Einzelkinder:"Man sollte Geschwister nicht zu sehr verklären"

Schlaf

Auf Einzelkinder konzentriert sich die elterliche Aufmerksamkeit. Ein Nachteil für die Entwicklung muss das nicht sein.

(Foto: mathias the dread/photocase.com)

Wer sich nie mit Bruder und Schwester um das letzte Gummibärchen streiten muss, der wird auch keine Sozialkompetenz entwickeln: Einzelkindern klebt hartnäckig das Etikett an, altklug und ichbezogen zu sein. 26 Prozent der 13 Millionen Kinder in Deutschland lebten dem Statistischen Bundesamt zufolge 2014 ohne Geschwister in einem Haushalt. Aber entwickeln sich Einzelkinder wirklich anders? Der Münchner Entwicklungspsychologe Hartmut Kasten erforscht seit Jahrzehnten verschiedene Familienkonstellationen. Ein Gespräch über Elternerwartungen, Verantwortungsbewusstsein und Geschwisterstreit.

Von Eva Dignös

Herr Kasten, warum werden Einzelkindern so viele negative Eigenschaften zugesprochen?

Hartmut Kasten: Das stammt noch aus einer Zeit vor vier, fünf Generationen, als Einzelkinder eine Rarität waren. Diese Kinder waren aufgrund der besonderen Lebensumstände meist wirklich sehr auf Erwachsene fokussiert und entwickelten dann auch die entsprechenden Macken. Das hat mit heute aber nichts mehr zu tun. Zum Glück nimmt allmählich auch der Rechtfertigungsdruck auf die Eltern ab, die nur ein Kind haben. Einzelkinder werden mehr und mehr zum Regelfall.

Dennoch hält sich hartnäckig das Urteil, dass Einzelkinder verwöhnte kleine Egoisten sind. Gibt es das typische Einzelkind überhaupt?

Nein, das gibt es nicht. Wir sehen so gut wie keine Unterschiede im Sozialverhalten. Aber Einzelkinder wachsen ja auch nicht ohne andere Kinder auf, sondern sind meist schon ab der Krabbelgruppe mit Gleichaltrigen zusammen.

Macht es denn gar keinen Unterschied, ob ein Kind mit Geschwistern aufwächst oder ob es für die Kontakte zu anderen Kindern in die Kita und auf den Spielplatz gehen muss?

Es stimmt: Geschwister hat man rund um die Uhr. Um mit Freunden geschwisterähnliche Situationen zu erleben, bedarf es immer eines gewissen Aufwands: Sie müssen mal über ein ganzes Wochenende bleiben dürfen oder die Freunde wohnen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Viele Eltern von Einzelkindern ermöglichen aber auch sehr bewusst solche Kontakte, indem sie zum Beispiel Freunde des Kindes mit in den Urlaub nehmen. Das bedeutet ja oft auch für die Eltern eine Entlastung. Außerdem sollte man Geschwister nicht zu sehr verklären. Ihre Beziehung ist ja nicht automatisch innig. Gerade wenn der Altersabstand gering ist, kommt es zwischen Geschwistern oft zu Streit.

Gibt es besondere Kompetenzen, die Sie bei Einzelkindern beobachten?

Untersuchungen zeigen, dass Einzelkinder in Gruppen beliebter sind, weil sie kompromissbereiter auftreten. Teilen fällt ihnen leichter, weil sie es nicht ständig müssen, sondern freiwillig tun können. Und sie fahren nicht so schnell die Ellenbogen aus wie Geschwisterkinder, die - vor allem wenn sie nicht die Erstgeborenen sind - oft sehr viel Durchsetzungsvermögen entwickeln. Vermitteln zu können, scheint Einzelkindern in die Wiege gelegt zu werden. Sie können sich besser allein beschäftigen. Und sie sind häufiger bereit, Verantwortung zu übernehmen, nicht nur in Form von Ämtern zum Beispiel als Klassensprecher, sondern auch, wenn es darum geht, für eigene Fehler geradezustehen. Sie haben ja keine Geschwister, denen sie die Schuld geben können.

"Kinder profitieren ungemein voneinander"

Was müssen Eltern von Einzelkindern beachten?

Es besteht immer die Gefahr, dass sich die Eltern sehr stark auf das einzige Kind konzentrieren. Die ungeteilte Zuwendung ist Chance und Risiko zugleich. Man kann gar nicht oft genug daran erinnern, dass Eltern den Alltag ihrer Kinder nicht überfrachten dürfen. Aber das gilt unabhängig von der Tatsache, ob ein Kind allein oder mit Geschwistern aufwächst, und ist eine Sache der elterlichen Grundhaltung. Natürlich gibt es extreme Einzelfälle, in denen Eltern sich an ihr Kind klammern. Aber die meisten Eltern von Einzelkindern achten darauf, dass ihre Kinder genug Kontakt zu Gleichaltrigen haben. Gottseidank engagieren sich auch die Väter mehr als früher - wobei es für Einzelkinder dann natürlich auch schon wieder ein Zuviel an Aufmerksamkeit werden kann.

Also wieder ein Argument dafür, Kinder möglichst früh auch mit Gleichaltrigen zusammenkommen zu lassen, in der Kita zum Beispiel.

Auf jeden Fall. Kinder profitieren ungemein voneinander.

Weiß man, wie Einzelkinder selbst ihr Leben sehen? Schätzen sie die konkurrenzlose Aufmerksamkeit der Eltern? Oder wünschen sie sich Geschwister?

Sie schätzen ihre Situation sehr realistisch ein und sehen die Vor- und Nachteile. Manche vermissen Geschwister, andere sind von der Aufmerksamkeit der Eltern genervt, grundsätzlich bewerten sie ihr geschwisterloses Leben aber positiv. Das gilt umgekehrt übrigens auch für Kinder mit Geschwistern.

Bekommen Einzelkinder wieder Einzelkinder?

Das wissen wir bislang nicht. Eine Studie der Universität Wien kam zu dem Ergebnis, dass Einzelkinder häufiger kinderlos bleiben. Aber das kann auch daran liegen, dass bei uns generell weniger Kinder geboren werden. Wenn junge Paare gefragt werden, ob und wie viele Kinder sie sich wünschen, dann ist meistens von zwei bis drei Kindern die Rede. Wenn es dann bei einem bleibt, liegt es oft an den Lebensumständen, an Gesellschaft und Politik, die zu wenig für Familien tun. Denn oft werden junge Eltern von der Wirklichkeit eingeholt - weil sie zum Beispiel erleben, wie schwierig es ist, Beruf und Familie zu vereinbaren - und dann bleibt es eben doch oft bei einem Einzelkind.

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