Elternfreundschaften:Oh Brother!

Stiftung rügt Kita-Betreuung in Berlin

Welche Jacke gehört welchem Kind? Das Abholen aus der Kita ist eine Stresssituation für Eltern.

(Foto: dpa)

Unser Autor und ein Mann namens Steffen treffen sich nur beim Abholen in der Kita. Viel mehr verbindet sie nicht. Doch in dieser Viertelstunde sind sie Freunde.

Von Marcus Jauer

Meine zwei besten Freunde kenne ich schon mein halbes Leben, einer von ihnen wohnt auch in Berlin, nur ein paar Straßen weiter. Trotzdem sehen wir uns nur fünfmal im Jahr. Wir finden das schade. Andererseits gibt es im Leben von uns allen gerade so viele Dinge, die unsere

Aufmerksamkeit brauchen. Wir sind Anfang 40. Wir haben Familie, Kinder, einen anstrengenden Job und so wenig Zeit wie noch nie. Das geht sicher vielen in unserem Alter so. Es ist nicht einfach mit Freundschaften in dieser Lebens­phase, im Gegenteil. Anstatt neue zu schließen, muss man eher aufpassen, dass man die, die man hat, nicht verliert.

Umso überraschter war ich, als ich vor Kurzem einen neuen Freund gefunden habe - und zwar genau dort, wo auch meine Kinder ihre Freunde finden: in der Kita.

Der Tag, an dem ich zum ersten Mal mit ihm sprach, war der Tag, an dem er zum ersten Mal seine Kinder vom Kindergarten abholte. Seine Frau und er haben Zwillinge, zwei sehr lebhafte Jungs, noch keine drei Jahre alt. Es ist wirklich schwer, einen von beiden anzuziehen, ohne dass der andere wegrennt oder sich versteckt. Normalerweise holt Steffens Frau die Kinder nachmittags ab und setzt sie in ihren Fahrradanhänger, aber seit Kurzem hat sie einen neuen Job, sie arbeitet jetzt wieder Vollzeit und kommt erst spät nach Hause. Deshalb muss ihr Mann jetzt immer um halb fünf in der Kita sein.

"Ich bin Steffen", sagte er. So als sei er hier jetzt der Neue.

Ich wusste, dass er eine Baufirma hat, weil das auf der Tür des riesigen Pick­ups stand, den er jetzt immer vor dem Kindergarten parkte. Beim letzten Sommerfest hatte ich ihn mit einem anderen Vater über Kellerisolierung, Gebäudetraufhöhen und verschiedene Abdeckbleche für Balkonbrüstungen reden hören, während sie für die Kinder grillten und Bier tranken.

Bislang zählte bei Freundschaften der Grad der Übereinstimmung

Selbst, wenn es mich interessiert hätte, ich hätte an dem Gespräch nicht teilnehmen können. Ich habe mich mit Steffen bis heute nicht über die Arbeit unterhalten, nicht seine und nicht meine, obwohl ich das mit meinen zwei besten Freunden ständig mache. Es ist das, was uns anfangs vor allem anderen verband. Sie sind beide Journalisten wie ich.

Mit dem einen habe ich ein Praktikum bei einer Zeitung gemacht, bei der man jeden Morgen in der Konferenz gefragt wurde, welchen Artikel man heute anzubieten habe, ohne dass einem jemand erklärt hätte, wie man einen Artikel schreibt oder ein Thema dafür findet. Wir hätten nur in der Kaffeeküche he­rumgestanden, wenn wir uns gegenseitig nicht geholfen hätten.

Den anderen besten Freund kenne ich noch aus der Journalistenschule, in der unsere Gedanken, wie die aller anderen 30 Schüler unseres Jahrgangs, um nichts anderes kreisten als um Zeitungen und Texte und andere Journalisten. Wir gingen auf Journalistenpartys, führten Journalistengespräche und lebten in einer Journalistenblase. Aber natürlich gibt es genauso Mediziner-, Anwalts- und BWLer-Blasen. Was zählt, ist der Grad an Übereinstimmung.

Ich habe damals, mit Anfang 20, geglaubt, man kann nur mit jemandem befreundet sein, der sich für dasselbe interessiert, der genauso denkt und dasselbe vorhat. Ich fand vermutlich sogar, dass man sich mit jemandem, der nicht in meiner Blase ist, im Grunde nicht unterhalten kann. Und selbst wenn - wozu?

Wir haben nur eine Gemeinsamkeit: die Abholzeit

Steffen liest keine Zeitung. Wir reden nie darüber, was in den Nachrichten läuft. Ich weiß nicht, was für politische Ansichten er hat, obwohl er nicht so wirkt, dass ich es besser gar nicht wissen will. Wir kommen nur einfach nicht drauf. Wir sprechen nicht über Bücher, Netflix-Serien oder Reisen. Er scheint ohnehin nicht viel unterwegs gewesen zu sein, bis er Vater wurde.

Irgendwann hat er erzählt, er sei früher in der Umgebung von Berlin viel Rennrad gefahren. Er kauft kein Bio, seine Unterarme sind tätowiert, und seine Jungs spielen immer jeweils mit dem Zeug, das es als Merchandising für einen Blockbuster im Supermarkt gibt. Während wir am Wochenende versuchen, aus der Stadt raus aufs Land zu kommen, geht er mit seiner Familie ins Freibad. Wir haben keinerlei Gemeinsamkeiten, außer dass wir manchmal zur gleichen Zeit unsere Kinder vom Kindergarten abholen.

