Meine zwei besten Freunde kenne ich schon mein halbes Leben, einer von ihnen wohnt auch in Berlin, nur ein paar Straßen weiter. Trotzdem sehen wir uns nur fünfmal im Jahr. Wir finden das schade. Andererseits gibt es im Leben von uns allen gerade so viele Dinge, die unsere
Aufmerksamkeit brauchen. Wir sind Anfang 40. Wir haben Familie, Kinder, einen anstrengenden Job und so wenig Zeit wie noch nie. Das geht sicher vielen in unserem Alter so. Es ist nicht einfach mit Freundschaften in dieser Lebensphase, im Gegenteil. Anstatt neue zu schließen, muss man eher aufpassen, dass man die, die man hat, nicht verliert.
Umso überraschter war ich, als ich vor Kurzem einen neuen Freund gefunden habe - und zwar genau dort, wo auch meine Kinder ihre Freunde finden: in der Kita.
Der Tag, an dem ich zum ersten Mal mit ihm sprach, war der Tag, an dem er zum ersten Mal seine Kinder vom Kindergarten abholte. Seine Frau und er haben Zwillinge, zwei sehr lebhafte Jungs, noch keine drei Jahre alt. Es ist wirklich schwer, einen von beiden anzuziehen, ohne dass der andere wegrennt oder sich versteckt. Normalerweise holt Steffens Frau die Kinder nachmittags ab und setzt sie in ihren Fahrradanhänger, aber seit Kurzem hat sie einen neuen Job, sie arbeitet jetzt wieder Vollzeit und kommt erst spät nach Hause. Deshalb muss ihr Mann jetzt immer um halb fünf in der Kita sein.
"Ich bin Steffen", sagte er. So als sei er hier jetzt der Neue.
Ich wusste, dass er eine Baufirma hat, weil das auf der Tür des riesigen Pickups stand, den er jetzt immer vor dem Kindergarten parkte. Beim letzten Sommerfest hatte ich ihn mit einem anderen Vater über Kellerisolierung, Gebäudetraufhöhen und verschiedene Abdeckbleche für Balkonbrüstungen reden hören, während sie für die Kinder grillten und Bier tranken.
Bislang zählte bei Freundschaften der Grad der Übereinstimmung
Selbst, wenn es mich interessiert hätte, ich hätte an dem Gespräch nicht teilnehmen können. Ich habe mich mit Steffen bis heute nicht über die Arbeit unterhalten, nicht seine und nicht meine, obwohl ich das mit meinen zwei besten Freunden ständig mache. Es ist das, was uns anfangs vor allem anderen verband. Sie sind beide Journalisten wie ich.
Mit dem einen habe ich ein Praktikum bei einer Zeitung gemacht, bei der man jeden Morgen in der Konferenz gefragt wurde, welchen Artikel man heute anzubieten habe, ohne dass einem jemand erklärt hätte, wie man einen Artikel schreibt oder ein Thema dafür findet. Wir hätten nur in der Kaffeeküche herumgestanden, wenn wir uns gegenseitig nicht geholfen hätten.
Den anderen besten Freund kenne ich noch aus der Journalistenschule, in der unsere Gedanken, wie die aller anderen 30 Schüler unseres Jahrgangs, um nichts anderes kreisten als um Zeitungen und Texte und andere Journalisten. Wir gingen auf Journalistenpartys, führten Journalistengespräche und lebten in einer Journalistenblase. Aber natürlich gibt es genauso Mediziner-, Anwalts- und BWLer-Blasen. Was zählt, ist der Grad an Übereinstimmung.
Ich habe damals, mit Anfang 20, geglaubt, man kann nur mit jemandem befreundet sein, der sich für dasselbe interessiert, der genauso denkt und dasselbe vorhat. Ich fand vermutlich sogar, dass man sich mit jemandem, der nicht in meiner Blase ist, im Grunde nicht unterhalten kann. Und selbst wenn - wozu?
Wir haben nur eine Gemeinsamkeit: die Abholzeit
Steffen liest keine Zeitung. Wir reden nie darüber, was in den Nachrichten läuft. Ich weiß nicht, was für politische Ansichten er hat, obwohl er nicht so wirkt, dass ich es besser gar nicht wissen will. Wir kommen nur einfach nicht drauf. Wir sprechen nicht über Bücher, Netflix-Serien oder Reisen. Er scheint ohnehin nicht viel unterwegs gewesen zu sein, bis er Vater wurde.
Irgendwann hat er erzählt, er sei früher in der Umgebung von Berlin viel Rennrad gefahren. Er kauft kein Bio, seine Unterarme sind tätowiert, und seine Jungs spielen immer jeweils mit dem Zeug, das es als Merchandising für einen Blockbuster im Supermarkt gibt. Während wir am Wochenende versuchen, aus der Stadt raus aufs Land zu kommen, geht er mit seiner Familie ins Freibad. Wir haben keinerlei Gemeinsamkeiten, außer dass wir manchmal zur gleichen Zeit unsere Kinder vom Kindergarten abholen.
In der ersten Zeit rauschte er in die winzige Umkleide mit ihren Bänkchen, Häkchen und Kistchen wie ein Mann, der gerade von der Baustelle kommt und daran gewöhnt ist, dass sich Dinge auf Knopfdruck bewegen. Jetzt sah er sich plötzlich einer unübersichtlichen Menge von Mützen, Handschuhen, Brotdosen und ausnahmsweise mitgenommenem Spielzeug gegenüber, das von seinen Kindern immer neu sortiert wurde, während er versuchte, sie anzuziehen. Es war uferlos. Man spürte, wie er sich bemühte, die Geduld zu bewahren und es dennoch nicht erwarten konnte, in den Pick-up zu steigen, bevor einer der Zwillinge auf die Idee kommen würde, ein Eis zu wollen. Ich kannte das so gut.
Auch ich war das Abholen anfangs mit Schwung angegangen, hatte dann aber festgestellt, dass ein in der Eile vergessenes Kuscheltier keine Lappalie war. Auf der anderen Seite führte demonstrative Ruhe ziemlich sicher dazu, dass man sich auf einmal an einem der Tischchen wiederfand und mit seinen Kindern sehr kleine Plastikperlen auf ein Nagelbrett aufsteckte, um sie von einer Erzieherin bügeln zu lassen, obwohl man eigentlich nach Hause musste.
Das Abholen ist eine Situation, in der Eltern und Kinder gern klassisch aneinander vorbeiagieren. Die einen sind froh, endlich aus der strengen Struktur des Kindergartens herauszukommen und glauben, der Tag würde jetzt noch einmal ganz neu beginnen. Die anderen sind oft bereits am Ende ihrer Kräfte, dabei muss noch eingekauft, gekocht, aufgeräumt und gebadet und ins Bett gebracht werden.