Eine Frage des Vertrauens:Gipfelbuchhalterin

Mehr als 50 Jahre lang führte die Amerikanerin Elizabeth Hawley in Kathmandu Buch darüber, welche Alpinisten die höchsten Berge erklommen hatten. Nun hat eine Deutsche ihr Erbe angetreten und muss auch Betrüger entlarven.

Von Titus Arnu

Gedanklich ist Billi Bierling fast immer in den Bergen. Aber ihr Hauptarbeitsplatz ist eine staubige, chaotische Großstadt: Kathmandu, Ausgangspunkt für die meisten Touren im Himalaja. Während der beiden Hauptzeiten für Expeditionen im Herbst und im Frühjahr saust die 50-jährige Deutsche mit ihrem Mountainbike durch die engen Gassen, von Hotel zu Hotel, um die Bergsteiger vor dem Aufbruch in Richtung Basecamp abzupassen. An Bierling kommt keiner vorbei, der behauptet, auf dem Everest, dem Lhotse, dem Cho Oyu oder auf einem anderen großen Gipfel gewesen zu sein.

Sie interviewt Expeditionsteilnehmer aus aller Welt vor und nach ihren Unternehmungen, notiert, wie viele Sherpas die Bergsteiger unterstützten, ob Flaschensauerstoff benutzt wurde - und vor allem, wer wann über welche Route den Gipfel erreicht hat. Die Angaben tippt sie alle in die "Himalayan Database" ein. Diese Datenbank führt alle verfügbaren Fakten zu 455 Expeditionsgipfeln im Himalaja auf. Für Höhenbergsteiger ist das Verzeichnis viel mehr als lästige Berg-Bürokratie - wer nicht darin aufgeführt wird, hat den Gipfel offiziell nicht erreicht. Und Billi Bierling ist die zentrale Gipfelbuchhalterin, ihr Glaubwürdigkeitssiegel zählt.

Warum die Daten auf geradezu altmodische Weise erhoben werden, durch persönliche Interviews, erstaunt nur auf den ersten Blick. Ein Online-Fragebogen brächte kaum ehrliche Antworten, ein Gipfelfoto allein ist im Zeitalter von Photoshop kein Beweis. Entscheidend sind für Bierling die Berichte von Augenzeugen. Auch wenn die Datenbank gerade digitalisiert wurde, zählt bei ihr noch das Wort, Foto- und GPS-Daten verlangt sie nicht. Wenn beim Interview Ungereimtheiten aufkommen oder andere Bergsteiger den Gipfelerfolg des Befragten anzweifeln, kommt es schon mal vor, dass eine Besteigung den Vermerk "disputed" (umstritten) erhält.

Billi Bierling

"Klar ist der Gipfel relevant. Aber es ist doch die Frage, zu welchem Preis und unter welchen Umständen."

Als ambitionierte Alpinistin würde sie nach den Befragungen am liebsten selbst loswandern. Sie war 2009 die erste Deutsche, die den Gipfel des Mount Everest über die Südroute erreichte und es heil wieder hinunter schaffte. Danach bestieg sie erfolgreich weitere Achttausender in Nepal und Tibet und kann nun sehr gut einschätzen, was die Bergsteiger, die sie befragt, dort alles erwarten können an Glücksgefühlen, Dramen und Strapazen.

Rückblende in den August: Vom Garten ihres Elternhauses in Garmisch aus schaut Billi Bierling auf die Alpspitze und die Zugspitze. Auch im Urlaub zu Hause ist sie von Gipfeln umzingelt. Ihr Nasenpiercing glänzt im Mittagslicht, sie streckt die Beine aus und lässt die Flip-Flops von den Zehen rutschen, damit die vom morgendlichen Jogging-Ausflug gestressten Füße auch mal Sonne abbekommen. Sie genießt die Wärme, lässt sich von ihrer Mutter frischen Kaffee einschenken - und redet dabei über eisige Höhen.

Ob jemand wirklich oben war, wird in digitalen Zeiten ganz altmodisch im Interview geklärt

Wie viele Bergsteiger schafften es im Mai 2017 auf den Manaslu? Wer war der bisher älteste Mensch auf dem Mount Everest? Wann und wo gab es die meisten Toten an einem Achttausender? Billi Bierling kann solche Spezialfragen im Handumdrehen beantworten. Sie sitzt an einem runden Tischchen, klappt den Laptop auf und klickt auf die "Himalayan Database". Die meisten Einträge finden sich unter "Ascents", erfolgreiche Besteigungen, aber auch abgebrochene Expeditionen und Tote sind dort verzeichnet. Manchmal muss sich Billi Bierling auch mit Betrugsfällen beschäftigen, wie im Mai 2016, als zwei Inder ihren Gipfelerfolg am Everest vorzutäuschen versuchten, indem sie ihre Gesichter am Computer in das Gipfelfoto zweier anderer Inder hinein bastelten. Die stümperhaften Bilder flogen schnell als Fake auf.

