Ecuador: Tal der Hundertjährigen:Ohne Fleiß kein Greis

Sie haben weiße Zähne, brauchen weder Brille noch Hörgerät: Im Tal der Hundertjährigen in Ecuador werden Menschen steinalt - über die genaue Ursache rätseln Forscher weiter.

Peter Burghardt

Der Weg ins Reich der Alten schlängelt sich immer noch über viele Kurven durch die Anden im Süden Ecuadors, aber er ist längst asphaltiert. 40 Kilometer hinter der Provinzzentrale Loja ragt in einer grünen Ebene zwischen den Bergen das bunte Ortsschild von Vilcabamba aus dem Gestrüpp. Die Farben sind ausgebleicht, doch man erkennt noch das Bild eines Mannes mit Schlapphut und Rauschebart.

Greise; alte Menschen; Ecuador

"Manchmal habe ich nachts Angst, dass ich krank werde": In Vilcabamba leben Agustín Jaramillo, 96 und andere Greise. Sie sind reich an Erfahrung. Reich an Geld sind die Fremden.

(Foto: Foto: Burghardt)

Er hieß Miguel Carpio und starb 1976 mit 127 oder 117 Jahren, je nach Version. Die Zahlen fliegen in dieser Geschichte etwas durcheinander, sie dauert schon so lange. Dann wird die Landstraße zur Hauptstraße und trägt den schönen Titel Avenida de la Eterna Juventud, Allee der Ewigen Jugend. Links liegt das kleine Hospital, benannt nach einem japanischen Mäzen, rechts oben der karge Friedhof. Beide Einrichtungen meiden manche der 4000 Bewohner so ausdauernd, dass ihre Stadt berühmt wurde.

Nahe dem Dorfplatz steuert Agustín Jaramillo dem Jahrhundert entgegen. "Manchmal habe ich nachts Angst, dass ich krank werde", sagt er, bislang ging es gut. 13. Juli 1913 steht im Ausweis, er ist 96.

Ein Jungspund im Vergleich zu dem legendären Miguel Carpio oder dem lebendigen Vicente Pulco, von dem noch die Rede sein wird. Jaramillo wohnt allein in einem Schuppen an der Calle Agua de Hierro, Straße des Eisenwassers. "Unser Wasser ist sehr gesund. Morgens, mittags und abends ein Glas - und du bist frisch."

Er lacht mit weißen Zähnen und braucht weder Brille noch Hörgerät, könnte es sich auch nicht leisten. Er steht früh auf, geht früh ins Bett und jätet dazwischen im Wildwuchs. "Ich arbeite, um leben zu können", sagt er. Manchmal zieht er sein zerschlissenes Jackett über die hageren Schultern und schlurft zur Plaza.

Setzt sich auf die Bank oder isst im billigen Restaurant, falls er ein paar Dollar hat. Oft helfen Ausländer, "die studieren uns".

Die ersten Neugierigen kamen vor mehr als 50 Jahren, seinerzeit über eine Steinpiste. 1955 berichtete ein US-Mediziner in Reader's Digest von dem damals unbekannten Kaff, das frei sei von Herzkrankheiten, Krebs, Knochenschwäche und anderen Plagen der Zivilisation. "Eine Insel der Immunität", schrieb der Autor. Später entdeckte ein ecuadorianischer Kardiologe, dass ungewöhnlich viele Einwohner 100 und älter würden. Vilcabamba galt als lateinamerikanisches Shangri-La. Ein Jungbrunnen, besucht von Forschern, Journalisten, Hippies. Der Assistent von Japans früherem Premier erholte sich hier so wunderbar von seinem Herzleiden, dass er seine Heimat Soya auf Hokkaido zu Soya-Vilcabamba machte. Ein Filmemacher aus Chile bekam kaum mehr Luft und ist mit 80 nun wieder fidel, er bezog am Quell seiner Wiedergeburt ein Bambushaus. Was war, was ist da los?

Das Wasser in den Flüssen Yamburara und Chamba ist mineralhaltig und stadtauswärts trinkbar. Bis vor einiger Zeit gab es mehr Esel als Autos. In der sanften Landschaft gedeihen Orchideen und Kaffee. Das Mikroklima in 1500 Metern mit Temperaturen von 18 bis 24 Grad sichert warme Tage und erholsame Nächte, da können konkurrierende Völker in Alpen oder Himalaya mit ihren strengen Wintern nicht mithalten. Der US-Botaniker Johnny Lovewisdom gründete in den Sechzigern in Vilcabamba die "Internationale Naturisten-Universität". Im Garten Eden der Region wachsen Bananen, Zuckerrohr, Yucca, Bohnen, Mangos, Getreide. Davon ernähren sich die Bewohner. Keine Pestizide, keine Konservierungsstoffe, wenig Fleisch. "Sie essen, was sie anbauen", sagt Klinikdirektor José Miguel Castillo, 35. "Es ist dieser Lebensstil, ohne den Stress der hyperaktiven Welt. Und da ist was in der Atmosphäre."

