Süddeutsche Zeitung

Ein Jahr #Aufschrei:Wider Ironie und Einheitsgemurmel

Wer heute "Aufschrei" sagt, meint das in der Regel total ironisch. Das ist traurig, denn der wütende Protest gegen Alltagsseximus war sehr ernst gemeint. Dass sich oberflächlich alle einig und irgendwie gegen Sexismus sind, bringt uns nicht weiter. Es braucht - noch immer - eine ernsthafte Debatte.

Ein Kommentar von Lena Jakat

Jetzt, ein Jahr nach Beginn der Aktion #Aufschrei, sind sie wieder deutlich zu hören. Die Stimmen jener Aktivistinnen, die die Debatte von Twitter in die traditionellen Medien trugen. Die von Anne Wizorek, Nicole von Horst, Anna-Katharina Meßmer und Jasna Strick. Kaum mehr zu hören sind aber die eigentlichen Protagonisten der Debatte. Jene Menschen - vor allem Frauen - die in 140 Zeichen ihre Erfahrungen über Alltagssexismus schilderten. Sie sind sehr leise geworden, zum Schweigen gebracht von einer digitalen Front aus Aggression, die sich in den vergangenen Monaten bei Twitter aufgebaut hat. Dort schwappt dem Hashtag inzwischen so viel Hass entgegen, dass sich kaum noch jemand traut, ihn ernsthaft zu tippen. Dabei sollte das Schlagwort einst ebendiesen Hass bekämpfen.

Hinter den Solisten auf dem Podium der Diskussion murmelt und raunt es aber noch immer. Dort hat sich der Hintergrundchor der Debatte versammelt. Seine Sänger haben keine Namen, ihre Stimmen gehören Bekannten, Kollegen, Gesprächspartnern in Büro der Kneipe. All jenen, die sich vor einem Jahr der Konfrontation entzogen, indem sie sich in die medial suggerierte Mainstream-Meinung retteten. "Sexismus? Fand ich schon immer total schlimm. Da sind wir uns doch alle hier einig. Warum also die Aufregung?" Der Chef, der schmierige Fragen nach den Plänen fürs Wochenende stellt, der Gaffer auf der Straße, der Grabscher in der U-Bahn: Sämtliche Alltagssexisten, die in den Twitter-Erlebnisberichten auftauchten, sie waren urplötzlich aus der Wirklichkeit verschwunden.

Statt sich ernsthaft auf die Diskussion einzulassen, ließen sich allzu viele von ihrem Opportunismus in das Wir-sind-der-Hort-der-Toleranz-Mantra tragen und machten es sich dort gemütlich. Der Chor der massentauglich ein bisschen Empörten schwoll an, bis er alle anderen übertönte. Leise Stimmen gingen unter, kontroverse wurden einfach ignoriert. Die Debatte versicherte sich so lange ihrer Konsensfähigkeit, bis sie selbst ad absurdum geführt hatte.

Eine ganz ähnliche Entwicklung war jüngst nach dem Coming-out von Thomas Hitzlsperger zu beobachten. Ganz Fußballdeutschland schien plötzlich aus harten, aber verständnisvoll dreinschauenden Jungs zu bestehen. Von den Vorbehalten, die Herrn Hitzlsperger das Leben schwer gemacht, die seine öffentlichen Worte auf die Zeit nach seinem Karriereende verschoben hatten, keine Spur. Alle offen und latent Homophoben der Republik waren verschwunden. Betroffenes Nicken, wohin man schaut. Bis die Debatte überflüssig erschien.

So oder so ähnlich verlaufen regelmäßig Diskussionen, die unsere vermeintlich gleichberechtigte Gesellschaft eigentlich ihrem Ideal näherbringen sollte. Auf jede Frage nach mehr Gerechtigkeit eine selbstgerechte Antwort: "Mehr Väter in Elternzeit!" - "Welcher Mann sollte das nicht wollen?". "Mehr Frauen in Führungspositionen!" - "Frauenförderung ist total wichtig, sag ich doch immer."

Tonartwechsel in die Ironie

Die namenlosen Chormitglieder des #Aufschreis haben inzwischen die Tonart gewechselt. Sie haben das Schlagwort zum festen Bestandteil der Alltagskommunikation gemacht - allerdings mit einem dicken Guss aus Ironie. Sagt heute jemand "Aufschrei", so tut er das meist in einem eindeutig sarkastischen Ton und malt dazu Gänsefüßchen in die Luft. Diese selbstgerechte Ironie ist fast noch schlimmer als der Mainstream-Meinungsopportunismus. Sie entzieht nicht nur jeder ernsthaften Debatte die Grundlage, sondern lässt damit auch den aggressiven Stimmen im Netz Raum.

Wenn jemand sich in einer Situation sexuell belästigt fühlt, ist das nicht lächerlich, selbst, wenn andere die Situation anders bewerten. Sondern es ist subjektives Erleben, das wir nachvollziehen müssen. Wenn jemand einen sexistischen Witz reißt und die Kollegin zusammenzuckt, ist Mitlachen keine Option, sondern darüber zu sprechen. Wir müssen endlich anfangen, uns zuzuhören und ernsthaft versuchen, einander zu verstehen. Auch wenn das heißt, unsere eigenen Unzulänglichkeiten und Ängste zu erkennen.

Wir brauchen eine Debattenkultur, die sich weder in leisem Einheitsgemurmel noch in Ironie erschöpft. Die neben den anerkannten Solisten kontroversen Beiträgen ebenso Raum lässt wie den leiseren, die schnell überhört werden. Damit der nächste #Aufschrei nicht mehr schreien muss.

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