Manchmal ist es etwas schwieriger, wie etwa bei Ueli Stecks bis heute umstrittener Solo-Durchsteigung der Annapurna-Südwand, für die er keine stichhaltigen Beweise beibringen konnte - eine aufgezeichnete GPS-Route zum Beispiel. Steck wird die Sache nicht mehr klären können, er stürzte im April 2017 am Nuptse in den Tod. "Ich habe Ueli geglaubt", sagt Bierling. Sie frage in solchen Zweifelsfällen nach, aber maße sich kein Urteil an: "Ich bin keine Schiedsrichterin, ich dokumentiere nur."

Damit setzt sie die Linie der legendären Himalaja-Chronistin Elizabeth Hawley fort. Die 93-jährige amerikanische Journalistin hat in den 1960er-Jahren den Grundstein für die "Himalayan Database" gelegt und in den vergangenen sechs Jahrzehnten ein Archiv aller wichtigen alpinistischen Unternehmungen in Nepal geschaffen. Darin sind mehr als 9000 Expeditionen und 68 000 Bergsteiger verzeichnet. "Es gibt nur einen einzigen Menschen, der alles über die Geschichte des Bergsteigens im Himalaja weiß, von der Erstbesteigung des Mount Everest durch Hillary und Tenzing bis heute: Elizabeth Hawley", hat Reinhold Messner über die alte Dame gesagt.

Billi Bierling

Umzingelt von Bergen: Wenn Billi Bierling in Garmisch zu Besuch ist, schaut sie von ihrem Elternhaus auf die Alpspitze. Sie war schon auf mehreren Achttausendern.

(Foto: Angelika Warmuth/dpa)

Hawley war 1960 als Reporterin nach Nepal gekommen und schrieb für Nachrichtenagenturen und amerikanische Magazine über die große Zeit der Erstbesteigungen im Himalaja. Ihr wird eine Affäre mit Edmund Hillary nachgesagt, dem Erstbesteiger des Mount Everest, sie interviewte Reinhold Messner nach seinen Erfolgen und erlebte die Dramen der Expeditionen mit - wenn auch nur vom Schreibtisch aus, denn sie war keine Bergsteigerin. "Ich mag Trekking überhaupt nicht", sagte sie dem Outside Magazine, "ich will in einem bequemen Bett schlafen, warme Mahlzeiten essen, auf einem Stuhl am Tisch sitzen und mit meinem VW Käfer durch die Gegend fahren." Sie hatte nicht mal ansatzweise versucht, zum 5350 Meter hohen Basislager des Everest zu kommen. Dennoch kannte sie sich am Berg aus, zwar nur theoretisch, aber das sehr umfassend und präzise. Sie erarbeitete sich auf diese Weise den Respekt von Profi-Alpinisten, Bergführern und nepalesischen Politikern.

Als Miss Hawley im Jahr 2016 erklärte, sie wolle sich mit 92 Jahren dann doch mal zur Ruhe setzen, war für Billi Bierling klar, dass sie deren bisherige Arbeit weiterführen wird. Sie war 1998 zum ersten Mal nach Nepal gereist, um eine Trekkingtour zu unternehmen. Dabei habe sie in ihrer Kindheit die Berge gehasst, sagt die gebürtige Bayerin. Wie so viele, die in jungen Jahren mit ihren Eltern wandern gehen mussten, setzte Bierling jahrelang keinen Fuß mehr auf einen Berg. Erst mit 30 entdeckte sie ihre Berg-Leidenschaft - durch ihren damaligen Freund, einen begeisterten Bergsteiger und Wanderer. Bei ihrem ersten Besuch in Nepal hatte sie von Miss Hawley noch nie etwas gehört und sie hatte zunächst auch nicht den Ehrgeiz, einen Achttausender zu besteigen. Aber sie verliebte sich in das Land, die Menschen und die Natur und entdeckte ihre Passion für hohe Gipfel. In den Jahren darauf kam sie immer wieder zurück und arbeitete ab 2004 für Elizabeth Hawley - übrigens ohne Entgelt. Warum sie dies auf sich nimmt und auf eine Bezahlung verzichtet, kann sie selbst nicht so richtig erklären - ihre Mutter schüttelt darüber auch nur den Kopf.

Von März bis Juni und von September bis Oktober lebt Bierling in Kathmandu und in den Sommer- und Wintermonaten jeweils in der Schweiz oder Garmisch. Sie arbeitet als Übersetzerin und Journalistin für das Schweizer Radio, für Bergmagazine und als Kommunikationsexpertin für die Humanitäre Hilfe der Schweiz. Diese Organisation schickt sie immer wieder in Krisengebiete nach Afrika oder Asien. Solche Perspektivwechsel helfen ihr, nicht betriebsblind zu werden. "Die Bergsteigerszene hat oft auch Scheuklappen", sagt sie, "in Nepal streiten die Leute, wer auf welchem Achttausender war oder ob es nur der Vorgipfel war, und dann fährt man nach Pakistan, wo 20 Millionen Menschen von Überschwemmungen betroffen sind. Da frage ich mich: Was ist eigentlich wichtig?"

