Dem Geheimnis auf der Spur:Der Film, den es nicht geben sollte

Dem Geheimnis auf der Spur: Der russische Regisseur Sergei Eisenstein revolutionierte mit seinem Stummfilm "Panzerkreuzer Potemkin" 1925 das Kino.

Der russische Regisseur Sergei Eisenstein revolutionierte mit seinem Stummfilm "Panzerkreuzer Potemkin" 1925 das Kino.

(Foto: imago images/Kharbine-Tapabor)

Wie der erste Tonfilm von Sergei Eisenstein verloren ging - und doch nicht ganz verschwand.

Von Fritz Göttler

Stepok ist ein strammer Bursche, mit blonden Schopf und ernstem Gesicht, ein Tom Sawyer des ersten sowjetischen Fünfjahresplans, im Film "Die Beshin-Wiese" von Sergej M. Eisenstein. Am Ende ist er tot, umgebracht von einem reaktionären Kulaken. Seinem Vater.

"Die Beshin-Wiese/Beschin lug", gedreht zwischen 1935 und 1937, ist einer der großen films maudits der Kinogeschichte, ein Film, den es nicht geben sollte, dessen Produktion von den sowjetischen Behörden behindert, schließlich ganz abgebrochen wurde. Das gedrehte Material kam in den Keller und wurde wohl bei einem Luftangriff auf das sowjetische Filmarchiv in Moskau 1941 vernichtet.

"Beshin lug" war Eisensteins erster Tonfilm, sein Versuch, im sowjetischen Kino wieder Fuß zu fassen nach mehreren Jahren im Ausland. Mit seinem "Panzerkreuzer Potemkin" hatte er 1925 die Dynamik der russischen Revolution und des sowjetischen Kinos für die ganze Welt sichtbar gemacht, und wurde von ihr gefeiert. In Hollywood bekam er einen gut dotierten Auftrag von der Paramount, die Verfilmung von Thedore Dreisers "An American Tragedy". Daraus wurde nichts, und Eisenstein zog weiter nach Mexiko, wo es eine andere Revolution zu reflektieren galt, verlor sich in die Todes-Mythologie des Landes und in die Liebe zu jungen Männern ... Der Posterboy des sowjetischen Kinos, mehr interessiert an Psychoanalyse und Impressionismus als an sozialistisch brauchbarem Realismus, wurde von Stalin zurückberufen.

Der Chef der sowjetischen Filmbehörde stoppte die Produktion des Werkes

In der Sowjetunion hatten die Jahre der großen Säuberungen begonnen, die Tausende Menschenleben kosteten und dem Kino ideologische Enge bescherten. "Beschin lug" ist inspiriert von Iwan Turgenjew, aber der Drehbuchautor Alexander Rscheschewski erzählt die beispielhafte Realgeschichte des Jungen Pawel Morosow nach, der reaktionäre Pläne seines Vaters den Behörden verriet und dafür von der Familie getötet wurde. Eine wilde, archaische Geschichte, die Eisenstein natürlich an den biblischen Abraham erinnerte. Schon deshalb traf seinen Film das tödliche Verdikt: Formalismus, Individualismus.

Der Vater ist Kulak, will mit seinen Kumpeln die Ernte des Dorfes in Brand setzen, der Sohn Stepok verrät das Vorhaben. Ist das - sozialistische - Paradies nur möglich ohne Vater? Stepoks Vater argumentiert biblisch: "Als Gott den Himmel, die Wasser und die Erde erschaffen hat, gebot er, seid fruchtbar und mehret euch. Aber: Wenn ein Sohn den Vater verrät, tötet ihn wie einen Hund ..."

Während der aufwendigen Produktion des Films gab es Aufschübe, das Drehbuch musste an die simple Linie der sozialistischen Ideologie angepasst werden. Dann erkrankte Eisenstein. Jay Leyda, damals Assistent beim Dreh, erzählt 1982 liebevoll ironisch im Buch "Eisenstein at Work": "Während er persönlich jedes Stück für die Ausstattung auswählte, wählte ein Keim, der auf einer Ikone oder einem heiligen Banner wartete, den Atheisten Eisenstein als den einzigen Pocken-Fall in Moskau seit zwei Jahren aus."

