Dieser Text stammt aus dem Familien-Newsletter der Süddeutschen Zeitung, der jeden Freitagabend verschickt wird. Hier können Sie ihn abonnieren.
Liebe Leserin, lieber Leser,
sind Sie einsam? Oder kennen jemanden, der sich so fühlt? Schon beim Tippen dieser Sätze spüre ich eine Art Widerstand in mir. Vielleicht liegt es daran, dass die Einsamkeit eines der letzten wirklich großen Tabus unserer Zeit ist. Und das obwohl das Thema mentale Gesundheit heute einen ganz anderen gesellschaftlichen Stellenwert hat - gerade bei Jüngeren.
Fast die Hälfte aller Deutschen zwischen sechzehn und dreißig Jahren fühlt sich einsam. Das ergab eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. Der Befund: So gut vernetzt wie keine andere Generation zuvor - und trotzdem (oder vielleicht deswegen?) irgendwie allein auf der Welt. Meine Kollegin Elisa Schwarz hat diesen vermeintlichen Widerspruch zum Anlass genommen, einen 23-jährigen Studenten zu begleiten, der über sich selbst sagt: „Ich ertrinke in Einsamkeit.“ Ihr einfühlsames Porträt kann ich Ihnen nur empfehlen (SZ Plus).
Darin schreibt sie: „Hier zu Hause hat er Freunde, die er noch aus der Schule kennt. Hier ist er Leon, der Beliebte. Und dann sitzt er im Zug, fährt wieder zurück in den Osten, starrt in seinem Zimmer die Wand an, hockt allein in der Mensa, als wäre er ein anderer. Leon, der Einsame.“
Beim Lesen dieser Geschichte musste ich an einen anderen bewegenden Text denken, der das Thema aus der Elternperspektive aufgreift: Was tun, wenn das eigene Kind in der Klasse jahrelang keinen Anschluss findet? (SZ Plus). Diese Passage ist mir besonders hängengeblieben: „Ich schreibe diesen Text anonym, um meinen Sohn zu schützen. Ich hoffe sehr, dass ich nicht auch mich selbst schützen will, obwohl die Tatsache, dass das eigene Kind mit elf Jahren aufgehört hat, seinen Geburtstag zu feiern, weil es niemanden zum Einladen hatte, nichts ist, was Eltern in die Welt hinausposaunen.“
Meine Tochter ist gerade zwei geworden, also noch zu klein, um Freunde einzuladen. Aber allein die Vorstellung, dass sie mal auf ihren eigenen Geburtstag verzichten würde, weil es da einfach niemanden auf der Gästeliste gibt, geht mir nah.
Es bleibt die Frage: Wie könnte man das Thema Einsamkeit im Kleinen wie im Großen enttabuisieren? In anderen Ländern gibt es dafür eigene Ministerien. Aber vielleicht hilft als erster Schritt auch schon, im Alltag mit offeneren Augen durch die Welt zu gehen. Und bei einem leisen Verdacht auch mal Freunden oder Bekannten die ehrliche, aber erst mal unangenehme Frage zu stellen: Fühlst du dich einsam?
Ein schönes Wochenende wünscht
Julian Gerstner