Gute Frage, besonders im Himalaja. Den meisten Bergsteigern ist es ja tatsächlich wichtig, bis zum höchsten Punkt eines Berges zu gelangen. "Klar ist der Gipfel relevant", sagt Billi Bierling, "aber es ist doch die Frage, zu welchem Preis und unter welchen Umständen." Sie weiß, wovon sie redet. Im Jahr 2010 stand sie als erste deutsche Bergsteigerin auf dem Gipfel des Manaslu (8163 Meter), 2011 erreichte sie den Lhotse (8516 Meter). Und im Oktober 2016 war sie ohne Sauerstoffmaske am Cho Oyu (8201 Meter) erfolgreich.

In der "Himalayan Database" kann nun jeder nachschauen, wann genau sie auf dem Cho Oyu war: "Oct. 1, 13.00, Ms. Barbara Susanne (Billi) Bierling (Germany)". Neben Name, Geschlecht und Datum kann man in der Datenbank nachlesen, ob jemand Flaschensauerstoff verwendet hat, wie das Wetter war und ob Expeditionsteilnehmer verunglückt sind. Bis 2004 wurden die Angaben handschriftlich erfasst und dann von Miss Hawley eingetippt. Mittlerweile gibt es ein Online-Formular, die Datenbank ist für 40 Euro auf CD-Rom und bald auch als Website zugänglich, Abonnenten können auch Updates herunterladen.

Für so wenig Geld dieser ganze Aufwand? Was ist Bierlings Motivation bei der doch etwas trockenen Verschriftlichung von Bergabenteuern? Zumal die Arbeitsbedingungen lange bescheiden waren: "Es war nicht immer einfach, mit Miss Hawley zusammenzuarbeiten. Sie war oft launisch und nicht besonders empathisch." Das ist wahrscheinlich noch freundlich formuliert, denn wie man hört, explodierte die alte Dame öfters mal aus nichtigen Gründen und warf sogar mit Gegenständen nach ihrer Mitarbeiterin. Jeder andere wäre wohl geflüchtet. Doch Billi Bierling blieb und gewann irgendwann das volle Vertrauen von Miss Hawley: "Sie hat mir viele Türen geöffnet in der Bergsteigerwelt."

Anhand der "Himalajan Database" kann man auch nachvollziehen, wie sich der Bergtourismus in Nepal verändert hat. Zwischen der Erstbesteigung des Mount Everest 1953 und 1996, dem Beginn des kommerziellen Bergsteigens im Himalaja, gab es am höchsten Berg der Welt insgesamt nur 674 Gipfelerfolge. Allein 2016 wurden dort 638 Besteigungen registriert. Bierling beobachtet diese Entwicklung einerseits kritisch, andererseits weiß sie, dass Nepal wirtschaftlich vom Trekking- und Bergsteigertourismus abhängig ist. Der Ansturm ist mittlerweile so groß, dass vier Personen an der "Himalayan Database" arbeiten. Das Ziel einiger Bergsteiger scheint dabei auch zu sein, durch immer abseitigere Rekorde Aufmerksamkeit zu erregen.

Angesichts des Rummels fragt sie sich, was den Bergsteigern eigentlich noch wichtig ist

War schon ein Veganer auf dem Manaslu? Wie lange brauchte der bisher jüngste Engländer auf den Everest-Gipfel? Wie viele Ehepaare standen schon gemeinsam auf dem Cho Oyu? Solche Spezialanfragen bekommt Billi Bierling öfters mal. Sie versucht in solchen Fällen, sachlich zu bleiben und eine wertfreie Antwort zu geben, und meistens schafft sie das auch. "Aber ich frage mich schon, was beim Bergsteigen für diese Leute eigentlich wichtig ist", sagt sie und schüttelt dabei den Kopf. Die Garmischerin will zwar selbst noch auf den einen oder anderen Achttausender. Aber wenn es nicht klappe, dann eben nicht. "Der Gipfel ist für mich nur das Zuckerstückchen beim Bergsteigen," sagt Bierling, "er wird oft viel zu ernst genommen."

Ende Oktober, Anruf in Kathmandu. Die Saison ist fast zu Ende, es gab keine Katastrophen, es lief insgesamt gut. "Am Manaslu war so viel los wie noch nie", berichtet Billi Bierling, sie geht von 300 bis 350 erfolgreichen Besteigungen aus. Es gab mehrere Erstbesteigungen und Erschließungen neuer Kletterrouten. Bierling kann zufrieden das Gipfelbuch zuklappen - und endlich selbst in die Berge aufbrechen. Sie hat eine Tasche mit 23 Kilogramm Ausrüstung beladen, dieses Wochenende geht es los ins Khumbu-Gebiet, zur Besteigung des Sechstausenders Kyajo Ri. Mit im Gepäck: sechs Kilo Avocados als Kraftnahrung. Dieses vegane Detail wird aber nicht in der Database auftauchen.

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