Drogenabhängigkeit:Kalter Entzug auf dem Bauernhof

Drogenabhängigkeit: Auf Hof Fleckenbühl leben und arbeiten Suchtkranke und ehemalige Suchtkranke gemeinsam und produzieren landwirtschaftliche Erzeugnisse mit Demeter Zertifizierung.

Auf Hof Fleckenbühl leben und arbeiten Suchtkranke und ehemalige Suchtkranke gemeinsam und produzieren landwirtschaftliche Erzeugnisse mit Demeter Zertifizierung.

(Foto: Felix Schmitt)

Auf Hof Fleckenbühl leben und arbeiten Süchtige, die alle ein Ziel haben: endlich clean werden - in eigener Verantwortung. Das Konzept ist umstritten.

Reportage von Christiane Lutz

Noch heute kommt der komplizierte Name ohne Zögern aus Pauls Mund: Methylphenidat. Als er 14 Jahre alt war, hatte ihm ein Arzt das Medikament verschrieben, das als Ritalin bekannt ist. Gegen ADHS. Statt der verordneten Dosis nahm Paul zwei, drei, vier Tabletten mehr am Tag. Die Pillen putschten ihn auf, er fand das großartig. Mit 17 fing er mit harten Drogen an. Schluckte und rauchte alles, was er in die Finger kriegte: Marihuana, Kokain, Alkohol, halluzinogene Pilze, LSD, Ecstasy, Crystal Meth, einmal auch Heroin.

Neun Jahre war er mischabhängig, wie es in der Medizin heißt. Er sagt, das Medikament mit dem komplizierten Namen sei der Türöffner für seine Sucht gewesen. Seit acht Monaten ist Paul, heute 26, nun abstinent. Er lebt und arbeitet auf Hof Fleckenbühl gemeinsam mit anderen Menschen, die ihre Sucht überwinden wollen. Er möchte nicht, dass sein richtiger Name in der Zeitung steht. Ob er Paul genannt werden könnte? Oder vielleicht Conan, der Barbar? Also Paul.

Willkommen ist hier jeder, der seine Sucht überwinden will

Hof Fleckenbühl liegt in Cölbe, Nordhessen. Die Bewohner nennen die Gegend "Marburger Frischluftschneise", weil sich kalte Luft hier besonders hartnäckig festsetzt. Das Gut besteht aus einem alten Fachwerkhaus, Verwaltungs- und Wohnhäusern, Stallungen, Werkstätten und einem Hofladen. So idyllisch, wie es ist, könnte es einer dieser Bauernhöfe sein, auf denen Familien Urlaub machen. Aber die 120 Menschen, die zurzeit auf Fleckenbühl leben, sind alle süchtig. Oder waren es mal. Nach Alkohol, chemischen Drogen, Medikamenten. Willkommen ist hier jeder, der seine Sucht überwinden will. Es gibt keine medizinischen Aufnahmekriterien oder Anträge, die ausgefüllt werden müssen. Die Aufnahmestelle bei der Hofeinfahrt rechts ist rund um die Uhr geöffnet. Der Hof ist nicht umzäunt, keine Tür abgeschlossen. Wer gehen will, darf gehen. Wer bleibt, soll freiwillig bleiben. Drei Grundregeln gibt es aber. Erstens: keine Drogen. Zweitens: keine Gewalt oder Androhung von Gewalt. Drittens: keine Zigaretten.

Das mit dem Zigarettenverbot hatte Paul zunächst am meisten Angst gemacht. Und nun hockt er an einem sehr kühlen, sehr frühen Julimorgen in einer Halle auf dem Boden, sortiert Kartoffeln nach Verkaufbarkeit und pult beim Erzählen die Schale von einem Mini-Exemplar. Er legt es zur Seite, wo er die Sonderlinge sammelt. Ein Kartoffel-Hund liegt da schon, auch ein Kartoffel-Herz. "Ich war immer total neugierig auf Drogen. Ich wollte alles mal ausprobieren." Er sagt, er habe nichts von den verheerenden Auswirkungen von Drogen wie Crystal Meth gewusst, kannte nicht die verstörende Transformation von Abhängigen, die gern in Form von Vorher-nachher-Fotos im Internet gezeigt werden. "Ich bin ein spiritueller Typ. Es hat mir gefallen, wie durch die Drogen mein Bewusstsein geschärft wurde." Er war naiv. Brach seine Ausbildung zum Landschaftsgärtner ab, jobbte im Betrieb seines Vaters, hörte wieder auf. Die Drogen blieben.

