Durch Alaska:Urmel auf dem Eis

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Die Zwillinge Paul und Hansen Hoepner wollen mit einem Amphibienfahrzeug 4000 Kilometer durch die Wildnis Alaskas fahren. Ein Unterfangen, das auf den Wunsch der Brüder zurückgeht, wieder zueinander zu finden.

Von Titus Arnu

Chaos bei Kaos. In der Kreativen Arbeitsgemeinschaft Oberschöneweide, kurz Kaos, herrscht an diesem Morgen ein ziemliches Durcheinander. Eine chinesische Besuchergruppe schwärmt fotografierend durch den Co-Working-Space im Osten Berlins. Draußen schrauben Mechaniker an alten Autos, in der ehemaligen Industriehalle basteln Goldschmiede, Schreiner, Künstler und Lebenskünstler an ihren Projekten. Paul Hoepner kommt zu spät, weil er noch dringend Videodateien für eine TV-Sendung hochladen musste. Ein Auftritt am nächsten Wochenende stellt die Erfinder-Zwillinge vor organisatorische Herausforderungen. Und dann ist Pauls Bruder Hansen noch von Urmel gefallen. Klingt lustig, aber nun tut die Schulter ziemlich weh.

Urmel steht zwischen Werkzeug, Leitern und Kisten in der Kaos-Halle. Die Chinesen umringen das seltsame Gefährt und filmen es mit ihren Smartphones. Das Ding sieht aus wie eine Kreuzung aus Mondlandefähre und Mountainbike. Es ist 2,10 Meter breit und vier Meter lang, hat viermal drei Räder, zwei Sitze, vier Pedale und viele Streben aus Aluminium und Stahl. Wenn Urmel fertig ist, soll es schwimmen, durch Schlamm und Schnee fahren, 1,40 Meter hohe Hindernisse überwinden und als Campmobil dienen. Noch aber tüfteln die Hoepners an dem Prototyp, bei einer Testfahrt in Norwegen muss Urmel im Winter auf seine Schneetauglichkeit überprüft werden, denn auch Hansen weiß: "Erfindungen sind ja erst mal nur theoretische Ideen." Im Sommer 2019 wollen sie mit Urmel dann nach Alaska aufbrechen. Der Plan: 4000 Kilometer querfeldein durch die Wildnis, von den Aleuten im Süden bis nach Prudhoe Bay im Norden, quer durch Wälder, Sümpfe, Seen, Eis und Schnee - allein mit Muskelkraft.

"Urmel" soll schwimmen, fahren und 1,40 Meter hohe Hindernisse überwinden können. (Foto: privat)

Die Hoepner-Zwillinge sind lange, dünne, durchtrainierte Männer, 36 Jahre alt, kreativ, mutig, ein bisschen verrückt. Ob ihnen dieses Abenteuer gelingt, ist ungewiss. "Es besteht durchaus eine Wahrscheinlichkeit, dass wir scheitern", sagt Hansen, den man auf den ersten Blick nur an seinem Pferdeschwanz vom fünf Minuten jüngeren Zwillingsbruder unterscheiden kann. Fest steht: Es wird sehr hart und kostet jede Menge Zeit, Kraft, Schweiß und Geld.

"Abenteuer" ist ja meistens ein romantischer Ausdruck für kaum lösbare Schwierigkeiten, in die man sich selbst gebracht hat. Warum tun sich Menschen freiwillig so etwas an? Die Welt ist voller irrer Extremsport-Rekorde: Einhandsegeln quer über den Atlantik, 24 Stunden Dauerskifahren, Rückwärts-Marathon. Für die wenigsten dieser Unternehmungen gibt es rationale Erklärungen. Früher brachen Abenteurer auf, um unbekannte Gebiete zu erkunden und zu erobern. Heutzutage ist unser Planet auf den Quadratmeter genau von Satelliten vermessen. Trotzdem ist die Sehnsucht nach Abenteuern ungebrochen.

Bei den Hoepner-Zwillingen ist der Beweggrund ein sehr persönlicher: Denn so ähnlich sich die eineiigen Zwillinge auch sehen, charakterlich sind sie sehr verschieden. Paul ist der Organisator, entwirft als Mediendesigner Apps und Webseiten, kümmert sich beim Projekt Urmel um Marketing und Sponsoren. Hansen ist der Kreative, hat Produktdesign studiert, ist Goldschmied, ein typischer Bastler eben, der lieber überlegt, wie man den Kettenantrieb von Urmel verbessern könnte. Dass die Zwillinge so unterschiedlich sind, hilft ihnen bei der Arbeitsteilung für das Projekt. Menschlich jedoch entzweit es sie manchmal. "Wir hatten mal fast zehn Jahre lang überhaupt nichts miteinander zu tun, was für Zwillinge sehr ungewöhnlich ist", erzählt Hansen. Sie hatten sich nicht zerstritten, aber ihre Leben verliefen einfach getrennt. Irgendwann reifte in beiden der Wunsch, sich wieder anzunähern - bei einer Fernreise der extremen Art: Im Jahr 2012 radelten sie von Berlin nach Shanghai, 13 600 Kilometer. Trotz aller Widrigkeiten kamen sie gemeinsam an und verstanden sich nach der Tour besser als je zuvor. Ein paar Jahre später starteten sie das Projekt "In 80 Tagen um die Welt - ohne Geld". Unterwegs verdienten sie sich das Nötigste für die Reise, unter anderem mit dem Erzählen von Witzen. Sie schafften die No-Budget-Erdumrundung in 104 Tagen.

Der Plan mit Urmel im Eis klingt auch erst mal wie ein Witz. Aber der zeitliche, organisatorische und finanzielle Aufwand, den die Hoepners für die Alaska-Durchquerung betreiben, lässt keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihre Projekts. Seit zwei Jahren arbeiten sie bereits an Urmel. Durch Bücher und Vorträge über die China-Radtour und die Weltumrundung kommt etwas Geld für das nächste Abenteuer rein. Hansen arbeitet Vollzeit für den Alaska-Trip, Paul hat noch seinen Hauptjob als Mediendesigner, aber ohne Sponsoren geht es nicht, allein die Gangschaltung von Urmel kostet 1000 Euro, ganz zu schweigen von den Kosten für den Transport des Gefährts nach Alaska. Der Prototyp ist aus Metall und ziemlich schwer, seine Jungfernfahrt hat das Ding schon überstanden. Das fertige Abenteuermobil wird aus Carbon gefertigt und soll 400 Kilogramm wiegen, komplett mit Ausrüstung. Mit an Bord sind eine Brennstoffzelle für die Stromversorgung, ein Segel als Hilfsantrieb, genügend Vorräte und ein Satellitentelefon für den Notfall. Im besten Fall können sich die Zwillinge mit Urmel auf Seen und Flüssen treiben lassen, im schlechtesten Fall bleiben sie im Matsch oder Tiefschnee stecken. Oder sie werden von Wölfen und Eisbären bedroht. Aber das Ungewisse macht ja gerade den Reiz eines Abenteuers aus. "Vielleicht ist Urmel ein Symbol für Verrücktheit", sagt Paul Hoepner, "wir wollen zeigen, dass man Ideen, die andere für unmöglich halten, nicht gleich in den Wind schießen muss." Und wer ein Abenteuer plant, denkt ja immer das gute Ende mit: Das Wort Abenteuer kommt schließlich vom Lateinischen "Adventus", die Ankunft.

© SZ vom 10.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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