Der Grat des mythischen Hausbergs Mandango sieht mit Phantasie aus wie ein Gesicht. Das eines Inka, für die Inkas war dies das Valle Sagrado, das Heilige Tal. Von Energiefeldern und Magnetismus ist die Rede. Am Ortsrand hält ein Veteran des US-Apollo-Programms Seminare über Energie und Sterne, er heißt hier: "der Astronaut". Von seinem Balkon aus sollen Ufos zu beobachten sein. Eine Nasa-Frau soll erwogen haben, bei ihrer spirituellen Herberge Madre Tierra einen Ufo-Landeplatz zu bauen, kürzlich zog sie weg. Dabei hatte manch betagter Einwohner selbst Zweifel an der Mondfahrt - Weltnachrichten drangen ehedem kaum vor. Augustín Jaramillo versteht bis heute nicht, was Menschen auf dem Mond wollen. Überhaupt hat sich viel verändert, seit Gringos einfallen und das, was sie für Fortschritt halten. Internet, Handys, Jeeps, Nestlé, Coca Cola, Masthühner.

Im Krankenhaus wird derweil vor Diabetes und Bluthochdruck gewarnt. "Wird die aktuelle Generation auch 120, leben unsere Kinder bis 2129?", fragt Doktor Castillo. "Ich fürchte nein." Aber es gibt noch Hundertjährige im Tal der Hundertjährigen. "Mindestens zehn", sagt Victor Carpio. Er verteilt in der Spitalapotheke Arznei, begleitet sonst Forscher und Reporter und gibt das Heft "Gesundes Vilcabamba" heraus, mit Fotos der Greise und Annoncen der Hotels. Die Galionsfigur Miguel Carpio gehört zu seinen Ahnen. "Das Dach unseres Lebens liegt bei 140 Jahren", glaubt Dokumentar Carpio. Er zückt eine Liste des Meldeamtes, angeführt von zwei Männern und einer Frau, die zwischen 1940 und 1963 mit 140 verschieden seien. Bloß gab es da noch keine Geburtsurkunden, nur Kirchenregister.

Carpio führt zu Lucila Victoria Guerrero, Jahrgang 1906. Sie sitzt vor einer Hütte am Hang und blinzelt in die Sonne. Doña Lucila, 103, fiel mit Mitte neunzig beim täglichen Spaziergang hin und brach sich das Bein. Rollstühle gibt es in Vilcabamba ebenso wenig wie Altenheime oder Pflegeversicherung. "Bis zu dem blöden Sturz tat mir nichts weh. Aber taub bin ich nicht", sagt sie und verlangt ein Trinkgeld. "Wer von so weit her kommt, der hat Geld." Früher nähte sie Ponchos und Hängematten und lief einfach bis nach Loja, zehn Stunden. Oder sie schuftete für Großgrundbesitzer auf dem Feld, bis die Landreform kam, für umgerechnet einen Dollar die Stunde.

Nebenan bestellen Victor und Timoteo Arboleda Äcker, schon immer tun sie das. Victor, 92, steigt dafür noch ins Gebirge. Timoteo, 95, steht neben einer dünnen Kuh zwischen Weizenstoppeln, ein Seil um den Hals. "Ich esse, was ich pflanze", sagt er, "Chemie schadet dem Organismus." Selbstgebrannten trinkt er gern, raucht Selbstgedrehte vom Typ Chamico, riechen wie Marihuana. Sonntags geht's zur Messe. "Ich arbeite, bis Gott sagt, es reicht", sagt er. "Arbeiten bringt niemanden um", sagt sein Bruder Timoteo, aber: "Ich habe keine große Hoffnung mehr. Man leidet, wir sind einsam und arm."

Reich sind Fremde, vor lauter Einwanderern sind die Nachfolger Methusalems kaum mehr zu sehen. Ein junger Amerikaner verjubelt in Vilcabamba angeblich gerade seinen Lottogewinn, man trinkt Pils im Punto oder Anti-Cellulitis-Saft im Sambuca. Ein deutscher Altfreak hat sich dem Vernehmen nach mit einer Rente aus dem Ölgeschäft angesiedelt und sein Käppi mit Alufolie ausgekleidet - wegen der Handystrahlen. Das US-Magazin International Living kürte Vilcabamba zu "einem der gesündesten Orte der Welt". Die Folge: "viele Amis", sagt Dieter Schramm aus Monheim in Bayerisch-Schwaben, der am Hügel die Pension Izhcayluma führt. Immobilienbüros mehren sich, Investoren kaufen riesige Flächen, der Hektar kostet bis 50.000 Dollar.

Bürgermeister Adalbert Gaona will das regulieren, "der Kapitalismus saugt uns auf, die Jungen laufen weg". Ricarda Bajerano von der Seniorenvereinigung schimpft "Gringolandia" und erbittet Spenden. "Die Alten sind verlassen, die Regierung tut nichts." Der linke Präsident Rafael Correa baut ein Zentrum für Altersforschung, um zu ergründen, was auch Schramm auffällt: "Viele Alte sind topfit."

Und Vicente Pilco, der derzeit vermeintlich Älteste? Man sucht ihn hinter Vilcabamba bei Tochter Luz María, 80, und einigen der 15 Enkel, fünf Urenkel, drei Ururenkel. Daheim in Quinara. Er sei in Loja bei einer Verwandten, sagt der Nachbar, und tatsächlich: Da steht er in einem kahlen Zimmer der Sozialsiedlung Victoria. Vicente Pilco, geboren am 23.08.1900. Weißes Hemd, blaue Jacke, tiefe Furchen. 109 Jahre. "Ich bin fast taub", schreit er, man brüllt in große Ohren. "Vielleicht sterbe ich nie." Seine Nichte sagt, der Arzt meine, er könne 120 werden.

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