Wer seine Hände im Spülwasser hat, kann sich damit keine Nadel setzen

In der sozialen Landwirtschaft, auch Social Farming genannt, arbeiten Bauern mit Menschen mit Behinderung, auffälligen Jugendlichen, Arbeitslosen, erschöpften Managern oder eben Menschen mit Suchtproblemen zusammen. In Deutschland wird das Konzept von den Ländern und vom Bundeslandwirtschaftsministerium gefördert. Die Auslegung der Idee ist allerdings so individuell wie die Menschen, die sie leben. Die Höfe sind durch das soziale Angebot nicht allein vom landwirtschaftlichen Ertrag abhängig. Besonders für kleine Betriebe kann soziale Landwirtschaft eine Überlebensstrategie sein. Die Philosophie aber ist überall gleich: Die Arbeit soll dem Menschen helfen. Er kommt in Kontakt mit der Natur, übernimmt Aufgaben und Verantwortung in überschaubaren Strukturen. Oder, wie es ein Bewohner ausdrückt: Wer seine Hände im Spülwasser hat, kann sich damit keine Nadel setzen.

Mittagessen auf Fleckenbühl. Die Küche hat Saltimbocca mit Salat gemacht, das Wunschessen eines Bewohners, der an diesem Tag "Cleangeburtstag" feiert: seit einem Jahr drogenfrei. Auch ein paar Kinder leben auf dem Hof, während ihre Mütter den schwierigen Versuch des Nüchternwerdens starten. Am Morgen ist wieder eine Mutter, Alkoholikerin, fortgegangen, ohne sich zu verabschieden. Die Sucht war zu stark. Ihre beiden Kinder hat sie zurückgelassen. Sie bleiben in der Obhut der Hofleitung, bis die Mutter zurückkehrt oder das Jugendamt übernimmt. Andere hingegen überwinden auf Fleckenbühl nicht nur ihre Sucht, sondern finden auch ein Zuhause. Die 78-jährige Ingrid lebt seit 1984 auf Fleckenbühl und ist jetzt Hof-Rentnerin. Manche lassen sich, sind sie erst mal abstinent, auch in der Verwaltung anstellen, kümmern sich um die Geschäfte oder die Pressearbeit. Viele, die den Hof verlassen, kommen aber nie wieder. Der Ort ist für sie das letzte Kapitel eines abgeschlossenen Lebens, nicht das erste eines neuen.

Auf dem Anwesen gibt es nicht mal Aspirin

"Die Hälfte der Leute, die zu uns kommen, gehen in den ersten zwei Wochen wieder", sagt Christoph Feist, 49, unter einer großen Linde im gepflegten Garten sitzend. Er ist stellvertretender Hausleiter und kümmert sich um die Neuankömmlinge. Pro Jahr tauchen circa 400 Menschen im Aufnahmebüro auf. Manche sind völlig orientierungslos und wollen sich einfach irgendwo mal schlafen legen. Einst ist auch Feist im Büro gestanden, alkoholabhängig. 14 Jahre ist das her. Er weiß: Die ersten Tage, bis der Körper entgiftet ist, sind die schlimmsten. Auf dem Hof gibt es keinerlei Medikamente, die den Entzug erleichtern können, nicht mal Aspirin. Wer Kopfschmerzen hat, trinkt einen Kaffee mit Zitronensaft. Fleckenbühl ist eine Selbsttherapie-Einrichtung, das heißt, es gibt, anders als in gewöhnlichen Entzugskliniken, auch keine Ärzte und Therapeuten, die den Süchtigen begleiten. Konflikte und Probleme werden in wöchentlichen Gesprächsrunden, "Spiel" genannt, geregelt.

