Thema Ehrlichkeit:"Täuschen - ein Grundprinzip des Lebens"

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Ob im Job, bei der Partnersuche oder in sozialen Netzwerken: Fast jeder macht sich gerne ein bisschen besser als er ist. Buchautor Christian Saehrendt erklärt, warum Blender heutzutage Hochkonjunktur haben - und was Lügen mit Intelligenz zu tun hat.

Johanna Bruckner

Während die einen lediglich ihr Facebook-Profil "photoshoppen" oder den eigenen Lebenslauf hier und da aufpolieren, schmückt sich mancher Politiker nur allzu gern mit fremden Doktorfedern. Ob im kleinen oder im großen Stil: Blenden, schwindeln und täuschen scheinen heutzutage Schlüsselqualifikationen zu sein. In ihrem Buch Alles Bluff! erklären Christian Saehrendt und Steen T. Kittl, "wie wir zu Hochstaplern werden, ohne es zu wollen". sueddeutsche.de gestand Christian Saehrendt, 43, echter Doktor der Kunstgeschichte, seinen größten persönlichen Bluff: Als junger Kunststudent träumte er vom großen Ruhm - und half diesem auf die Sprünge, indem er sich selbst einen Preis verlieh.

"Eine Gesellschaft ohne Lügen wird es nicht geben", ist sich Buchautor Christian Saehrendt sicher. (Foto: Fotografa Berlin)

sueddeutsche.de: Herr Saehrendt, sind wir alle geborene Lügner?

Christian Saehrendt: Das ist das Erbe der Evolution: Das Täuschen ist ein Grundprinzip des Lebens überhaupt. Es gibt im Tierreich - oder auch bei Pflanzen - jede Menge Beispiele für das Nachahmen fremder Formen und Arten, um daraus Vorteile zu erzielen. Ganz einfaches Beispiel: Die Schwebfliege imitiert die Wespe, um gefährlich zu erscheinen und nicht gefressen zu werden - dabei ist sie völlig harmlos. Auch bei den Primaten findet man Täuschungsmanöver und Manipulationen. Die Fähigkeit, sich zu verstellen, sich eine List auszudenken, zu täuschen und die Umwelt zu imitieren, gehört zur evolutionären Grundausstattung des Menschen. Wer das gut kann, setzt sich durch.

sueddeutsche.de: Das Recht des Stärkeren als Legitimation zum Lügen?

Saehrendt: Kinder, die relativ früh in der Lage sind zu lügen, haben einen Vorsprung in der Intelligenzentwicklung. Wenn ich lüge, kenne ich den Unterschied zwischen der Wahrheit und der Lüge, die ich gerade konstruiere. Das ist ein Unterschied zu dem Kind, das nur unmittelbar ausdrückt, was es wahrnimmt, das nur eine Ebene kennt. Je komplexer die Lüge, desto mehr muss ich auch darüber nachdenken, dass meine Story stimmig ist, dass ich gegenüber Dritten auch die gleiche Version erzähle. Man kann also sagen: Lügen ist geistig anspruchsvoll. Viele notorische Lügner und Hochstapler sind durchaus intelligente Personen.

sueddeutsche.de: Sollten Eltern ihren Kindern also nicht verbieten zu lügen - sondern sie dazu ermuntern?

Saehrendt: Nein. Das Erbe der Natur muss durch Moral und Pädagogik im Zaum gehalten werden. Bluffereien untergraben letztendlich alle sozialen Beziehungen. Vertrauen ist eine ganz wichtige Basis des Alltags. Man kann nicht immer alles nachprüfen, was jemand sagt. Wenn ich immer alles in Frage stelle, denken die anderen, ich bin ein Soziopath.

sueddeutsche.de: In Ihrem Buch postulieren Sie aber, Bluffen gehöre "längst zum selbstverständlichen Verhaltensrepertoire unserer Zeit".

Saehrendt: Unsere These ist, dass wir möglicherweise in einer Zeit leben, in der die Fähigkeit zu lügen - die ja ursprünglich auch funktional war für das Überleben der Menschen - so langsam außer Kontrolle gerät. Die massiv vorgelebten Sozialtypen wie "Popstar" oder "genialer Investor/Unternehmer" fördern das Hochstapeln in einer Weise, dass irgendwann das System kollabiert. Der technische Fortschritt mit seinen virtuellen Welten hat noch mal einen Schub des Täuschens und Blendens mit sich gebracht.

sueddeutsche.de: Wie das?