In der ersten Zeit rauschte er in die winzige Umkleide mit ihren Bänkchen, Häkchen und Kistchen wie ein Mann, der gerade von der Baustelle kommt und daran gewöhnt ist, dass sich Dinge auf Knopfdruck bewegen. Jetzt sah er sich plötzlich einer unübersichtlichen Menge von Mützen, Handschuhen, Brotdosen und ausnahmsweise mitgenommenem Spielzeug gegenüber, das von seinen Kindern immer neu sortiert wurde, während er versuchte, sie anzuziehen. Es war uferlos. Man spürte, wie er sich bemühte, die Geduld zu bewahren und es dennoch nicht erwarten konnte, in den Pick-up zu steigen, bevor einer der Zwillinge auf die Idee kommen würde, ein Eis zu wollen. Ich kannte das so gut.

Auch ich war das Abholen anfangs mit Schwung angegangen, hatte dann aber festgestellt, dass ein in der Eile vergessenes Kuscheltier keine Lappalie war. Auf der anderen Seite führte demonstrative Ruhe ziemlich sicher dazu, dass man sich auf einmal an einem der Tischchen wiederfand und mit seinen Kindern sehr kleine Plastikperlen auf ein Nagelbrett aufsteckte, um sie von einer Erzieherin bügeln zu lassen, obwohl man eigentlich nach Hause musste.

Das Abholen ist eine Situation, in der Eltern und Kinder gern klassisch aneinander vorbeiagieren. Die einen sind froh, endlich aus der strengen Struktur des Kindergartens herauszukommen und glauben, der Tag würde jetzt noch einmal ganz neu beginnen. Die anderen sind oft bereits am Ende ihrer Kräfte, dabei muss noch eingekauft, gekocht, aufgeräumt und gebadet und ins Bett gebracht werden.

Uns eint die Frage: "Was ist das denn nur?"

An dem Tag, an dem Steffen und ich Freunde wurden, hatte er einem seiner Zwillinge in der Umkleide aus Versehen eine Jacke angezogen, die einem ganz anderen Kind gehörte, worauf sein Junge einen Schreianfall bekam, ohne dass man verstehen konnte, worum es eigentlich ging. Die furchtlose Dynamik, mit der Steffen seine Kinder anfangs abgeholt hatte, war da schon dieser Duldsamkeit gewichen, die ich auch habe, wenn die Kraft zu mehr nicht reicht. Ich half ihm, die richtige Jacke zu suchen. Als wir sie hatten, war der eine Zwilling weggerannt, und der andere hatte sich in die Hose gemacht.

In dem Moment ließ Steffen die Beutel, Dosen und Bastelarbeiten fallen, die er in der Hand hatte, und sagte: "Ich kann nicht mehr."

Als hätte der Druck ein Ventil gefunden, sprudelte aus ihm jetzt die Geschichte heraus, dass seine Frau und er heute eigentlich den Mietvertrag für ein Einfamilienhaus unterschreiben wollten, das sie in Frohnau gefunden hatten, einem der ruhigeren Randbezirke von Berlin. Es sei zwar einiges zu renovieren, aber er sei ja vom Bau und sie müssten sowieso umziehen, weil ihre Altbauwohnung für die Zwillinge und sie inzwischen zu klein sei, außerdem werde sie gerade saniert und danach steige die Miete. Natürlich, von der Arbeit bis nach Frohnau, das sei für seine Frau und ihn jeweils eine halbe Stunde mehr Fahrtzeit, aber dann hätten sie nach Feierabend im Garten sitzen können. Sie hätten sogar schon zwei Kindergartenplätze in Frohnau gehabt, für die Eingewöhnung hätte er Urlaub genommen, das wäre irgendwie gegangen.

Aber dann, er war gerade auf dem Weg zu den neuen Vermietern, rief ihn seine Frau an, sie habe einen Hörsturz. Er habe schon so was befürchtet, weil der Job, in den sie sich gerade einarbeite, so irre anstrengend sei. Und in dem Moment sei ihm klar geworden, dass sie zurzeit gar keine Kraft für einen Umzug hätten. Es sei das Richtige, aber sie schafften es gerade einfach nicht.

"Kannst du das glauben?", fragte er. "Was ist das denn nur?"

Es war keine Frage, die ich beantworten sollte. Sondern eine danach, ob es mir manchmal genauso gehe, ob auch ich Tage kenne, an denen sich mein Leben so anfühlt, als sei irgendetwas das Richtige, und trotzdem hat man gerade nicht die Kraft dafür.

Seit diesem Tag sind Steffen und ich Freunde. Wir waren noch nie zusammen ein Bier trinken, wir machen keine Motorradtouren, und wir treffen uns am Wochenende auch nicht auf dem Fußballplatz. Wir sehen uns nur, wenn wir unsere Kinder gleichzeitig von der Kita abholen. In dieser Viertelstunde zwischen Kinderzeichnungen ansehen, Jacken anziehen und Brotdosen suchen, sind wir echte Freunde. Manchmal reden wir über die Kinder, manchmal über das Wetter, manchmal macht einer auch nur einen schnellen Witz. Trotzdem habe ich immer das Gefühl, dass wir uns verstehen.

Am Ende ist man mit jemandem befreundet, weil man sich in ihm wiedererkennen kann, ohne dass er deshalb sein muss wie man selbst. Es geht nicht darum, dass er im Leben auf dieselben Antworten kommt. Es geht nur darum, dass er sich ab und zu dieselben Fragen stellt - und eine davon lautet manchmal: "Was ist das denn nur?"

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