Einzelhandel:Die Monokultur boomt

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Ungewöhnliche Ware: Silvia Wald verkauft im "Aufschnitt" in Friedrichshain Schinken und Würste aus Stoff.

(Foto: Christian Jungeblodt / Guardian)

Ukulelen, Klebeband oder Stoffwurst: Geschäfte, die sich auf ein Nischensortiment spezialisiert haben, werden immer beliebter. Dahinter steckt mehr als ein nostalgisches Phänomen.

Von Anne Goebel

Unwahrscheinlicher geht es kaum: Chaotischer Halbintellektueller im Knautschhemd trifft auf die berühmteste Frau der Welt. Und, zack, sind die beiden ein Paar, dessen Glück Millionen Zuschauer bis heute kaum fassen können. "Notting Hill", eine der erfolgreichsten Romantic Comedies, kam vor genau 20 Jahren in die Kinos. Wer den Film heute wiedersieht, muss sich allerdings eingestehen: Der Plot wirkt aberwitzig lange her. Hugh Grant schlendert als Betreiber einer Reisebuchhandlung wie ein unschuldiger Tor durch London, nicht ahnend, dass der alles verschlingende Drache schon um die Ecke wartet.

Bücher, so richtig aus Papier und mit Einband, und dann nur zum Thema Reise? Man glaubt, Amazon-Gründer Jeff Bezos kichern zu hören. David gegen Goliath, der gefräßige Riese gegen den wackeren Kaufmann: Das ist die gängige Suada der Kulturpessimisten, wenn es um den Niedergang gewachsenen Kleingewerbes durch den übermächtigen Onlinehandel geht. Und es stimmt ja auch, in den Städten und auf dem Land müssen Geschäfte aufgeben. Die wenigen, die bleiben, schaffen es trotz der Konkurrenz im Netz. Oder gerade deswegen? Jedenfalls werden die kleinen alten Läden mit ihrem manchmal angestaubten Nischensortiment gerade ganz neu betrachtet. Sie werden nicht mehr bedauert, sondern wiederentdeckt. Vor allem in der Großstadt.

Wirtschaftsforscher gehen davon aus, dass reale Shops für Digital Natives immer wichtiger werden. Einer aktuellen Studie zufolge planen in den USA digitale Start-up-Brands die Eröffnung von Hunderten Geschäften - "Brick and mortar", Ziegel-und-Mörtel-Laden lautet der schöne Begriff für das abenteuerliche Einkaufserlebnis außer Haus. Passend dazu hat das Forbes-Magazin gerade das Ende verästelter Omnichannel-Verkaufsstrategien verkündet und ein bestürzend schlichtes Fazit gezogen: Am Ende zählt der direkte Kontakt zum Kunden.

Ein Seglerladen avanciert im Netz zum "Must-see-Shop"

Natürlich zielen die Analysen der Fachleute nicht in erster Linie auf Läden wie den Knopferlmayer in Salzburg. Aber Inhaberin Veronika Stockinger kann die Schlussfolgerung vom Vier-Augen-Kundengespräch voll unterschreiben (Omnichannel hat sie nie probiert). Das Geschäft gleich bei der berühmten Getreidegasse, 1758 gegründet, Familienbetrieb in achter Generation, hält eine Auswahl von 3500 Knopfmodellen vor in allen denkbaren Farben, Formen, Materialien. Wer es betritt, verspürt sofort den Wunsch, einen der blanken oder matten, zierlich kleinen oder hirschhornbreiten Verschlüsse zu erstehen - egal, wofür. Es ist die schiere Fülle des homogenen Sortiments, die anregend und beruhigend zugleich wirkt. "Bei euch ist so eine Entschleunigung, sagen mir die Leute oft", erzählt Stockinger. Ohne Beratung verlässt kein Kunde den Laden, wenn es sein muss nach einer Grundunterweisung im Knopfannähen. Neuigkeiten werden natürlich auch ausgetauscht, im Hochsommer angereichert durch Festspiel-Tratsch. "Wir sind eine Drehscheibe für vieles", sagt sie andeutungsvoll.

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Harald Truetsch hat sich in seinem Laden in Kreuzberg auf Ukulelen spezialisiert.