Saehrendt: Beispielsweise suggeriert einem das Fernsehen, dass man heutzutage gar nichts mehr wissen und können muss, um etwas zu erreichen. Man muss nur irgendwie an seiner Performance arbeiten - und dann gehört man auch zur Supertalent-Crew. Das prägt natürlich. Junge Mädchen beispielsweise sind allzu häufig damit beschäftigt, sich zu "fotoshooten": Die sitzen irgendwo rum, knipsen sich gegenseitig in möglichst vorteilhaften Posen und stellen die Bilder dann ins Netz. Selbstinszenierung ist der große Spaß - und kann die Vorstufe zur Lüge sein.

sueddeutsche.de: ... und soziale Netzwerke sind die bevorzugte Plattform der Blender?

Saehrendt: Facebook, Xing oder früher Myspace bieten eine offene Flanke für Manipulation. Die Gesellschaft muss erst noch lernen, mit diesen neuen Medien umzugehen. In einigen Jahren oder Jahrzehnten wird sich der Umgang damit normalisiert haben, man kennt dann auch die Gefahren - und wird vielleicht gar nicht mehr glauben, dass man im Netz authentisch kommunizieren kann. Es gibt dann vielleicht auch neue Möglichkeiten, zu verifizieren, mit wem ich eigentlich befreundet bin. Der Mensch ist lernfähig - und wird irgendwann nicht mehr in die Authentizitätsfalle der neuen Medien tappen.

sueddeutsche.de: Lernen wir heutzutage überhaupt noch Menschen - und nicht eher Images kennen?

Blender, wohin man schaut: In ihrem Buch Alles Bluff! stellen Christian Saehrendt und Steen T. Kittl die These auf, das Hochstapeln in unserer Gesellschaft längst eine Schlüsselqualifikation ist. (Foto: Heyne Verlag)

Sahrendt: Ich glaube schon, dass man noch die echten Personen kennenlernt, auch in sozialen Netzwerken. Die meisten kennen die Leute, mit denen sie im Netz befreundet sind, und wissen, welche reale Person dahintersteht.

sueddeutsche.de: Andererseits unterstellen Sie in Ihrem Buch, wir seien heutzutage nicht einmal mehr im Privaten wir selbst.

Saehrendt: Das ist natürlich eine Gefahr, dass man sich letztlich in diesen ganzen Rollenspielereien verliert. Je mehr man ausprobieren kann, je mehr Images man sich auf den Leib schneidert, desto verzweifelter wird die Suche nach dem echten Ich. Durch die vielen Möglichkeiten, die man hat, ist das eine endlose Suche geworden. Die grenzenlose Freiheit - die Optionen, die man hat, zu sein, wer man will, und zu machen, was man will - führt dazu, dass man große Probleme bekommt, wenn man es nicht "nach oben" schafft. Das hat zu einer Polarisierung geführt: Auf der einen Seite haben wir eine Zunahme der narzisstischen Persönlichkeitsstörungen - in dieses Krankheitsbild lässt sich auch der Hochstapler einordnen. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr Depressive, Leute, die vor der Freiheit und der Suche nach dem authentischen Ich kapitulieren.

sueddeutsche.de: Erfolgsdruck als Motor des Blendertums.

Saehrendt: Genau. Es werden Erfolgsfassaden aufgebaut: Leute, die keinen Erfolg haben, aber meinen, welchen haben zu müssen, versuchen, wenigstens Freunde oder Verwandte mit so einer Fassade zu blenden. Nach dem Motto: Seht her, ich hab's geschafft!

sueddeutsche.de: Berühmte Hochstapler sind zumeist männlich. Betrügen Männer besser als Frauen - oder fliegen Männer nur häufiger auf?

Saehrendt: Darüber könnte man ein ganzes Streitgespräch führen. Es gab in den zwanziger, dreißiger Jahren "Hochstapler-Experten", die untersucht haben, warum Bluffs aufgeflogen sind. Dabei kam heraus, dass Hochstapler vor allem die Frauen überzeugen müssen, weil die genauer hingucken. Der Mann lässt sich leichter übers Ohr hauen, wenn man ihm nur mit Beute winkt, mit Geld, Statussymbolen oder einer schönen Frau als Trophäe. Frauen sind skeptischer, sind in der Lage, feinere Signale des Lügens zu erkennen - und können eine große Gefahr für den Hochstapler sein. Außer auf dem Feld der Liebe, aber das trifft auf beide Geschlechter zu: diese absolute Blindheit, wenn man glaubt, verliebt zu sein.

sueddeutsche.de: Haben Sie einen Lieblingsbluff?

Saehrendt: Es gab vor etwa 100 Jahren in Zürich einen Hochstapler, der sich als Wissenschaftler ausgegeben hat. Dieser Mann hat behauptet, er werde ein gigantisches, zwölfbändiges Werk über das gesamte Wissen der Menschheit verfassen. Er hat aber nichts weiter geschrieben als das Vorwort - und hat es geschafft, auf Basis dieser drei Seiten jede Menge Leute und Institutionen zu täuschen, hat Preise und Stipendien damit eingeheimst.

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