitung. Mir passte das gut. Wir verstanden uns, waren beide neugierig und irgendwann ein eingespieltes Team. Dass daraus einmal 22 Jahren würden, hatten wir damals weder gedacht noch geplant.

Doch als wir unterwegs waren, ergab es sich, dass wir immer weiter wollten. Ein Jahr nach unserem Start entschieden wir uns im Hafen von Aden für den Indischen Ozean. Wir segelten von Jemen auf die Malediven, von da nach Sri Lanka und weiter ins Chagos-Archipel, ein unbewohntes britisches Überseegebiet. So vergingen fast zehn Jahre. Danach ging es auf die Seychellen, nach Madagaskar, Süd- und Ostafrika und nach Mauritius. Wir überstanden Stürme, ich schwamm mit Walen und fing einen Hai mit einem Lasso.

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Später segelten wir nach Thailand - und ließen uns immer mehr Zeit. Fünf Jahre pendelten wir zwischen Thailand und Malaysia hin und her, segelten um Singapur herum nach Borneo, um dann für weitere vier Jahre in der Region zwischen den westlichen Philippinen und Borneo zu verweilen. Stefan war damals 72 Jahre alt, ich 47. Wir lebten einen Traum, waren glücklich - und inzwischen längst ein Paar.

In einer vermeintlich sicheren touristischen Gegend im Westen der Philippinen, einer windgeschützten Bucht der Insel Palawan, endete unsere Idylle am 17. April 2014. Wir tranken gerade an Deck unseren Sundowner, als ein Speedboot auf uns zugeschossen kam, darauf zehn Männer mit Polizei-T-Shirts und Maschinengewehren. Sie enterten unser Schiff, fesselten uns, nahmen ein paar Sachen von uns mit und warfen uns in ihr kleines Boot. 30 Stunden rasten wir über das Meer in Richtung Süden, zur 500 Kilometer entfernten Insel Jolo, der Heimat der Terroristen von Abu Sayyaf.

Zunächst brachten sie uns in eines ihrer Lager, die im Grunde Dörfer sind. Wir schliefen auf feuchtem Boden, ständig waren da Schlangen, Kröten, wilde Hunde, freilaufende Hühner. Wir wurden ununterbrochen beobachtet. Selbst nachts waren zwei Bewacher für uns abgestellt. Die Wächter wurden von ihren Freunden besucht, alle schauten uns zu, bei allem was wir taten oder ließen. Selbst beim Gang in die Büsche, um unsere Notdurft zu verrichten. Mehr als ein halbes Jahr ging das so. Irgendwann baut man seine Scham ein Stück weit ab.

Tiere, Unwetter, Regen: Alles wurde uns mit der Zeit egal. Es gelang uns sogar, es positiv zu sehen, dass ständig bis zu 70 Männer auf uns aufpassten. Denn wenn eine Schlange kam, wurde sie umgehend von unseren Bewachern verscheucht. Einmal unternahmen wir einen Fluchtversuch, der aber schon nach 20 Minuten endete.

Gewaltmarsch durch den Wald

Zweimal wechselten wir die Lager im Regenwald, wenn das Militär anrückte. Jedes Mal bedeutete das einen Gewaltmarsch von mehreren Tagen und Nächten durch unberührten Wald. Bei diesen Märschen wurde uns klar, dass wir uns bei einer Flucht fünf, sechs Stunden hätten durchschlagen müssen, um überhaupt aus dem Territorium von Abu Sayyaf herauszukommen.

Unsere Entführer waren rohe Naturen. Nur der Anführer der Gruppe, Rami, konnte Englisch, bei den anderen erschöpfte sich der Wortschatz in Kommandos wie 'You come here'. Anfangs dachten wir, dass es gut wäre, möglichst viel Kontakt zu den Entführern zu haben, weil es ihnen dann schwerer fallen würde, uns umzubringen. Doch dann wurde uns die Gefahr bewusst: Je mehr sie über Stefan und mich wussten, umso höher konnte auch die Lösegeldforderung ausfallen. Von da an mieden wir jede persönliche Annäherung an unsere Entführer.

Zwar erlebten wir in ihren Lagern, dass sie Respekt vor den Alten ihres Volkes hatten und sich an eine sehr strenge Hierarchie hielten. Doch trotz Stefans Alter brachten sie uns keinerlei Achtung entgegen, für sie waren wir Westler keine Menschen. "Dein Leben berührt mich nicht", sagte einer öfter zu Stefan. Es wirkte, als hätten sie schon als Kinder eine Gehirnwäsche bekommen.

Mit der Zeit wurden die Männer immer aggressiver. So sprach Stefan einmal eine Frau aus dem Dorf an, weil er für mich eine Mango erbetteln wollte. Das zog furchtbare Konsequenzen nach sich. Für einen Monat wurden wir getrennt, mehrfach verlor ich in dieser Zeit die Hoffnung. Die Angst um ihn wurde oft übermächtig. Zu Recht, denn sie schlugen Stefan mit Gewehrkolben, schossen neben ihn in den Boden und führten ihn ab zu Scheinhinrichtungen. In einem frisch ausgehobenen Grab hielten sie ein Gewehr an seine Brust und drückten ab, es machte Klick. Sie schlugen mit Baseballschlägern auf ihn ein, bis er blutüberströmt war und sie drohten, ihn zu köpfen, um ihrer Lösegeldforderung Nachdruck zu verleihen.

