Herr Kasten, warum werden Einzelkindern so viele negative Eigenschaften zugesprochen?
Hartmut Kasten: Das stammt noch aus einer Zeit vor vier, fünf Generationen, als Einzelkinder eine Rarität waren. Diese Kinder waren aufgrund der besonderen Lebensumstände meist wirklich sehr auf Erwachsene fokussiert und entwickelten dann auch die entsprechenden Macken. Das hat mit heute aber nichts mehr zu tun. Zum Glück nimmt allmählich auch der Rechtfertigungsdruck auf die Eltern ab, die nur ein Kind haben. Einzelkinder werden mehr und mehr zum Regelfall.
Dennoch hält sich hartnäckig das Urteil, dass Einzelkinder verwöhnte kleine Egoisten sind. Gibt es das typische Einzelkind überhaupt?
Nein, das gibt es nicht. Wir sehen so gut wie keine Unterschiede im Sozialverhalten. Aber Einzelkinder wachsen ja auch nicht ohne andere Kinder auf, sondern sind meist schon ab der Krabbelgruppe mit Gleichaltrigen zusammen.
Macht es denn gar keinen Unterschied, ob ein Kind mit Geschwistern aufwächst oder ob es für die Kontakte zu anderen Kindern in die Kita und auf den Spielplatz gehen muss?
Es stimmt: Geschwister hat man rund um die Uhr. Um mit Freunden geschwisterähnliche Situationen zu erleben, bedarf es immer eines gewissen Aufwands: Sie müssen mal über ein ganzes Wochenende bleiben dürfen oder die Freunde wohnen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Viele Eltern von Einzelkindern ermöglichen aber auch sehr bewusst solche Kontakte, indem sie zum Beispiel Freunde des Kindes mit in den Urlaub nehmen. Das bedeutet ja oft auch für die Eltern eine Entlastung. Außerdem sollte man Geschwister nicht zu sehr verklären. Ihre Beziehung ist ja nicht automatisch innig. Gerade wenn der Altersabstand gering ist, kommt es zwischen Geschwistern oft zu Streit.
Gibt es besondere Kompetenzen, die Sie bei Einzelkindern beobachten?
Untersuchungen zeigen, dass Einzelkinder in Gruppen beliebter sind, weil sie kompromissbereiter auftreten. Teilen fällt ihnen leichter, weil sie es nicht ständig müssen, sondern freiwillig tun können. Und sie fahren nicht so schnell die Ellenbogen aus wie Geschwisterkinder, die - vor allem wenn sie nicht die Erstgeborenen sind - oft sehr viel Durchsetzungsvermögen entwickeln. Vermitteln zu können, scheint Einzelkindern in die Wiege gelegt zu werden. Sie können sich besser allein beschäftigen. Und sie sind häufiger bereit, Verantwortung zu übernehmen, nicht nur in Form von Ämtern zum Beispiel als Klassensprecher, sondern auch, wenn es darum geht, für eigene Fehler geradezustehen. Sie haben ja keine Geschwister, denen sie die Schuld geben können.