Rückfälle sind wahrscheinlich

Das Konzept geht auf die Stiftung Synanon zurück, eine Selbsthilfeorganisation, die seit Ende der 70er-Jahre Menschen beim gemeinsamen Nüchternwerden unterstützt, in hundertprozentiger Eigenverantwortung. Hubert Buschmann, Chefarzt der Entzugsklinik Tönisstein in Rheinland-Pfalz, sagt, das Fleckenbühl-Konzept sei "umstritten". Die Entgiftung, also der rein körperliche Entzug von der Droge, beansprucht in seiner Klinik zwischen fünf und zehn Tage. Danach folgt die Entwöhnungsbehandlung, die sich über Wochen und Monate ziehen kann, begleitet von Gesprächstherapien, Sport, Kunst und Spiel. Ein "wissenschaftlich anerkannter Prozess". Rückfälle sind trotzdem wahrscheinlich. Buschmann vergleicht Fleckenbühl mit alternativer Medizin. Doch er kommt zu dem Schluss: "Wer heilt, hat recht. Wenn es funktioniert - völlig in Ordnung." Es gibt Menschen, die genesen einfach besser auf dem Traktor, als Körbchen flechtend in einer Therapierunde.

Paul sagt, die Arbeit erde ihn. Er mag es, im Anhänger des Traktors zu sitzen und über Feldwege zu ruckeln. Er mag es, jeden Tag pünktlich um sieben Uhr beim Frühstück sein zu müssen. 15 Kilo hat er seit November zugenommen und ist braun gebrannt vom Draußensein. Man sieht ihm die vielen Jahre Drogensucht nicht an, in seinem Blick ist nur Neugier. Kontakt zu seiner Familie will Paul zurzeit nicht, um sich ganz auf das Neue einzulassen. Seine Eltern, sagt er, verstehen das. Am Ende des Arbeitstages parkt sein Kollege den Traktor an der Obstwiese. Paul reckt sich hinauf in die Zweige des Kirschbaums und steckt die Früchte in den Mund, bis der ganz blau wird. Sommer auf Fleckenbühler Art. "Nüchtern zu sein, das ist jetzt das Neue. Die Drogen kenne ich ja", sagt er. "Das Leben mit Drogen ist schön. Das Leben ohne Drogen aber auch."

Es geht um Nüchternheit und neuen Lebensmut

50 Hektar Land gehören zum Hof. Die Fleckenbühler bauen Getreide an, in den Ställen stehen Rinder, Kühe und Ziegen, deren Milch in der eigenen Käserei verarbeitet wird. Wer möchte, kann eine Ausbildung zum Landwirt machen. Wie viele Betriebe der sozialen Landwirtschaft produziert auch Fleckenbühl seine Lebensmittel unter dem strengen Demeter-Öko-Label, dem ältesten Bio-Siegel Deutschlands.

Für ihre Arbeit erhalten die Bewohner nur ein kleines Taschengeld. Dafür bekommen sie alles, was sie zum Leben brauchen, gestellt: Essen, Unterkunft, Zahnpasta, ein paar Stunden Zugang zum Internet. Gewinne macht Fleckenbühl nicht, aber schließlich geht es um etwas Wichtigeres: um Nüchternheit und neuen Lebensmut.

Wie lang er noch bleiben will, weiß Paul nicht. Er wünscht sich eine Familie, Kinder, möchte einen Job haben. "Manche hier sagen, dass ein Rückfall dazugehört. Das ist Quatsch. Ich will nie wieder was nehmen." Später relativiert er dann doch: "Ich versuche jedenfalls, es durchzuziehen. Wenn ich es nicht schaffe, dann ist es eben so. Ich will davor aber keine Angst haben." Wenn er abends im Bett liegt in einem Sechserzimmer, die Muskeln schmerzend, ist er stolz darauf, es überhaupt so weit geschafft zu haben, allein.

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