Anfangs wechselten sich bei uns Wut und Ohnmacht ab, später kam die Lethargie. In den ersten Wochen saßen wir nur untätig herum und überlegten uns, wie das hier ausgehen könnte. Alle Szenarien, die wir uns ausdenken konnten, endeten schlecht: Einmal war die Lösegeldforderung viel zu hoch, als dass wir sie, zumindest persönlich, hätten zahlen können. Würde das Militär kommen, stünden unsere Überlebenschancen in einem Feuergefecht auch nicht gut. Flucht war ebenfalls unmöglich. Immer wenn diese Gedanken hochkamen, versuchten wir uns abzulenken.

Ein weiterer, bestimmender Gedanke war: Wenn wir hier sterben würden, dann hatten wir wenigstens ein erfülltes Leben gelebt. Wir segelten in den schönsten Gegenden der Welt und sahen dabei unfassbar beeindruckende Dinge und Orte, und das mehr als zwei Jahrzehnte.

Als Arzt hatte Stefan zudem so viele Krankheiten gesehen, von denen viele mit Siechtum verbunden waren, dass er sich Schlimmeres vorstellen konnte, als geköpft zu werden. Mit einem schnellen Ende hatten wir uns beide arrangiert. Unsere Angst war also nicht, dass wir sterben, sondern wie wir sterben würden. Echte Panik hatte ich ganz konkret davor, gefoltert zu werden. Ich fürchtete mich vor Schmerzen und Qualen, die nicht enden würden.

Uns blieb nicht viel, als unsere Gedanken auf kleine, positive Dinge zu lenken. So lernte ich in der Gefangenschaft, stundenlang eine Spinne zu beobachten oder das Spiel von ein paar Kätzchen. Selbst eine Ameise konnte mich erfreuen. Wenn das Leben auf einen Bewegungsradius von 20 Metern begrenzt ist, dann beschäftigen einen eben andere Dinge als vorher.

Vor allem hatten wir die ganze Zeit Hunger. Dreimal täglich bekamen wir Reis mit etwas Sojasoße, nur selten gab es ein Stückchen Fisch. Dass ich heute noch Reis essen kann, grenzt an ein Wunder. Auch das Essen unserer Bewacher war rationiert, einmal in der Woche kamen ein paar ihrer Leute mit der gemeinschaftlichen Versorgung. Passten wir nicht genau auf, übergingen sie uns, und jemand anderes krallte sich unsere Portion. Darauf zu achten wurde zu meiner Hauptbeschäftigung.

Selbst weinen konnte ich nicht

Stefan nahm 15 Kilo ab, ich acht. Unser Zustand verschlechterte sich von Tag zu Tag. Irgendwann trübte sich das Empfinden oder schaltete sich ganz ab, alles erschien einem wie im Nebel. Der Kopf war nicht mehr da, nur noch das Herz schlug. Selbst weinen konnte ich nicht, weil mir dazu die Kraft fehlte.

Wir hatten nur uns. Aber wir waren es gewohnt, zu zweit allein zu sein. Wir versuchten uns gegenseitig zu stützen, jeder nach seinen Möglichkeiten. Stefan ist jetzt 74 Jahre alt, körperlich gesund, aber nach den Schlägen mit den Gewehrkolben auf dem rechten Ohr taub. Er hat sich von den Strapazen und der ständigen Angst bis heute nicht erholt. Er hat seinen Antrieb verloren. Sie haben ihn gebrochen.

Ich erlitt zum Glück kein bleibendes Trauma. Eine richtige Erklärung dafür habe ich nicht, ich bin wohl einfach so gestrickt. Zwar bin ich katholisch getauft, aber als richtig gläubig würde ich mich nicht bezeichnen. Dennoch habe ich damals im Regenwald gebetet, mich an Gott geklammert, weil ich nichts mehr anderes hatte.

Es hört sich unglaubwürdig an, aber ich weiß bis heute nicht, ob für unsere Freilassung Lösegeld bezahlt wurde. Ich bitte jedoch darum, sich vorzustellen, es wäre die eigene Tochter oder der geliebte Vater entführt worden wären. Was hätten Sie sich gewünscht?

Das Schiff liegt noch immer in einer Werft in Südostasien. In den vergangenen zwei Jahren war ich zwei Mal dort. Seit unserer Entführung wurde es nicht mehr gewartet, alles ist eingerostet, dreckig und verbogen. Oft denke ich, dass uns der ganze Pazifik noch offen steht. Dass wir noch nicht einmal die Welt umrundet haben. Aber im Moment ist alles in der Schwebe. Die Terroristen haben mir viel genommen. Sie haben meinen Traum entführt."

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Henrike Dielen, 49, hat ein Buch über ihre Erlebnisse geschrieben, das gerade veröffentlich wurde: "Der entführte Traum. In der Gewalt islamistischer Terroristen", Rowohlt

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