Am 17. März 1937 wurde die Produktion endgültig gestoppt durch den Chef der sowjetischen Filmbehörde, Boris Schumjazki. Wie weit der Film zu diesem Zeitpunkt war, darüber gehen die Angaben auseinander. Laut Leyda seien die Dreharbeiten fertig, das Material montiert gewesen, beide Fassungen, angeblich war eine eigene Version für Jugendliche gemacht worden.

Der Film war ein Desaster für Eisenstein

Eisenstein habe den Klassenkampf durcheinandergebracht mit dem Kampf zwischen Gut und Böse, das Verdikt des Formalismus. "Beschin lug" sei "eine Verleumdung des sowjetischen Landes", schrieb Schumjazki in der Prawda, habe "sich entfernt von den Farben und dem Heroismus der Realität". Schumjazki wurde 1938 selbst verhaftet und umgebracht.

Verdikt des Formalismus: Apfelbäume in voller Blüte, ein Himmel gesättigt mit Wolken, ein stilles Gewässer, so fängt der Film an, Bilder wie von Hand modelliert, überwältigend plastisch, ganz Turgenjew. Stepok trauert um seine tote Mutter, der Vater hat sie erschlagen. Sie liegt auf einer Trage, ein schönes Gesicht, der Dorfälteste steht dabei. Rudimente von Körpern und Beziehungen, die drei Menschen sind in einer Entfernung zueinander, die nie wieder aufhebbar scheint.

Eisensteins Frau Pera Ataschewa hat Schnittreste des Films von der Arbeit am Schneidetisch gerettet, sie wurden von Naum Klejman und Sergej Jutkewitsch in den Sechzigern zusammenmontiert zu einem Fotoroman, mit Zwischentiteln versehen und mit Prokofjew-Musik unterlegt. Und man spürt, wie der Film immer noch vibriert.

Die finsteren Kulaken-Kumpel setzen ein Benzinlager der Kolchose in Brand. Die Dorfkirche wird von den Jungen demoliert, sie soll ein Klubhaus werden. Eisenstein filmt das mit ehrfürchtigem, perversen Schauder, ein kleines Kind bekommt eine Krone aufs Haupt, als wäre es ein König. Die Jungs bewachen die Ernte, Stepok steht auf einem Hochstand, der Vater legt mit der Flinte auf ihn an. "Der Film ist in hohem Maße mythologisch", schreibt der Kritiker Viktor Schklowski in seinem tollen Eisenstein-Buch. "In ihm war der Atem des Lebens, die Schönheit der Kirche, die man zerstörte, der Schmerz des Vaters, der Schmerz und der Triumph des Sohnes. ... Er erinnert nicht an ein Buch mit Illustrationen. Viel eher ähnelt er freskenbemalten Mauern."

"Beschin lug" war ein Desaster für Eisenstein, aber mit seinem nächsten Film, "Alexander Newski", konnte er sich 1938 rehabilitieren, ein "aktueller" Film über eine grausame deutsche Invasion Russlands - Deutschordensritter im Mittelalter. Mit dem nächsten Film über die pathetische Figur "Iwan der Schreckliche" gab es wieder Probleme, die war Stalin zu ähnlich. Eisenstein starb im Februar 1948, mit fünfzig Jahren.

Einen "stumpfen Sinn" entdeckte der französische Philosoph Roland Barthes beim Studium einiger Fotogramme bei Eisenstein, einen Überschuss an Bedeutung, der nicht verbalisiert werden kann. Und der die (politische) Erzählung nicht zerstört, aber mythisch subversiv macht. Das Überleben von "Beschin lug" scheint ein grandioses Beispiel hierfür.

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