(Foto: Christian Jungeblodt / Guardian)

Das Knopf-Universum Jos. Mayer ist genau die Art von spezialisiertem Kleingeschäft, die gerade alle fasziniert. Vom jahrhundertealten Seglerladen Arthur Beale in London, ein Haken-, Ösen- und Taurollen-Paradies, über Harald Truetschs Ukulele-Shop in Berlin bis zur vollgestopften Gewürzklause im Zentrum von Athen: Solche einstmals altbackenen Adressen werden jubelnd im Netz geteilt. Pinterest und Instagram sind voll von entsprechenden Fotos, auf Reiseblogs laufen sie unter "Must-see Shops".

Den Inhabern kann der Hype nur nutzen. Bei der Fach- und Stammklientel sind sie ohnehin bekannt - der emotionale Faktor bringt zusätzlich neue, oft junge Kundschaft: Erschöpft vom austauschbaren Akt des Online-Einkaufs, ob Ökogemüsekiste oder Sneaker, sehnen sich offenbar viele nach Klarheit und Ansprache. "Die Leute haben Freude daran, dass mal jemand mit ihnen redet", sagt Frau Stockinger. In Berlin plaudert Harald Truetsch, der in der Gneisenaustraße mit weißer Wallemähne über mehr als 150 Ukulelen wacht, mit Kunden über Zupftechniken oder das Notenbuch "Metallica for Ukulele". Wenige Schritte entfernt verkauft und repariert Bernd Moser nichts als Schreibmaschinen - das Geschäft läuft.

Ist das jetzt wirklich die Zukunft des Einzelhandels?

In dasselbe Muster passen "Klebeland" in Berlin-Wittenau (Fachhandel für Klebebänder) oder die traditionsreiche Filzhandlung von Johanna Daimer in München. Dort gibt es so ziemlich alles aus gewalkter Wolle, sogenannte Druckfilze für Pressen oder Sonderanfertigungen für Kunst- und Theaterprojekte. Allen Läden gemeinsam ist, dass sie nicht nur das große Sterben im Onlinezeitalter überlebt haben, sondern wachsendes Interesse an ihren analogen Nischenprodukten feststellen. Vermutlich empfinden viele Menschen den grenzenlosen Überfluss im Netz als Stress, während konzentrierte Monosortimente ein Gefühl von Sicherheit und Ordnung vermitteln. Eine andere Frage ist, ob Überspezialisierung die einzige "Zukunft des Einzelhandels" ist, wie der britische Guardian neulich vollmundig proklamierte. Und ob das nicht eine Biedermeierisierung der Straße bedeutet: Nur noch Bilderbuchszenerien wie im Film "Chocolat", neben das Pralinenlädchen kommt der Hutmacher, dann der Miedermacher und der Korbflechter. Wobei es in vielen Großstädten schon genau diese spezialisierten Viertel gibt, als Rückzugsräume für Digitalflüchtlinge.

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"Spezialisten wie wir sind die Zukunft", sagt Mohamad Ghouneim, Inhaber des "Klebeland" in Berlin-Wittenau.

(Foto: Christian Jungeblodt / Guardian)

Die Wiederentdeckung von schlummernden Relikten aus der Blütezeit des deutschen Einzelhandels ist kein rein nostalgisches Phänomen. Es profitieren auch neuere Firmen mit ähnlichem Konzept, wobei nicht klar ist, wer wem am meisten nutzt: Die Konventionellen den schicken Jungen oder umgekehrt? Gut möglich jedenfalls, dass es Kunden-Schnittmengen gibt, zum Beispiel zwischen dem funktionellen "Klebeland" und dem hippen Schreibwaren-Store R. S. V. P. in Mitte.

Zu den kuriosesten Adressen der neuen Berliner Monokultur gehört "Aufschnitt" in Friedrichshain. Dort verkauft die gelernte Textilingenieurin Silvia Wald Fleisch- und Wurstwaren - und zwar ausschließlich aus Stoff. Die Polster und Kissen in der Form von Schweinekeule oder Mortadella liegen in einer stilechten Metzgerei-Auslage. Die Wand im Showroom ist, um den Eindruck abzurunden, gekachelt.

Es gibt kleine Leberwurst-Schlüsselanhänger und große Sparerib-Matratzen. Das Geschäftsmodell habe sich aus einem Marketing-Gag heraus entwickelt, erzählt Wald, die seit ihrer Jugend Vegetarierin ist und direkt im Nebenraum viele ihrer Modelle näht: "Und denn kam eine Wurst zur nächsten." Als sie neulich für einen Auftraggeber eine gigantische Textil-Currywurst anfertigte, kam brav die Nachfrage, wer wohl die dazu passenden Pommes nähen könne. "Sie dachten, ich mache nur Wurst und Fleisch." Man hatte sich schließlich an eine Spezialistin gewandt.

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