Ehrenamt und Zivilcourage (6):Speisen ohne abzuspeisen

Eine Million Menschen in Deutschland holen sich regelmäßig Essen bei den "Tafeln". Die Caritas kritisiert, dass sie die Armen zwar füttern, sie aber nicht integrieren.

Charlotte Frank

Jeden Tag steht die Armut in Deutschland Schlange, in mehr als 800 Orten bundesweit. So viele soziale Tafeln gibt es inzwischen, Läden, in denen Bedürftige kostenlos oder gegen ein symbolisches Entgelt Lebensmittel bekommen. Ursprünglich wurden sie für Obdachlose geschaffen, aber jetzt reihen sich dort Rentner und Arbeitslose ein, Alleinerziehende und Arbeiter, die von ihrem Gehalt nicht leben können. Eine Million Menschen werden laut dem Bundesverband Deutscher Tafeln in Deutschland regelmäßig mit Nahrungsspenden unterstützt - und das, sollte man meinen, ist doch eigentlich eine gute Sache.

münchner tafel

Eine Million Menschen in Deutschland holen sich regelmäßig Lebensmittel oder ein warmes Essen bei den Tafeln.

(Foto: Foto: Getty Images)

Dennoch sehen sich die Tafeln inzwischen der Kritik ausgesetzt, weil sie sich auf die Lebensmittelabgabe konzentrieren, ohne die Menschen in die Gesellschaft zu integrieren, was vor allem große Wohlfahrtsverbände beklagen. "Die Lebensmittelläden müssen ihr Selbstbild wandeln und ihren Auftrag neu definieren", fordert Johannes Böcker, Direktor im Caritasverband Rottenburg-Stuttgart.

Es genüge nicht, die Armut der Menschen zu verwalten. Man müsse ihnen helfen, die Armut zu bewältigen - zum Beispiel durch soziale Teilhabe, durch Sucht- und Schuldnerberatung, durch sozialmedizinische Dienste. Andernfalls, warnt Böcker, würden Menschen dauerhaft aus der Gesellschaft ausgeschlossen- mit Speisen abgespeist.

Profilierung auf Kosten kleinerer Initiativen

Die Caritas, die selbst zahlreiche Tafeln organisiert, hatte bereits im Herbst vergangenen Jahres Standards formuliert, um in den Tafeln "den Befähigungsgedanken in den Mittelpunkt" zu stellen" und der "dauerhaften Verfestigung der Lebensmittelläden" entgegenzuwirken. Viele kleine Initiativen werteten das, wie auch jetzt die Aussagen Böckers, als Angriff gegen ihre Arbeit und damit gegen das Engagement von etwa 35.000 Ehrenamtlichen.

"Was Herr Böcker fordert, kann und soll die Caritas leisten - ehrenamtliche Vereine können es nicht", sagt Sabine Werth, die Vorsitzende der ersten in Deutschland gegründeten Tafel in Berlin. Auf sie wirke die Kritik der Caritas wie eine Profilierung auf Kosten kleinerer Initiativen. "Wir hatten nie einen anderen Anspruch, als Essen zu verteilen", sagt Werth. Der Rest sei nötig, aber von den Tafeln nicht zu leisten.

Dem widerspricht Johannes Böcker. "Eine Umorientierung ist nötig", sagt er. Vor 16 Jahren, als die ersten Tafeln in Deutschland gegründet wurden, hätte die reine Essenausgabe genügt. Doch durch die stetig wachsende Anzahl der Lebensmittelläden seien sie zu einem festen Bestandteil der deutschen Soziallandschaft geworden - und diese Rolle müssten sie mit sozialpolitischer Verantwortung neu füllen.

Das tun die meisten Tafeln bereits, entgegnet Gerd Häuser, der Vorsitzende des Bundesverbands Deutscher Tafeln. "Die Initiativen in freier Trägerschaft haben zwar nicht die gleichen finanziellen und personellen Ressourcen wie die Caritas, behelfen sich aber, indem sie Netzwerke zu Wohlfahrtverbänden aufbauen." Zudem würde sich sein Verband seit Jahren aktiv für die Belange seiner "Kunden" in die Politik einmischen.

Dabei ist Häuser von einer ganz anderen Sorge getrieben: Er beobachtet, dass die Politik sich bei der sozialen Daseinsvorsorge mehr und mehr auf die Tafeln verlässt. Damit wälze der Staat eine seiner ureigensten Aufgaben, die Sorge für die Schwächsten der Gesellschaft, auf Ehrenamtliche ab - "und kann immer behaupten: Hartz IV reicht doch aus. Alle Beihilfeempfänger sind schließlich satt", sagt Häuser.

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